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Juristen im Dauerstress

Seit über sieben Monaten ist der deutsche Schüler Marco wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs in der Türkei inhaftiert. Nachdem eine Haftbeschwerde abermals durch das türkische Gericht abgelehnt wurde, gaben die Anwälte des 17-Jährigen bekannt, dass sie nun den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen wollen, um eine zu lange Untersuchungshaft feststellen zu lassen. Susanne Güsten berichtet.

27.11.2007
    Rangelei vor einem Gericht in der Türkei. Der Angehörigen eines Angeklagten sind die Nerven durchgegangen, die Polizei schreitet ein. Eine alltägliche Szene hierzulande, denn so wie den Eltern von Marco W. aus Uelzen ergeht es den Familien der meisten Untersuchungshäftlinge und Angeklagten in der Türkei: Stundenlanges Warten auf zugigen Gerichtsfluren, eine kurze Verhandlung - und dann wird der Prozess wieder vertagt um einen Monat oder mehr. Mit einer Verhandlungsdauer von bisher 172 Tagen geht es Marco W. noch besser als anderen. Sein Prozess hat damit gerade einmal die Halbzeit eines durchschnittlichen Verfahrens vor einem türkischen Schwurgericht erreicht.

    Rein statistisch wäre das Urteil im Fall Marco erst im nächsten April zu erwarten. Marcos deutscher Anwalt Michael Nagel will nicht darauf warten:

    "Wir werden jetzt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen."

    "Innerhalb angemessener Frist" müsse ein Strafprozess abgeschlossen werden, so verlangt es die Europäische Menschenrechtskonvention. Zwar ist die Türkei wegen Verstößen gegen diesen Artikel schon früher in Straßburg verurteilt worden - etwa wegen eines Massenprozesses gegen Linksextremisten, der 26 Jahre dauerte. Inzwischen hat sich eines aber fundamental gewandelt, und das ist die Rechtsgrundlage in der Türkei. Seit zwei Jahren gelten hier ein neues Strafgesetzbuch und eine neue Strafprozessordnung - beide maßgeschneidert, um europäischen Maßstäben von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu entsprechen. Langfristig natürlich gut für das Land, aber vorläufig stellt es die Justiz vor gewaltige Probleme, wie der Istanbuler Strafrechtsprofessor Feridun Yenisey erläutert. Da ist zunächst einmal der riesige Berg an Verurteilungen nach den alten Gesetzen, die mit der neuen Rechtslage abgeglichen werden müssen:

    "Welches Gesetz ist das mildere Gesetz? Das ist jetzt das Problem in der Türkei. Die Gerichte sind jetzt befasst mit alten Sachen, die schon rechtskräftig sind - alle Gerichtsakten werden noch einmal geprüft, ob der Verurteilte die gerechte Strafe bekommen hat oder eine mildere Strafe bekommen soll. Die Arbeitslast der Gerichte ist enorm erhöht durch diese Sache."

    Und das ist bei Gericht auch deutlich sichtbar. Die Schwurgerichtskammer in Antalya zum Beispiel, die für den Fall Marco zuständig ist, verhandelt fast 25 Verfahren am Tag und jongliert Hunderte weitere Fälle. Dass kaum ein Fall in zwei oder drei Prozesstagen abzuhandeln ist, hat freilich noch einen anderen Grund, sagt Professor Yenisey, der ein Buch darüber geschrieben hat. Das liegt an der Staatsanwaltschaft:

    "Die Ermittlungsverfahren werden nicht erschöpfend durchgeführt. Das hat die Folge, dass das Gericht später die Ermittlungen selber durchführen muss. Die Verhandlungen werden dann vertagt, damit man die notwendigen Beweismittel alle sammeln kann. Zum Beispiel wenn Gutachten des wissenschaftlichen Experten nicht da ist, dann muss das nachgeholt werden. Das ist der Grund, warum die Hauptverhandlung so lange dauert bei uns."

    Das liegt nicht etwa daran, dass die türkischen Staatsanwälte faul oder schlampig wären. Das hat viel mehr damit zu tun, dass sie seit der Strafrechtsreform alle Ermittlungen selbst führen muss, für die zuvor die Kriminalpolizei zuständig war:

    "Eine eigenhändige Ermittlung der Polizei ist untersagt worden. Diese neue Lage wurde eingeführt, um die Menschenrechtsverletzungen zu verkürzen, aber das hat auch zur Folge gehabt, dass die Polizei jetzt weniger Befugnisse hat zu ermitteln. Für alle Ermittlungen müssen jetzt von der Staatsanwaltschaft ein eigener Befehl gegeben werden. Man erwartet alles von den Staatsanwaltschaften."

    Und die kommt einfach nicht mehr hinterher. In Antalya etwa hatte schon vor der Reform vor zweieinhalb Jahren jeder Staatsanwalt fast 6000 Prozessakten im Jahr zu bearbeiten - das sind mehr als 20 pro Tag. Kein Wunder, dass die Ankläger nicht aus dem Stand heraus auch noch die Kriminalpolizei ersetzen können. Ein Problem, das im Eifer der Demokratisierung aus dem Blick geraten ist, meint Professor Yenisey:

    "Es gibt Seminare für Staatsanwälte, Richter, für die Polizei. Aber alle, viele Seminare sind für die Stärkung der Menschenrechte. Wie man die Gesetze handhaben soll und wie das ganze funktionieren soll, da gibt es sehr wenige Seminare. Sehr viel Stärke auf Menschenrechte und wenig Stärke auf eine funktionsfähige Justiz - das ist der Grund, glaube ich."