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Jurist empfiehlt Loveparade-Opfern, "gegen Unbekannt Strafanzeige zu stellen"

An der Universität Bochum treffen sich diese Woche Angehörige und Opfer des Loveparade-Unglücks. Sie werden rechtlich beraten von Thomas Feltes, um Klage einzureichen gegen den oder die Verantwortlichen - weil "sie wollen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird".

02.08.2010
    Tobias Armbrüster: Trauer, Entsetzen und Wut – so haben viele am Wochenende das allgemeine Gefühl bei den Gedenkfeiern in Duisburg zusammengefasst. Zehn Tage nach der Massenpanik bei der Loveparade bleiben immer noch viele offene Fragen. Wer war verantwortlich für die mangelhafte Planung, wo waren die Ordner, die hätten eingreifen können, wieso wurde diese Veranstaltung überhaupt genehmigt? Es sind Fragen, die vor allem diejenigen beschäftigen, die mit dabei waren, als Menschen im Tunnel zerdrückt wurden, und diejenigen, die Freunde und Familienmitglieder verloren haben. An der Universität Bochum trifft sich in dieser Woche nun zum ersten Mal eine Gruppe von Angehörigen und von Opfern, um Auswege aus dieser Lage zu finden. Beraten werden sie unter anderem von Thomas Feltes, einem Kriminologen an der Universität, mit ihm wollen wir jetzt sprechen. Schönen guten Morgen, Herr Professor Feltes!

    Thomas Feltes: Einen schönen guten Morgen, Herr Armbrüster!

    Armbrüster: Was genau für eine Gruppe ist das, die dort in dieser Woche zum ersten Mal zusammentrifft an der Universität?

    Feltes: Also unmittelbar nach dem Ereignis von Duisburg haben sich einige Studierende bei mir gemeldet, die selbst Opfer wurden oder unmittelbar Opfer wurden, ob ich ihnen spontan helfen kann, zum Beispiel bei Problemen mit anstehenden Klausuren oder Hausarbeiten. Daraus habe ich dann gemerkt, dass viele der Betroffenen den Wunsch haben, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, und das ist jetzt der Schritt, den wir gemeinsam gehen wollen, zu versuchen, hier diejenigen, die eine Strafanzeige erstattet haben, zusammenzubringen, um sie dann in den nächsten Wochen und Monaten zu begleiten.

    Armbrüster: Was können Sie dort machen, wie können Sie diese Menschen begleiten?

    Feltes: Also, wir wissen aus empirischen Studien, dass viele Menschen, die Opfer geworden sind, wollen, dass die Verantwortlichen zum einen zur Rechenschaft gezogen werden, zum anderen aber auch, dass in der Öffentlichkeit quasi festgestellt wird, was dort geschehen ist, dass ein Unrecht geschehen ist und um damit deutlich zu machen, was ihnen widerfahren ist und dass eben auch der Staat und die Gesellschaft das entsprechend respektiert. Und ein Strafverfahren ist ein Weg, das zu tun. Andererseits hat ein Strafverfahren bestimmte Zwänge, bestimmte Abläufe, die von vielen Opfern dann nicht so erkannt werden und manchmal auch unterschätzt werden. Und sie dabei zu betreuen, das ist mein Ziel.

    Armbrüster: Heißt das, sie liefern da eher eine Art Rechtsberatung oder psychologische Betreuung?

    Feltes: Nein, ich bin Jurist und Kriminologe, das heißt, ich werde mit denjenigen, die eine Strafanzeige erstattet habe oder die noch erstatten wollen, einfach jetzt durchgehen, was werden die nächsten Schritte sein, wie wird das Ermittlungsverfahren ablaufen, was geschieht, wenn eine Anklage erhoben wird, und sie dann gegebenenfalls eben auch, wenn es zu einem Prozess kommt, im Rahmen der Nebenklage vertreten.

    Armbrüster: Sie haben jetzt schon angedeutet, dass solch eine Suche nach Schuldigen auch enttäuscht werden kann. Was passiert dann, wenn dieses Anstrengen, ein Strafverfahren zum Beispiel in die Wege zu leiten, wenn das nicht so läuft, wie sich das die Opfer vorstellen?

    Feltes: Also, ich setze große Hoffnung darauf, dass eben, wenn sich mehrere Opfer zusammentun, und man eben dann das Gespräch suchen kann untereinander, und eben auch mit mir, dass dann eben auch klar wird, was ein Strafverfahren leisten kann, und was es eben nicht leisten kann. Und dass es immer durchaus sein kann, dass aus bestimmten formalen Gründen vielleicht der ein oder andere, den man selbst für verantwortlich hält, eben nicht strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wird. Aber da ist es eben wichtig, dann das erklärt zu bekommen, erläutert zu bekommen und damit zu verstehen, warum etwas geschieht. Wir wissen wiederum auch aus kriminologischen Studien, dass viele Menschen nicht unbedingt wollen, dass die Täter oder die Verantwortlichen bestraft werden, sondern sie wollen, dass Gerechtigkeit hergestellt wird in einem ordentlichen Strafverfahren. Und genau das will ich versuchen mit den Betroffenen zu gehen.

    Armbrüster: Gegen wen wird sich denn Ihrer Ansicht nach ein Strafverfahren richten?

    Feltes: Also ich empfehle im Moment allen, einfach gegen Unbekannt Strafanzeige zu stellen. Das hat damit zu tun, dass wenn man die Strafanzeige jetzt beschränken würde, möglicherweise Verantwortliche, die man jetzt noch nicht erkannt hat oder glaubt, erkennen zu können, dann unter Umständen aus dem Raster rausfallen. Ich kann und will – das war eine der Grundmaxime meines Vorgehens von Anfang an – zu den Verantwortlichen im Moment nichts sagen, ich will einfach abwarten, bis die Ermittlungsergebnisse vorliegen, um sie dann eben mit den Betroffenen entsprechend zu bewerten.

    Armbrüster: Aber wie groß sind denn die aussichten, dass tatsächlich jemand verurteilt wird? Ich meine, bei derartigen Fällen sind in Deutschland in den meisten Urteilen die Menschen mit einem Bußgeld und einer Einstellung des Verfahrens davongekommen.

    Feltes: Also das denke ich in diesem Fall nicht. Das ist zum einen ein Verfahren, was große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit schon jetzt auf sich zieht, und zum anderen denke ich, sind 21 Tote und über 500 Verletzte ein klares Signal eben auch an die Justiz, hier sehr intensiv vorzugehen, intensiv zu ermitteln, das wird auch getan. Natürlich weiß man nicht, was als Ergebnis in diesem Strafverfahren herauskommen wird, und noch mal: Das ist in meinen Augen auch vielleicht nicht primär wichtig, sondern es ist wichtig, dass die Betroffenen das Gefühl haben, hier wird ihnen Gerechtigkeit angetan, es widerfährt Gerechtigkeit und sie werden eben fair behandelt.

    Armbrüster: Könnte es denn sein, dass so ein Trauma, das man aus einer solchen Katastrophe mitnimmt, dass so ein Trauma noch unendlich verlängert wird, wenn eben ein Strafverfahren nicht so ausgeht, wie man sich das vorgestellt hat?

    Feltes: Nein, ich denke nicht, es geht um den Ausgang, sondern es geht um den Ablauf. Und ich kenne es aus anderen Strafverfahren, dass dann, wenn die Opfer oder Zeugen entsprechend betreut werden, ein solches Verfahren eben auch einen sehr heilsamen im wahrsten Sinne des Wortes Charakter haben kann, weil dann die Opfer und Betroffenen verstehen, was passiert ist, und sie dann in diesem Zusammenhang eben lernen, warum etwas passiert ist. Und dann kommt es nicht so sehr darauf an, ob hinterher eine Freiheitsstrafe zur Bewährung oder eine Geldstrafe herauskommt, sondern es kommt darauf an, dass sie eben das Gefühl haben, jawohl, dieses Ganze, was dort geschehen ist, ist vollständig aufgeklärt worden und es sind alle Verantwortlichen in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen worden.

    Armbrüster: Nun wird es ja, Herr Professor Feltes, in den kommenden Tagen und Wochen wahrscheinlich eine Menge Anzeigen geben im Zusammenhang mit der Katastrophe bei der Loveparade – arbeiten Sie da in irgendeiner Form mit anderen Gruppen oder mit anderen Angehörigen zusammen?

    Feltes: Also ich biete mein Angebot ehrenamtlich ohne Kosten für die Betroffenen an. Es wird natürlich so sein, wie bei allen diesen Ereignissen, dass Anwälte und auch andere hier auch Opfer und Betroffene betreuen. Ich bin bereit, mit jedem zu kooperieren, der hier das Interesse hat, vor allen Dingen den Opfern und den Betroffenen zu helfen. Da wird man sehen müssen. Klar, es wird ähnlich wie der bei der psychologischen Hilfe unmittelbar nach dem Ereignis viele Angebote geben, aber es gibt eben auch viele Menschen, die verschiedene Wege gehen wollen, und da wird man sehen, was sich daraus entwickelt.

    Armbrüster: Wie lange, schätzen Sie, wird diese ganze Geschichte die deutsche Justiz beschäftigen?

    Feltes: Also ich gehe davon aus, weil es sehr viele Beweismittel gibt, sehr viele Videos, sehr viele Zeugen, die vernommen werden müssen, und das Ganze ja auch ein sehr komplexes Geschehen ist, mit allem, was davor passiert ist und was während des Ereignisses passiert ist, dass wir sicherlich mit sechs bis neun Monaten Ermittlungen rechnen werden müssen und dann möglicherweise eben nach einem Dreivierteljahr bis nach einem Jahr es dann zum Hauptverfahren, zum Prozess kommen kann.

    Armbrüster: Professor Thomas Feltes war das, Kriminologe an der Universität Bochum. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Feltes!

    Feltes: Bitte schön, Herr Armbrüster!

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