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Kämpfe in Myanmar
Chaos und hunderte Tote

Hunderte Tote und mehr als 120.000 Menschen auf der Flucht: In Myanmar geht die Armee mit Gewalt gegen die muslimische Minderheit vor, die Rohingyas. "Rational gibt es keinen Ausweg ", sagte Südostasien-Wissenschaftler Hans-Bernd Zöllner im Dlf, mit Blick auf den Konflikt. Die UN befürchtet eine humanitäre Katatrophe.

Hans-Bernd Zöllner im Gespräch mit Christiane Kaess | 07.09.2017
    Rohingya-Flüchtlinge stehen hinter einem Holzzaun.
    "Das ist hoch dramatisch, man müsste die Möglichkeit haben, Wege zu finden, um diesen Streit auf eine sachliche Ebene zurückzubringen", sagte Südostasien-Wissenschaftler Hans-Bernd Zöllner (AFP/Sam JAHAN)
    Christiane Kaess: Der Konflikt ist uralt, er dauert schon Jahrzehnte. Aber im Moment eskaliert die Situation in Myanmar einmal wieder. Es geht um das Zusammenleben der muslimischen Bevölkerung und der buddhistischen im Westen des Landes. Die Muslime dort nennen sich Rohingyas und sie sind staatenlos.
    Die Armee Myanmars geht wegen angeblicher Angriffe auf Grenzposten hart gegen die Rohingyas vor. Menschenrechtler berichten von Gewalt auch gegen Frauen und Kinder, Dörfer sollen niedergebrannt worden sein, Tausende Rohingyas sind deshalb im Moment auf der Flucht, vor allem ins benachbarte Bangladesch.
    Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit der Eskalation der Gewalt Ende August mehr als 120.000 Menschen geflohen und mindestens 400 Menschen getötet worden.
    Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin und einstmals Hoffnungsträgerin des Landes, hat im Moment als Staatsrätin quasi die Funktion einer Regierungschefin inne. Sie und das Militär bestreiten die Übergriffe. Aung San Suu Kyi spricht von Terroristen und einem Eisberg an Falschinformationen.
    Darüber möchte ich sprechen mit dem Südostasien-Wissenschaftler Hans-Bernd Zöllner, Publizist und Myanmar-Experte, und er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Zöllner.
    Hans-Bernd Zöllner: Schönen guten Morgen nach Köln, Frau Kaess.
    "Aktuelle Lage ist chaotisch"
    Kaess: Die Rohingyas sind auf der Flucht, ganz offenbar vor nackter Gewalt. Die Regierung bestreitet das. Welches Bild haben Sie denn von der aktuellen Lage?
    Zöllner: Die aktuelle Lage ist zweifellos chaotisch und, wie Sie schon anmoderiert haben, nicht zum ersten Mal. Was wir hier haben, ist ein außerordentlich bedrückender und trauriger Zyklus von Migration, den man nicht nur auf Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte zurückführen kann. Die ersten großen Migrationen in diesem Bereich waren Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist eine ausgesprochene Tragödie und das Tragische an dieser Tragödie ist, dass es eigentlich rational keinen Ausweg gibt, weder für Aung San Suu Kyi, von der das erwartet wird, noch von irgendjemand anderem.
    Kaess: Warum gibt es das nicht rational, wie Sie sagen?
    Zöllner: Weil wir es hier mit einer großen Gruppe von Staatenlosen zu tun haben. Und wenn wir uns vorstellen wollen, was ein Staatenloser ist, dann müssen wir mal in den Bücherschrank gucken und sehen, ob wir das Buch "Das Totenschiff" von B. Traven dort stehen haben. Dort wird das beschrieben. Das ist ein Zustand - ich kann versuchen, es Ihnen an einem Beispiel vielleicht zu erklären.
    Kaess: Bitte!
    Zöllner: Es sind Muslime. Es geht ihnen - den Überwiegenden, nicht allen - sehr, sehr schlecht. Und sie sind staatenlos. Das heißt, sie haben keine Identität. Sie haben keinen Pass, keinen Ausweis. In Myanmar leben von ihnen vielleicht geschätzt eine gute Million. Weitere 200, 300, 400.000 - die Zahlen wechseln täglich, weil ja jetzt wieder Leute flüchten, sind es vielleicht 300, 400.000 -, weitere 100, 200.000 in anderen Ländern der Welt. Aber sie haben keine Papiere, die sie als irgendeinen Bürger irgendeines Staates ausweisen.
    Kaess: Aber wenn das das Kernproblem ist, da hätte doch die Regierung in Myanmar schon mal etwas unternehmen können.
    Zöllner: Die Regierung in Myanmar sagt, sie sind keine Birmanen. Die Regierung in Bangladesch sagt, es sind Rohingyas, sie sind auch Muslime wie wir, aber sie gehören nach Myanmar. Das Problem ist - und darüber streiten sich die unterschiedlichen Parteien, die Regierung Myanmars auf der einen Seite und die Advokaten der Rohingyas auf der anderen Seite -, wer für sie zuständig ist.
    Kaess: Aber wenn sie seit Jahrhunderten, wie Sie schon sagen, im Prinzip auch in Myanmar leben, dann müsste sich doch die Regierung diesem Problem einmal widmen.
    Zöllner: Natürlich! Tut die Regierung auch.
    Kaess: Inwiefern?
    Zöllner: Sie hat seit der Gründung des Staates versucht, die Bürger ihres Landes dazu zu bewegen, Anträge auszufüllen, ob sie Bürger dieses Landes sind. Und der größte Teil der Rohingyas, nach allem was ich gehört habe und auch den Gesprächen, die ich mit einigen politischen Vertretern geführt habe, weigert sich, sich diesem Prozess zu unterwerfen.
    Kaess: Warum?
    Zöllner: Weil es strittig ist, ob sie schon immer da waren.
    "Staatenlose sind nicht geschützt"
    Kaess: Das heißt, Sie sagen, die Rohingyas streben überhaupt nicht an, Staatsbürger von Myanmar zu werden?
    Zöllner: Doch. Sie sagen, wir haben ein Recht darauf, Staatsbürger von Myanmar zu werden, während die Regierung sagt, das müsst ihr erst mal nachweisen, ob ihr im Einzelfall einer seid.
    Kaess: Okay. Jetzt sagen Menschenrechtler, es gibt eine systematische Unterdrückung von Muslimen in Myanmar, nicht nur übrigens der Rohingyas durch die Regierung von Aung San Suu Kyi, von Teilen des buddhistischen Klerus, von ultranationalistischen Gruppen und der Armee. Sind Muslime in Myanmar für die buddhistische Bevölkerung tatsächlich Menschen zweiter Klasse?
    Zöllner: Sie sind in Myanmar das, was viele Deutsche, speziell vom rechten Rand unseres politischen Spektrums her, Flüchtlinge sind.
    Kaess: Und das heißt, sie sind Menschen zweiter Klasse?
    Zöllner: Was heißt Menschen zweiter Klasse? Sie sind keine Staatsbürger. Sie sind Menschen erster Klasse. Sie dürfen überall auf der Welt leben. Sie dürfen in Myanmar auch leben, wenn sie sich - so die offiziellen Standpunkte - den Gesetzen des Landes unterwerfen.
    Es gibt ein Staatsbürgerrecht. Das ist etwas merkwürdig, weil es seit 1948, also gleich zur Gründung des Staates behauptet hat, alle Menschen sind Bürger dieses Landes, wenn zu vermuten ist, dass ihre Vorfahren schon 1823 in diesem Land gelebt haben.
    Kaess: Ich meinte jetzt eher mit Menschen zweiter Klasse, dass gewaltsam gegen sie vorgegangen wird, ohne dass sie geschützt sind.
    Zöllner: Staatenlose sind nicht geschützt.
    Kaess: Gut. Aber man kann natürlich jetzt auch hier eine moralische Dimension einführen und sagen, warum wird gegen diese Leute einfach gewaltsam vorgegangen, sodass über 100.000 auf der Flucht sind?
    Zöllner: Ich komme jetzt in die schwierige Lage, in der ich in diesem Falle immer bin, weil es das Grundproblem der Rohingya-Frage ist. Eines der Grundprobleme ist, dass es keinen gibt, weder ich noch Sie noch sonst jemand, dem zugetraut wird, eine unabhängige Meinung dazu zu haben.
    "Vergleichen Sie es mit dem Problem in Palästina"
    Kaess: Wenn das so ist, Herr Zöllner, was kann die internationale Gemeinschaft, aus der jetzt viel Kritik und auch Druck kommt, was kann die tun, um dieses Problem eventuell mit zu lösen?
    Zöllner: Sie kann versuchen, etwas mehr nachzudenken und sich erst mal schlauzumachen über die Hintergründe dieses wirklich tragischen Konflikts, wo in meiner Interpretation ein Grundsatzstreit, wer sind sie, wo gehören sie hin, auf dem Rücken von Leuten ausgetragen wird, die selber auch keine eigenen Vertreter haben wählen können. Es ist ein Streit, wo sich die Menschenrechtsaktivisten, die jetzt behaupten, da ist seit 1970 ein Völkermord, ein Genozid im Gange, und eine Friedensnobelpreisträgerin darüber streiten, wie dieses Problem zu behandeln ist. Es ist absurd!
    Kaess: Sie sprechen es gerade an. Aung San Suu Kyi ist Friedensnobelpreisträgerin. Es gibt jetzt schon erste Forderungen, ihr diesen Preis abzuerkennen. Hätte sie nicht aktiver nach einer Lösung suchen können und die eventuell auch finden können?
    Zöllner: Es gibt keine Lösung bisher. Es gibt noch keinen, der sie gefunden hat. Kofi Annan hat gerade einen Bericht geschrieben, der ist ziemlich lang. Da stehen 1.000 Sachen drin, die auch die birmanische Regierung schon gemacht haben.
    Die Advokaten der Rohingyas - ich war mal auf einer Konferenz vor zwei Jahren in Oslo -, die Advokaten der Rohingyas verweigern sich auch allen pragmatischen Lösungen, weil sie sagen, unsere Grundbedingung ist, dass wir als Bürger dieses Landes anerkannt werden.
    Kaess: Zuletzt noch: Die Staatschefs anderer muslimischer Länder haben Vermittlungen angeboten, zum Beispiel Indonesien. Was kann das bringen?
    Zöllner: Wenig. Die sind Partei. In diesem Streit ist jeder Partei und es ist ganz schwierig - das macht unser Gespräch auch deutlich -, überhaupt einigermaßen neutral und ohne Aggressionen. Und warum? - Weil es um Menschenrechte geht. Es geht um Leben. Das ist hoch dramatisch, da kann man nicht kalt bleiben.
    Aber man müsste die Möglichkeit haben, Wege zu finden, um diesen Streit auf eine sachliche Ebene zurückzubringen. Aber das ist ein extrem weiter Weg. Vergleichen Sie es mit dem Problem in Palästina.
    Kaess: … sagt der Südostasien-Wissenschaftler Hans-Bernd Zöllner, Publizist und Myanmar-Experte. Danke für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Zöllner.
    Zöllner: Ja! Danke fürs Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.