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Kaleidoskop von Wahrnehmungssplittern

In "Scardanellis Gedächtnis" entfaltet Schünemann den Gedanken- und Bilderstrom des sterbenden Dichters Hölderlin, der gewissermaßen mit den letzten Atemzügen seines Lebens noch einmal dessen Stationen vor sich und in sich vorbeiziehen sieht. Aber nicht in Form von Geschichten, Anekdoten und farbigen Illustrationen dieser geschichtsträchtigen Zeit um 1800, sondern in einem Kaleidoskop von Gedanken und Wahrnehmungssplittern.

Rezensiert von Martin Grzimek | 17.04.2009
    Peter Schünemanns poetische Prosa über den alternden Hölderlin mit dem Titel "Scardanellis Gedächtnis" ist ein schmales Bändchen von kaum mehr als hundert Seiten – aber es hat es in sich. Bekanntlich hat Friedrich Hölderlin, 1770 in Lauffen am Neckar geboren, die zweite Hälfte seines insgesamt 73-jährigen Lebens im Haus des Schreinermeisters Erich Zimmer in Tübingen in geistiger Umnachtung verbracht. Noch heute kann man sein Zimmer im sogenannten "Rundel" des Turms besuchen und sich in ein Gästebuch eintragen, das so berühmte Namen wie Eduard Mörike oder Mark Twain verzeichnet. Der "wahnsinnige Hölderlin" wurde noch zu Lebzeiten zu einem Mythos, sein schmales Werk – misst man es an dem seiner Zeitgenossen Goethe, Schiller oder Hegel – ist längst weltberühmt, die Literatur zu seiner Dichtung und seinem Leben unüberschaubar groß, reichhaltig und tiefschürfend. Jede Zeile seiner Hymnen und Gesänge, seines Hyperion-Briefromans, seiner Übersetzungen, Briefe und Notizen ist eingeordnet, befragt und gedeutet worden und gibt gleichwohl immer noch Rätsel auf, vor allem das so genannte Spätwerk. Angesichts solcher Bedeutungsfülle ist vor allem erst einmal der Mut zu bewundern, den Peter Schünemann aufbringt, sich einer Ikone der deutschen romantischen Literatur auf eigenständige, prosaische Weise zu nähern und über die letzten Jahre und Tage dieses geheimnisvollen Dichters eine Novelle zu schreiben.

    Zu schreiben, ist zu wenig gesagt. Denn in "Scardanellis Gedächtnis" entfaltet Schünemann den Gedanken- und Bilderstrom eines sterbenden Dichters, der gewissermaßen mit den letzten Atemzügen seines Lebens noch einmal dessen Stationen vor sich und in sich vorbeiziehen sieht. Aber nicht in Form von Geschichten, Anekdoten und farbigen Illustrationen dieser geschichtsträchtigen Zeit um 1800, sondern in einem Kaleidoskop von Gedanken und Wahrnehmungssplittern, von Zitatfragmenten und Redebruchstücken, die nicht Geschehen und Tatsachen, Ereignisse und Reflexionen in den Mittelpunkt rücken, sondern deren Vorformen und Residuen, bestehend aus Gefühlen, Gerüchen, Farben, Blicken, Eindrücken und Erinnerungsfetzen ohne Punkt und Komma:

    ":die Jahre rascher zurück in dahin fahrenden Bildern Gesichter uralt die Augen aufschlagend in Teichen in Brunnen knarrende Wagen im schneedunklen Frühjahr ein Klosterhofweg ein Kreuzgang ein Otternauge die Neckarsteige hinab aus den Höfen Schreie von der Mittagsspitze das Bockskraut am Fluß in den Abend geneigt das Holz der Kähne Gesicht um Gesicht aus dem Fluß über die Tische im Refektorium hungrig gebeugt auch aus dem Dunkel in ein hoch geflogenes Fenster sehend Heuwagen mit mahlenden Rindern im Juli ..."

    Solche Lebensdarstellung in poetischen Bildern einer meditativ klingenden Sprache hat ein bislang unübertroffenes Vorbild: Georg Büchners Erzählung "Lenz" über den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebenden Dichters Jacob Michael Reinhold Lenz. Auch Lenz, der nicht einmal 40 Jahre alt wurde, war geistig erkrankt, und diesen Zustand hält Büchner in seiner äußerst dichten und vieldeutigen Prosa fest. Seitdem ist der poetische Stil Büchners oft imitiert oder nachvollzogen worden, so etwa in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts von Peter Schneider, der einen modernen, zeitgenössischen Lenz beschreibt, einen Studenten der 68er-Generation, den die Unzufriedenheit mit seinem politischen Leben nach Italien vertreibt. All diesen Texten, auch dem Hölderlinschen Gedankenfluss Peter Schünemanns, ist die Rastlosigkeit zu eigen:
    getrieben zu sein von Idealen, die mit der gesellschaftlichen Realität nirgendwo harmonisieren können. Ihren deutlichsten Ausdruck aber findet diese Verzweiflung in unerfüllter oder gar, wie bei Hölderlin, unmöglicher, verbotener Liebe. Die Diotima seines Hyperionromans, Susette Gontard, in deren Familie er als Hauslehrer angestellt war, wurde zum unerreichbaren Ebenbild seiner Wünsche und Träume.

    "... ich habe es ja vergeblich versucht, dein verlöschendes Traumbild zu halten und nun verschwindet's in einem undurchdringlichen Nebel, vielleicht ist die eine Stunde, die mir noch gegeben ist am Rand der Nacht, dass ich dich erkenne, so lieben wie ich wird dich nichts mehr, die ganze Gegend ist stumm ohne dich leb wohl leb wohl, und das dunkle Antlitz der Zeit blickte mich aus dem Dunkel an, ein verwehtes Gesicht."

    Ratsam ist es, neben Schünemanns Versuch, Hölderlins Gedächtnissplitter über sein Leben aneinanderzulegen, eine Chronik seines Werdegangs, seiner Dichtung, seiner Begegnungen und Reisen zur Hand zu haben, etwa die äußerst lesenswerte Hölderlin-Chronik von Adolf Beck, erschienen im Insel-Verlag. Denn Schünemann beschreibt ja – und da weicht er entscheidend von seinem Vorbild Lenz von Georg Büchner ab – nicht aus der Er-, sondern aus der Ich-Perspektive eines geistig umnachteten Menschen, dem die Worte und Bilder im Gehirn herumflattern wie die Schatten von Vögeln, er beschreibt also nicht eigentlich, stellt nicht dar, sondern versetzt sich hinein in diese wirre Gedankenwelt. Das ist nicht immer einfach zu verstehen, aber verstehen soll man diese poetische Prosa auch nicht. Man sollte sie akzeptieren, indem man sie gleichsam betrachtet und die Gelegenheit benutzt, wieder einmal Hölderlins Werke aus dem Bücherregal zu holen.

    Peter Schünemann: Scardanellis Gedächtnis.
    Mit zwei Essays (Das andere Spätwerk / Hölderlins Schatten). Verlag C.H.Beck, München, 2007. 110 S., Euro 14,90.