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Kaiserinwitwe Cixi
Von der Konkubine zur Herrscherin Chinas

Die als Kaiserinwitwe bekannte Cixi lebte von 1835 bis 1908 und gilt als die bedeutendste Frau in der chinesischen Geschichte. Fast ein halbes Jahrhundert lang lenkte sie die Geschicke des Reiches. Dabei brachte sie die Modernisierung Chinas voran - zu dem Ergebnis kommt jedenfalls die Autorin Jung Chang in ihrem Buch "Kaiserinwitwe Cixi".

Von Ralph Gerstenberg | 05.01.2015
    Nach ihrem Tod im Jahr 1908 galt die chinesische Kaiserinwitwe Cixi als machtbesessene, skrupellose Regentin, deren Fehlentscheidungen Tausende von Menschen das Leben gekostet hatten. Die erste Cixi-Biografie des Orientwissenschaftlers Edmund Backhouse von 1910 erzählt von grausamen Morden, Intrigen und Niedertracht am kaiserlichen Hof Pekings. Auch der 1956 erschienene Roman "Das Mädchen Orchidee" der Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck stützt sich auf diese erste Biografie, deren Quellen mittlerweile seit knapp 40 Jahren als gefälscht gelten. Nun hat es sich die chinesischstämmige britische Bestsellerautorin Jung Chang mit einer umfassenden Cixi-Biografie zur Aufgabe gemacht, das öffentliche Bild der Kaiserinwitwe gründlich zu revidieren. Ganz im Gegensatz zu ihren Vorgängern sieht sie Cixi nicht als männermordende Despotin, sondern als mutige Herrscherin, die "Chinas Weg in die Moderne ebnete".
    "Unter ihrer Herrschaft bekam das Land praktisch alle Errungenschaften eines modernen Staates: Eisenbahnen, Elektrizität, Telefon, Telegrafie, westliche Medizin, eine moderne Armee und Marine, moderne Formen des Außenhandels und der Diplomatie (...) Cixi öffnete die Tür zur politischen Partizipation. Zum ersten Mal in Chinas langer Geschichte wurden die Menschen ‚Staatsbürger'. Und sie trat für die Rechte der Frauen in einer Kultur ein, die jahrhundertelang die Frauen gezwungen hatte, ihre Füße zu verkrüppeln – dem machte sie ein Ende."
    Modernisierung und Öffnung des Landes für den Westen
    Jung Changs Buch beginnt 1852 mit dem Einzug eines 17-jährigen Mädchens in die Verbotene Stadt. Der Geburtsname dieses Mädchens, das aus einer angesehenen Mandschu-Familie stammt, ist nicht überliefert. Cixi wird Konkubine im kaiserlichen Harem. 1856, als sie Kaiser Xianfeng einen Sohn schenkt, steigt sie in der Palasthierarchie weiter auf. Der Kaiser ernennt den gemeinsamen Sohn Tongzhi zum Thronfolger, so wird Cixi kurz darauf Kaiserinwitwe und Herrscherin des Reiches. Ihre erste Regentschaft endet 1872, als ihr nun volljähriger Sohn den Thron besteigt. Nach nur zwei Herrschaftsjahren erkrankt er jedoch schwer und stirbt.
    Als seinen Nachfolger bestimmt Cixi ihren dreijährigen Neffen und Adoptivsohn Guangxu, wodurch die Regentschaft an sie zurückfällt. Voller Tatendrang widmet sie sich den Regierungsgeschäften und knüpft da an, wo sie vor der Inthronisierung ihres Sohnes aufgehört hatte, bei der Modernisierung und Öffnung des Landes für den Westen. Sie sorgt dafür, dass Diplomaten in europäische Städte entsandt werden, befiehlt die Errichtung eines Telegrafennetzes und treibt den Kohleabbau voran – die Voraussetzung für die spätere Elektrifizierung des Landes. Nur bei ihrem wichtigsten Verkehrsprojekt zögert sie, beim Bau einer Eisenbahnlinie.
    "Dieses Projekt berührte einen Punkt von religiöser Bedeutung. Die zahlreichen Ahnengräber im ganzen Land, die die Angehörigen hingebungsvoll im Einklang mit den Regeln des feng-shui errichtet hatten, ließen sich nicht verlegen. Aber sie konnten auch nicht bleiben, wo sie waren, wenn an dieser Stelle die Eisenbahn vorbeiführen sollte: Die Menschen glaubten, dass die toten Seelen durch den Lärm der Züge gestört würden. Cixi war fest überzeugt, dass man die Gräber nicht antasten durfte."
    Jung Chang zeigt Cixi als machtbewusste Frau, die für ihr Land einen Weg ins 20. Jahrhundert suchte, ohne die Jahrtausende alte Tradition zu zerstören. Dabei verfügte sie über erhebliches politisches Geschick. Immer wieder gelang es ihr, sowohl reformerische Kräfte als auch konservative Skeptiker auf ihre Seite zu ziehen. In der Regel vermied sie offene Konfrontationen, suchte die Vermittlung, den Dialog.
    "Auf der richtigen Seite der Geschichte"
    Andererseits stärkte sie die Streitkräfte und scheute sich nicht, Chinas Interessen notfalls mit kriegerischen Mitteln zu verteidigen. Beim sogenannten Boxeraufstand von 1899 bis 1901 instrumentalisierte sie die Aufständischen für ihre militärischen Zwecke und setzte sie gegen eine Allianz westlicher Verbündeter ein, die ihre koloniale Einflusssphäre im Reich der Mitte gefährdet sahen. Nach dem Einmarsch alliierter Truppen in Peking gab Cixi den Boxern die Schuld an der Niederlage und ließ sie brutal bekämpfen. Trotz der zum Teil blutigen Folgen ihrer Politik sieht Jung Chang die Kaiserinwitwe als eine "Gigantin", die "auf der richtigen Seite der Geschichte stand".
    "Als absolute Herrscherin über ein Drittel der Weltbevölkerung und als ein Produkt des mittelalterlichen China konnte sie sehr unbarmherzig sein. Ihre Militäraktionen (...) zur Niederschlagung bewaffneter Rebellionen waren brutal. Ihre Entscheidung, die Boxer im Kampf gegen Invasoren einzusetzen, hatte zahllose Gräueltaten zur Folge. Sie hatte ihre Fehler, aber sie war keine Despotin. Verglichen mit ihren Vorgängern und ihren Nachfolgern war sie eine milde Herrscherin. Wie in diesem Buch geschildert, ließ sie in den vier Jahrzehnten absoluter Herrschaft nicht mehr als einige Dutzend Menschen aus politischen Gründen umbringen - ob gerechtfertigt oder nicht -, in vielen Fällen als Reaktion auf Mordkomplotte gegen sie."
    Beim Lesen solcher Zeilen beschleicht einen gelegentlich der Verdacht, Jung Chang habe sich aufgrund des negativen Zerrbildes, das von Cixi viele Jahrzehnte lang existierte, dazu hinreißen lassen, die Widersprüche im Handeln der Kaiserinwitwe etwas zu glätten. Ein wenig zu sehr betont sie deren Verdienste und ist stets bemüht, auch bei fragwürdigen Entscheidungen Cixis positive Absichten zu sehen. Reines Machtdenken und unschuldige Opfer bei der Durchsetzung von politischen Zielen passen nicht ins Bild einer dem Fortschritt auf allen Ebenen Tür und Tor öffnenden Regentin.
    Dennoch gelingt Jung Chang ein faktensicheres Porträt dieser einflussreichen Herrscherin, die die Entwicklung Chinas bis zu ihrem Tod im Jahre 1908 konsequent vorangetrieben hat. In ihrem opulenten Buch entwirft die Bestsellerautorin ein Panorama der chinesischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, das mit höfischen Intrigen und Innenansichten aus der verbotenen Stadt nicht geizt. Darüber hinaus versteht sie es jedoch, komplexe politische Verwicklungen und Konflikte, mit denen China an der Schwelle zur Moderne zu kämpfen hatte, für eine breite Leserschaft nachvollziehbar zu machen. So erzählt ihr spannendes Buch nicht nur vom Aufstieg einer Konkubine zur einflussreichsten Frau Chinas, sondern bietet zudem aufschlussreiche Einblicke in die jüngere chinesische Geschichte.
    Jung Chang: Kaiserinwitwe Cixi. "Die Konkubine, die Chinas Weg in die Moderne ebnete" (Übersetzung: Ursel Schäfer), Karl Blessing Verlag, 574 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-896-67418-0.