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Kalligrafie und Manga-Ästhetik

In Japan gilt der 1989 verstorbene Osamu TeZuka als Meister des Zeichentricks. In seinen Manga-Epen geht es oft hart zu. Da wird gekämpft, da werden ganze Schlachten geschlagen. Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui hat TeZuka, dem Erfinder des Astro Boys, nun eine getanzte Hommage gewidmet.

Von Wiebke Hüster | 08.09.2011
    Osamu TeZuka als den Walt Disney Japans zu bezeichnen, sei richtig und auch wieder nicht, sagt Sidi Larbi Cherkaoui. Natürlich, in Japan werde der 1989 verstorbene Manga-Künstler und Meister des Zeichentrick tief verehrt, als Erfinder epischer, von den skurrilsten Figuren bevölkerter Manga-Welten, als großer fantastischer Erzähler.

    Aber anders als Walt Disney, dessen Enten, Mäuse, Hunde und Rehe in erster Linie ein harmloser Kinderspaß sind, hat TeZuka auf insgesamt 150.000 Blättern einen Kosmos erschaffen, in dem Kriege, Bedrohungen, Kämpfe, Feindschaften, Konflikte ausgetragen werden und Geschichten nicht mit rosigen Sonnenuntergängen enden. Zu grandiosen Entwürfen von historisch-philosophischem Anspruch wie dem achtbändigen Werk TeZukas über das Leben Buddhas gibt es auf Seiten Walt Disneys ebenso wenig ein Pendant wie zu den kritischen Äußerungen des Japaners über Religion als gesellschaftsstabilisierende Institution oder die drohende Amerikanisierung Japans nach dem zweiten Weltkrieg in anderen Geschichten.

    Früh schwappten TeZukas berühmteste Figuren – allen voran der süße Astro-Boy mit den roten Stiefeln und den knappen Supermann-Shorts in den Westen. Durch das Fernsehen trat er auch in das Brüsseler Wohnzimmer der Familie Cherkaoui. Er erinnere sich, als Kind von den Fernsehversionen der Mangas fasziniert gewesen zu sein, erzählt der Choreograf, den intensives Studium von MTV-Clips und Bruce-Lee-Filmen zum Tänzer machten, bevor ihn das Theater entdeckte und auf eine ordentliche Tanzbühne stellte.

    So kommen in Cherkaouis getanzter Hommage an den Comic-Zeichner "TeZuka" auch wundervolle Passagen von Kung-Fu -Kampfkunst vor. An diesen Stellen hat der Video-Künstler Taiki Ueda Großartiges geleistet. Wenn die Kämpfer mit ritueller Wucht aufeinander einschlagen, spritzen auf der großen Leinwand hinter ihnen die gezackten Symbole und Ausrufezeichen in die Luft, die in japanischen Comics das Boom, Zack, Peng, und Uff westlicher Schlägereien ersetzen. Myriaden von japanischen Schriftzeichen verwandeln sich an diesem Abend in Vögelschwärme und wieder zurück. Der Weg von der Leere zum Zeichen, vom Nichts zum Sinn, den versucht Cherkaoui zu veranschaulichen, voller Bewunderung dafür, wie oft TeZuka ihn scheinbar mühelos zurückgelegt hat. Ein Tänzer schiebt mit großen Armgesten Zeichnungen vor und zurück, er blättert tanzend in Alben Tezukas, als wäre die Bühne ein riesengroßes iPad. Ein alter Japaner sitzt links vorne an einem Tisch mit dem Rücken zum Publikum und wirft mit einem großen Pinsel japanische Schriftzeichen auf Papier. Der Kalligraf, sagt Cherkaoui, hat wie der Tänzer immer nur eine Chance, setzt er den Pinsel richtig auf's Papier, mit gerade dem richtigen Schwung und der gerade richtigen Menge Farbe, dann stimmt das Zeichen, wenn nicht, lässt es sich nachträglich nicht mehr korrigieren – wie die Schrittfolge des Tänzers – kippt er aus der Balance, verwackelt er die Drehung, versäumt er den musikalische richtigen Absprung, ist der Moment vertan.

    Doch noch etwas interessiert Cherkaoui. So wie der Tänzer Damien Jalet an diesem Abend immer wieder auf TeZukas Biografie zu sprechen kommt, erzählt er auch, dass die Company gerade in Tokyo probte, als das Erdbeben und die Atomkraftwerkskatastrophe sich ereigneten. Und die Figur Black Jack, ein Arzt wie TeZuka selbst und in den Alben eine Art medizinischer Robin Hood, spricht auf der Bühne von Bakterien, die möglicherweise imstande seien, Radioaktivität unschädlich zu machen.

    Das riesige Werk TeZukas hätte gereicht, einen Tanzabend zu füllen, und man hätte sich mehr fantastische Auftritte wie den des weißen Raketen abschießenden Papiertigers gewünscht. Stattdessen steckt in diesem Abend gleichzeitig zu wenig und zu viel – es ist Cherkaoui nicht gelungen, ein Porträt japanischer Krisenbewältigung durch Kunst und Technologie zu zeichnen. Es sind Fragmente davon, wunderschöne, intelligente, sinnvolle Puzzleteile, die sich noch nicht fügen, was bei diesem Ausnahme-Choreografen schon reicht, um eine leise Enttäuschung zurückzulassen.