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Justitia gibt Gas

Die Zeit ist nicht unbedingt ein Freund der Gerechtigkeit. Vor allem nicht bei Gericht, denn allzu oft lösen sich Fälle in Luft auf, nur weil die Fristen überschritten werden. Neue Technologien wie die digitale Prozessakte sollen helfen, die Verfahren zu beschleunigen.

Von Klaus Herbst | 16.09.2006
    Die verwendete neue Software, an der die juristischen Informatiker noch arbeiten, heißt "Case Matrix". Sie verwaltet Beweisstücke, und informiert über aktuelle Rechtsprechung und Literatur. Sie vereinfacht komplexe Tatbestände. Der Jurist Klaus Rackwitz, Verwaltungsleiter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, über Case Matrix:

    "Das System ist dafür konzipiert, dass es an allen Gerichten, nationaler und internationaler Art, eingesetzt werden kann, die völkerstrafrechtliche Sachverhalte bearbeiten. Also Straftaten wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Straftaten, die auch im römischen Statut erwähnt werden. Da ist weltweit im Prinzip der gleiche Standard anzuwenden. Das System soll dafür sorgen, dass diese gleichen Standards auch überall bekannt sind. Das Völkerstaatsrecht ist eine junge Rechtsdisziplin. Es gibt nur wenige Urteile der wenigen Vorgerichte: das Nürnberger Tribunal, das Tokio-Tribunal und eben die beiden Ad-hoc-Gerichte zu Jugoslawien und Ruanda."

    Im Fall von Ruanda habe die Über-Ermittlung des blutigen Geschehens die Rechtsprechung sogar behindert. Oftmals ist die historisch betrachtet junge Disziplin Internationales Völkerrecht bei entsprechender DV-Unterstützung doch etwas einfacher als die Juristen zunächst befürchten. Unter tausenden Dokumenten sollen die Anwender von Case Matrix den Überblick nicht verlieren.

    "Wir katalogisieren diese Rechtsprechung, erschließen sie, machen sie über Stichworte verfügbar. Brauche ich zum Beispiel, wenn ich im Völkermord den Mord beweisen will, die Leiche - ja oder nein? Die Frage stellt sich dem Ermittler natürlich häufig, weil er die Leiche nicht hat. Antwort: nein. Warum ist das so? Siehe Entscheidung Jugoslawien-Tribunal im Fall eins, zwei, drei. Und der Anwender kann also über diesen Kurzkommentar 'Du brauchst sie nicht' zum Dokument sich durchklicken, das ihm diese Rechtsquelle dann erschließt."

    Zur Verfügung steht das System nicht nur Internet-basiert, sondern auch als mobile Einzelplatz-Lösung für das Notebook. Diese soll garantieren, dass das System auch in entlegenen, technisch schlecht versorgten Krisengebieten für mehr Rechtssicherheit sorgt. Außerdem ist die reine Internet-Nutzung auf dem Arbeitsgebiet der Juristen problematisch. Klaus Rackwitz:

    "Wir arbeiten an einer weiteren Stabilität der Anwendung. Sie ist stabil, aber wie alle Internet- oder Browser-basierten Anwendungen sind große Datenmengen ein kritischer Faktor. Was wir auch machen möchten, sind weitere Fachfunktionen im Bereich der Beweismittelverwaltung, beispielsweise weitere Felder zur Information des Sachbearbeiters: 'Habe ich dieses Dokument bereits herausgegeben? Wenn ja, an wen?' Das ist zur Zeit noch nicht drin, und das ist die Aufgabe der nächsten Jahre, die Fachfunktionen so zu erweitern, dass das System auch dort genutzt werden kann, wo es keine weitere EDV-Unterstützung gibt."

    Erstmals haben die früher nicht gerade technikfreudigen Juristen nun den Wert der EDV erkannt: sie wirken heute wesentlich engagierter und offener. Die Zahl der Teilnehmer am EDV-Gerichtstag ist mit rund 600 deutlich gestiegen, das Thema hat erstmals echte Eigendynamik bekommen. Juristen nehmen nun wahr, dass die IT ihnen helfen könne, Verfahren zu beschleunigen, Effizienzgewinne zu erreichen und schneller an ihr Geld zu kommen. Das sind positive Anreize – auf Zwangsmaßnahmen würden gerade Anwälte sehr empfindlich reagieren, sagt der Physiker und Informatiker Jürgen Ehrmann vom Justizministerium Baden-Württemberg:

    "Der Schwerpunkt der Effekte wird sicherlich im zeitlichen Bereich liegen. Wir haben eben, was Aktentransport, Papiertransport betrifft, ziemlich viele Wege und Liegezeiten notwendigerweise. Und wenn wir jetzt langfristig an eine elektronische Akte denken, wo die Anträge elektronisch hin- und her gesandt werden, dann habe ich hier eine Beschleunigung. Und zum anderen kann der Anwalt in die elektronische Akte auch dann Einsicht nehmen, wenn der gegnerische Anwalt diese elektronische Akte hat, also Verfahrensbeschleunigung."

    Eine Arbeitsgruppe der Bund-Länder-Kommission hat nun ein Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen. Das soll Anreize schaffen, um den Motivationsschub der Juristen noch stärker anzuheizen. Eine Art Einstiegsdroge könnte das automatisierte Mahnverfahren werden. Würde man mittelfristig nur noch elektronische Antragstellung zulassen und würden Anwälte Gelder elektronisch schneller eintreiben, das wäre ein lohnendes und deshalb sicher überzeugendes Argument, seine Infrastruktur technisch aufzurüsten und in nötige Komponenten zu investieren. Ein zentral wichtiges Gerät wäre beispielsweise ein Kartenleser für die in Deutschland vergleichsweise anspruchsvolle Qualifizierte Elektronische Signatur:

    "Wenn ich dann auch an elektronische Einreichung ins Grundbuch, ins Handelsregister denke, dann hat man eben eine Unterstützung auch dieser ganzen Portalidee. Und wenn man dann als Single Point of Contact ein Portal hat, in dem man eben die Fragen abwickelt, auch seine Daten eingibt, die Antworten kriegt auf gesichertem Weg, dann denke ich gibt es einen weiteren Schub."