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Kaltblütige Intelligenz

Auf sein Gehirn ist der Mensch besonders stolz - und es ist in der Tat ein erstaunliches Instrument. Einzigartig ist die menschliche Intelligenz allerdings auch wieder nicht. In allen Wirbeltierklassen findet man Überraschendes.

Von Dagmar Röhrlich | 02.01.2011
    "Sie gucken nicht nur sehr klug, sie sind es eigentlich auch."

    Ein schuppiger Kopf schiebt sich aus dem Panzer und schnuppert:

    "Der Schurli ist eine knapp 100jährige Riesenschildkröte von den Seychellen."

    Besonders appetitanregend riecht das Mikrofon nicht. Da lässt Schurli sich lieber kraulen:

    "Er ist einer unserer Probanden in der Versuchsreihe, in der wir testen, wie intelligent sind Riesenschildkröten, beziehungsweise: Was kann man von einer Schildkröte kognitiv erwarten oder nicht erwarten."

    Michael Kuba forscht am Tiergarten Schönbrunn in Wien und der Hebrew University in Jerusalem.

    Auf sein Gehirn ist der Mensch besonders stolz - und es ist in der Tat ein erstaunliches Instrument. Lange Zeit sah er es als Höhepunkt einer linearen Evolution, in der alle anderen Lebewesen für diverse niedrigere Vorstufen standen. Aber da irrte der Mensch: Komplexe Gehirne und hochentwickelte Informationsverarbeitung sind nicht sein Monopol, sondern im Lauf der Evolution gleich mehrfach entstanden. Die Wurzeln der Intelligenz reichen weit zurück.

    Eine Viertel Tonne kann eine männliche Seychellen-Riesenschildkröte auf die Waage bringen. Es sind beeindruckende Tiere. Während Schurli erwartungsvoll den Kopf nach oben reckt, geben die anderen Riesenschildkröten vor, sich für einen Heuhaufen in der Ecke zu interessieren. Allerdings schauen auch sie immer wieder herüber, vor allem Schurlis Artgenossen Mentschig und Nummer 3, eine junge Galapagos-Schildkröte:

    "Am Anfang ist es immer ein mühsames Überreden und 'Komm', mach doch was', und nach ungefähr einem Monat ist es so, dass die Schildkröte dasteht und sagt: 'Ja, was passiert jetzt.'"

    Im Außengehege wartet Tamar Gutnick auf Schurli, Mentschig und Nummer 3. Die Biologin arbeitet an der Hebrew University in Jerusalem, einige ihrer Versuchstiere jedoch leben im Zoo von Wien. Zunächst will Mentschig begrüsst werden. Während er sich die losen Schuppen von der Haut kratzen lässt, erzählt Tamar Gutnick von den Charakterunterschieden zwischen den gutmütigen Riesen:

    "Mentschig has always been the laziest of all, he really wants everything to come to him."

    Der Mentschig, der sei immer der faulste, erwarte, dass alles zu ihm komme. Er sehe gar nicht ein, für ein Stückchen Karotte irgendetwas zu tun - Gras mag er ohnehin lieber, auch wenn es ihn hin und wieder zum Niesen bringt. Schurli hingegen sei ganz anders: Er sei der "Einstein" der Gruppe, begreife am schnellsten. Gutnick:

    "He was always my favourite."

    Aber seinen eigenen Kopf habe er durchaus:

    "Wenn ich mit ihm arbeite und er mich für unfair hält, dann schnauzt er mich regelrecht an, dreht sich um und geht weg."

    Der Schurli, der habe eben einen ausgeprägten "Gerechtigkeitssinn", glaubt die Forscherin:

    "Ich habe mit ihm gearbeitet, und er sollte einen Ball berühren. Das hat er auch gemacht, und ich habe ihn mit einem Stück Karotte belohnt. Er biss sie vom Stock ab, wobei sie in zwei Hälften zerbrach. Die eine, die hinfiel, habe ich aufgehoben. Aber er suchte danach, und als er sie nicht fand, wurde er sauer: 'Mit Dir spiele ich nicht mehr.'"
    Lernbegierige Schildkröten mit Charakter - das traute man den Riesen gar nicht zu. Doch zunehmend entdecken Kognitionsforscher erstaunliche Fähigkeiten bei Arten, die lange als geistig minderbemittelt galten. Bei Reptilien etwa, deren Ahnen sich vor mehr als 300 Millionen Jahren von denen der Säugetiere abspalteten. Ebenso bei Amphibien, Knorpelfischen, selbst bei Wirbellosen, die in der Evolution noch sehr viel länger eigene Wege gehen.

    Vor mehr als einer halben Milliarde Jahren machte die Natur eine geniale Erfindung: Neuronen - Zellen, wie geschaffen dafür, Reize zu empfangen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Verknüpft zu einem einfachen Netz, wurden sie zum Rohmaterial für ein schlichtes Nervensystem. Die Quallen besitzen ein solches Reizverarbeitungssystem. Ein Gehirn ist das noch nicht. Das erprobte die Evolution erst bei den Würmern. Die besitzen vorne ein Maul und hinten einen Anus. Ein Tier mit solchen Attributen hat eine bevorzugte Bewegungsrichtung: immer mit dem Maul dem Fressen nach. Es schien sinnvoll, den Großteil der Nerven- und Sinneszellen dort zu ballen, wo Verlockungen und Gefahren warteten. Ein einfacher Bauplan entstand: Vorn ein Kopf, darin das Gehirn. Mit der Zeit prägte sich der Kopf immer stärker aus, das Gehirn legte an Volumen zu, die Zahl der Neuronen und ihrer Verknüpfungen untereinander nahm zu. Das Gehirn wurde immer leistungsfähiger und immer komplexer. Im Zoo von Wien beginnt für Schurli die Arbeit. Tamar Gutnick möchte, dass die Seychellen-Schildkröte ihr Können vorführt:

    "Im Abstand von einem oder zwei Metern zeigen wir den Tieren zwei verschiedenfarbige Bälle gleichzeitig - den richtigen sollen sie heraussuchen."

    Zunächst hatten alle Schildkröten mit Hilfe von Karotten gelernt, zu einem blauen Ball zu laufen und ihn anzustupsen. Der behäbige Mentschig brauchte dafür acht Tage, Schurli als schnellster hatte schon nach zwei Trainingseinheiten begriffen, worum es ging. Dann bekam jede Schildkröte ihren eigenen Farbball - Schurlis war braun, der von Nummer 3 gelb. Von nun an präsentierte die Biologin immer zwei Bälle, den eigenen und einen andersfarbigen, und die Tiere sollten ihren eigenen anstupsen. Als Belohnung gab es wieder Karotten:

    " And once he gets the ball he gets his carrot."

    Für Schurli war das damals kein Problem:

    "It took about eight trials - very fast."

    Nach nur acht Versuchen hatte er es begriffen. Die anderen Schildkröten brauchten durchschnittlich 23 Versuche, dann machten auch sie keine Fehler mehr. Dieser Durchschnittswert sei für Reptilien beachtlich, sagt Michael Kuba.

    "Dogs faster, cats slower, rats about the same speed, goats were faster, very smart."

    Hunde lernen schneller, Katzen langsamer, Ratten in etwa genauso schnell – die Ziegen waren auch schneller. Lange schien es, als wären die Tiere mit Ausnahme der Menschenaffen oder Papageien nicht viel mehr als instinktgesteuerte Automaten. Dann verglichen Anatomen die Gehirne - und fanden überall Beispiele für eine Entwicklung vom einfachen zum komplexen Gehirn. Evolutionspsychologe Gordon Burghardt aus Knoxville:

    "Manche glauben, dass die Haie oder Rochen nur eine geringe Intelligenz besitzen, weil sie als Knorpelfische eine uralte Erfindung der Evolution sind. Aber wir sehen jetzt, dass sie sogar sehr lernfähig sind, vielleicht lernfähiger als andere Fische."

    Kraken, Goldfische, Haie, Rochen, Reptilien - sie alle zeigen erstaunliche Fähigkeiten. Wenn man sie entdecken will, muss man sich auf diese Tiere einlassen: Mit "säugetierzentrierten" Versuchen kommt man dabei nicht unbedingt weiter. Was den Affen zu Höchstleistungen anspornt, lässt die Muschel kalt, weiß auch die Kognitionsforscherin Anna Wilkinson von der Universität Wien:

    "Wir arbeiten mit Feuersalamandern und haben gelernt, dass wir die Fragen an die Art anpassen müssen. Will man beispielsweise etwas über die Fähigkeiten der Feuersalamander erfahren, darf man sie nicht wie Schildkröten mit Futter locken, sondern mit einer schönen, dunklen Höhle."

    Eine Schulklasse ist angekommen und erfährt im Nebenraum alles über eine Schlange, die sich im Terrarium gerade um einen Ast windet. Schurli lässt sich vom Lärm nicht beeindrucken. Er soll zeigen, wie komplex seine Schildkrötenwelt ist. Michael Kuba:

    "Sie haben sich gemerkt, dass der blaue Ball Belohnung bedeutet, und dann haben wir getestet, was passiert, wenn sich der blauen Ball von ihnen weg bewegt und hinter einer Wand verschwindet. Wissen sie dann immer noch, dass er da ist? Und dabei hat sich gezeigt, dass die Schildkröten in etwa die gleiche Leistungsfähigkeit haben wie ein neun bis zwölf Monate altes menschliches Kind."

    Schurli weiß, dass der Ball sich hinter der Wand versteckt. Anscheinend macht diese Fähigkeit der "Objektpermanenz" auch für einen langsamen Vegetarier Sinn. Erst als der Ball hinter zwei Schirmen verschwindet, scheitert Schurli. Hinter mehreren Steinen würde er als Pflanzenfresser nicht suchen, Gras ist in der Regel nicht allzuschwer zu finden.

    Auf der Jagd nach beweglichem Futter sieht es da schon anders aus. Für Räuber kann es entscheidend sein zu wissen, wo sich die Beute versteckt. Die Weißkehlenwarane, die Evolutionspsychologe Gordon Burghardt in seinem Labor an der University of Tennessee in Knoxville hält, sind solche Räuber. Die bis zu zwei Meter langen Echsen können - wie Katzen - bis sechs zählen - und besitzen eine hohe "Umweltintelligenz" zur individuellen Problemlösung.

    "Wir haben sehr jungen Weißkehlenwaranen eine durchsichtige Plastikröhre mit einer kleinen Tür gegeben. In dieser Röhre steckten Mäuse, und die Warane - sie waren kaum geschlüpft - schauten die Röhre an, drehten sie sich zurecht, steckten ihre Schnauze durch die Tür und schnappten sich die Maus. Wir hatten acht Warane - und alle acht lernten beim ersten Versuch, wie man an die Mäuse herankommt. Sie fraßen eine nach der anderen und wurden dabei immer schneller. Nachdem sie das Problem gelöst hatten, vervollkommneten sie also ihr Vorgehen"

    Übertroffen werden die Weißkehlenwarane noch von den Komodowaranen, den heute größten lebenden Echsen. Und sie sind nicht die einzigen, die in der Forschung derzeit für Überraschung sorgen. Das schaffen auch die Oktopusse:

    "Octopus, certainly are, you might say, the geniuses of the invertebrate."

    Die Oktopusse könnte man durchaus als "Genies in der Welt der Wirbellosen" bezeichnen: Sie ahmen andere nach und bekommen sogar heraus, wie man Futter aus einem verschlossenen Glas holt. Sie haben also durchaus einiges an Lernfähigkeit zu bieten.

    Dabei ist ein Oktopus-Gehirn vollkommen anders aufgebaut als das der Wirbeltiere. Wirbeltiere, zu ihnen gehören Menschen, Fische und eben auch Echsen, verfügen über ein Zentralgehirn. Ein Hirnstamm steuert lebenserhaltende Funktionen wie Herzschlag und Atmung, das Kleinhirn koordiniert Bewegungen, das Vorderhirn plant, bewertet und entscheidet. Die Areale sind klar voneinander zu unterscheiden, und angelegt wurde das Ganze am oberen Ende des Verdauungstrakts. Anders das Gehirn von Oktopus oder Tintenfisch. Matthias Glaubrecht vom Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung in Berlin:

    "Bei einem Tintenfisch ist das Gehirn, das zeichnet sich dadurch aus, dass es ringförmig aufgebaut ist, und da liegen zwei große, glatte wie Billardkugeln aussehende, durch eine breite Brücke verbundene Nervenzentren um den Schlund herum. Das Besondere bei sehr vielen der wirbellosen Gruppen ist, dass sie ihr zentrales Verdauungsrohr vom Mund bis sozusagen in den Verdauungstrakt nach hinten, dass sie das Gehirn drum herum gebaut haben."

    Das Bauprinzip dieses Weichtiergehirns entwickelte sich vor Hunderten von Millionen Jahren bei den Ahnen aller Muscheln, Schnecken und Kopffüßer - und wurde danach - so wie bei den Wirbeltieren auch - immer komplexer, bis hin zum Oktopus, der bei den Wirbellosen sozusagen die Stellung des Menschen innehat.

    Im Keller des Seattle Aquariums, dort, wo kein Besucher hinkommt, laufen Pumpen und überall plätschert es. Plastiktanks stehen in den Gängen, große Bassins und in den deckenhohen Regalen Hunderte kleiner Aquarien.

    "Hier sind wir in dem Bereich, in dem wir die Tiere halten, die nicht ausgestellt werden, weil sie noch zu klein sind oder sich nach der Zeit oben im Ausstellungsbereich ein wenig erholen müssen."

    Roland Anderson ist Meeresbiologe am Seattle Aquarium. Schildchen verraten, wer in den Aquarien lebt - und wo man beim Füttern vorsichtig sein sollte, weil der Bewohner gerne nach Fingern schnappt oder giftig ist.

    "Wir stehen hier vor einem Aquarium mit einem jungen Pazifischen Riesenkraken, den wir Harry Potter genannt haben."

    Harry Potter wirkt nicht gerade erfreut über den Besuch: Durch die Glasscheibe seines Beckens beobachtet uns der zwei Jahre alte Pazifische Riesenkrake. Die schlammgraue Farbe verrät seine missmutige Stimmung. Und nicht nur die:

    "He has a dark bar through his eyes there. That is a sign of irritation."

    Dort, dieser dunkle, waagerechte Balken in seinen Augen, der ist ein Zeichen, dass er gereizt ist. Vielleicht haben wir ihn geweckt? Unwillig pumpt Harry ein paar Wasserstrahlen in unsere Richtung, will uns vertreiben. Das ist seine Art, mit Stress fertig zu werden, so Roland Anderson.

    "He is pretty intelligent."

    Als wirbellose Weichtiere sind Kraken mit Schnecken verwandt, Tiere, denen die Menschen normalerweise nicht viel zutrauen. Anderson:

    "Wie intelligent sie sind? Es gibt zwar keinen IQ-Test für Kraken, aber ich glaube, dass man sie irgendwo mitten unter den Vögeln einordnen könnte."

    Oktopoden besitzen Persönlichkeit. Und sie beherrschen den Werkzeuggebrauch. In freier Wildbahn sammelt ein kleiner Krake, Amphioctopus marginatus, sogar Kokosnussschalen, um sie später als Behausung zu benutzen – ein unter Wirbellosen einzigartiges Beispiel planvollen Vorgehens. Vor einigen Jahren machten Kraken noch aus einem anderen Grund Schlagzeilen:

    "Kraken zeigen Spielverhalten. Wir haben bei mehreren Pazifischen Riesenkraken untersucht, wie sie sich an neue Objekte wie etwa schwimmende Pillenflaschen gewöhnen. Während sich einige der Tiere nicht sonderlich dafür interessierten, bliesen andere sie mit einem Wasserstrahl durch ihr Aquarium, ganz so, wie ein Kind einen Ball gegen die Wand werfen würde."

    Auch Haie spielen, Chamäleons, Krokodile, Alligatoren - sogar Wespen, wahrscheinlich jedenfalls. Gordon Burghardt:

    "Eines der ersten überzeugenden Beispiele für Spiel stammt aus dem National Zoo in Washington, DC, wo eine große, alte Nil-Weichschildkröte lebte. Sie war in einem sterilen Gehege untergebracht und begann sich selbst zu beißen. Da dachte der Reptilienkurator das Undenkbare: Könnte das Reptil gelangweilt sein? Er gab ihm ein paar Spielzeuge. Die Selbstverletzungen hörten sofort auf: Die Schildkröte stupste den Basketball herum, schwamm durch einen großen Reifen, schleppte ihn mit sich herum. Sie knabberte an Stöcken wie ein Hund, spielte Tauziehen mit dem Wärter, wenn der ihr Aquarium reinigen wollte."

    Sie spielte sogar ausdauernder als Säugetiere, erzählt Evolutionspsychologe Gordon Burghardt. Als begeisterte Spieler erwiesen sich auch Komodowarane, die als gefährliche Räuber problemlos einen um ein Vielfaches größeren Wasserbüffel erlegen können:

    "Ich erhielt einen Anruf vom Washingtoner Zoo, und sie erklärten, dass sich ein junger weiblicher Waran mit ihren Wärtern angefreundet hätte. Sie lief auf sie zu, und besonders gerne fischte sie ihnen kleine Gegenstände wie Notizbücher aus der Tasche, mit denen sie dann umherzog. Daraufhin haben wir ein Testprogramm für Komodowarane entwickelt und fanden heraus, dass sie spielen: Sie lieben Frisbees, Eimer, leere Schachteln, auch Taschentücher fürs Tauziehen mit den Wärtern. Ihr Verhältnis zu ihnen war wie das eines Hunds zu seinem Herrn - und Hunde und Wölfe sind ja auch Raubtiere, die andere Tiere töten."

    Die Komodo-, Weißkehlen- und Steppenwarane, die Gordon Burghardt an seinem Institut in Knoxville untersucht, schlagen sich auch gerne einen Schuh um die Ohrlöcher - wie junge Hunde. Burghardt:

    "Die Leute sind skeptisch, wenn es um Echsen geht und fragen: Sind sie nicht einfach zu blöd, um zu sehen, dass es nichts zu fressen ist? Wir konnten beweisen, dass dem nicht so ist. Was immer sie fressen wollen, zerreißen und verschlucken sie. Ihre Spielzeuge aber verschlucken sie nie, selbst wenn das möglich wäre."

    Ob Reptilien auch in freier Wildbahn spielen, darauf hat anscheinend niemand geachtet. Allerdings gibt es Beobachtungen bei Meeresschildkröten, die in diese Richtung gedeutet werden könnten. Gordon Burghardt:

    "Wenn man die Daten über das Spielverhalten bei verschiedenen Arten anschaut, dann reichen die Wurzeln des Spiels entweder weit in die Evolutionsgeschichte zurück, oder - und das halte ich für wahrscheinlicher - es ist in ganz unterschiedlichen Gruppen unabhängig voneinander gleich mehrfach im Lauf der Evolution entstanden."

    Ebenso wie die Intelligenz. Dabei sei der Zusammenhang zwischen Spiel und Intelligenz komplex, so Gordon Burghardt:

    "Unsere Arbeit und andere Indizien legen nahe, dass für Spielverhalten die Intelligenz zwar keine Voraussetzung ist, aber die intelligenteren Tiere spielen mehr. Das Spiel unterstützt ihre kognitive Entwicklung und übt neue Verhaltensweisen ein. Deshalb könnte es eine Triebfeder für den evolutionären Wandel sein."

    Dem Spiel "verfallen" sind auch Süßwasserstachelrochen, obwohl sie zu den Knorpelfischen gehören, einer mehr als 450 Millionen Jahre alten Tiergruppe. Sie können über einen Katzenball in Begeisterung geraten, erzählt Michael Kuba von der Hebrew University.

    "Süßwasserstachelrochen dieser Art fressen sehr viel Futter, das im Sand vergraben ist. Es wird permanent in den Sand hineingeblasen, um zu sehen, ist da der Wurm begraben, um den Wurm zu bekommen. Es ist so, dass Knorpelfische immer diesen Nimbus der schwimmenden Nase haben, eher dumm zu sein, eher keine großen kognitiven Leistungen zu vollbringen."

    Aber Tigerstachelrochen lösen Probleme - und setzen sogar Werkzeuge ein, um ihr Ziel zu erreichen. Das fanden Michael Kuba und seine Kollegen mit Hilfe von Plastikröhren heraus, in die sie etwas Futter gesteckt hatten. Die Rochen wussten sofort, dass in den grauen Dingern etwas war, was sie haben wollten. Drei Minuten ließen ihnen die Wissenschaftler für jeden Versuch Zeit. Zunächst bissen sie einfach in die Röhre. Als das nichts brachte, schleuderten sie zunächst so lange herum, bis das Futter herausfiel. Kuba:

    "Das ist aber rein von der Effizienz her nicht die geschwindeste Strategie. Wenn sich die Rochen ein bisschen damit beschäftigen, kommen sie zu anderen Strategien. Das kann entweder sein, dass die Rochen Wasser in die Röhre hineinblasen und das Futter herauskommt, oder, was sich in unserem Fall als die schnellste Variante erwiesen hat, dass der Rochen an einer Seite die Röhre blockiert, mit seinem Teller, und dann mit seinem Mund, beziehungsweise über Flossenbewegungen Unterdruck erzeugt, und somit das Futter zu sich hinsaugt."

    Nach 50 bis 100 Versuchen mit dem fremden Objekt hatten die Rochen die effizienteste Methode entdeckt und das Wasser zum Werkzeug gemacht: Sie setzten es gezielt ein, indem sie es bewusst mit ihrem Körper manipulierten:

    "Als wir das begonnen haben, mit Röhren zu arbeiten, haben wir uns gedacht, dass die normalste Reaktion von Rochen die sein wird, in die Röhre einen Wasserstrahl hineinzublasen, um das Futter herauszubekommen. Hat sich herausgestellt, das ist die mit Abstand unüblichste Methode für den Rochen."

    Am liebsten setzten sie sich ruhig auf die Röhre und saugten das Futter heraus. Sie vergaßen den Trick selbst über Monate nicht - und lernten ihn von Artgenossen. Michael Kuba:

    "Was passiert, wenn wir jetzt einem naiven Rochen, der noch nie im Leben eine Röhre gesehen hat, zeigen, wie seine Artgenossen mit dieser Röhre umgehen. Und was wir dabei dann festgestellt haben, ist, dass die so genannten Observer, also die Rochen, die anderen zuerst zusehen durften, in etwa viermal so schnell lernen, oder viermal so schnell eine optimale Performance erreichen, Futter aus der Röhre zu bekommen. Und was eines der interessanten Details war: Sie kopieren von Haus aus die Strategie ihrer Demonstratoren."

    Erfolgreiches Verhalten kopieren - was vor wenigen Jahren noch als Privileg der Primaten angesehen wurde, erweist sich als weitverbreitet. Und nun zeigen es Fische, und selbst Reptilien, die von Natur aus als Einzelgänger leben und vom Schlüpfen an für sich selbst sorgen. Gordon Burghardt:

    "Ein Tier, das ohne Eltern geboren wird, die es beschützen, muss sehr viel und sehr schnell selbst lernen. Es muss sein eigenes Futter auftreiben, wissen, was man fressen kann, es muss sich selbst vor Feinden schützen - alles, ohne dass es ihm jemand zeigt. Diese Tiere müssen ein hohes Maß an angeborenem, instinktivem Wissen besitzen - aber sie sind keine Maschinen. Sie müssen sich an ihre Umgebung anpassen können, denn kein Instinkt der Welt kann sie auf jede Entscheidung, jedes Problem vorbereiten."

    Wie lern- und anpassungsfähig Tiere sind, die ohne Eltern aufwachsen und die deshalb als rein instinktgesteuert galten, beweisen die Köhlerschildkröten, mit denen die Wiener Kognitionsbiologin Anna Wilkinson arbeitet:

    "Wir haben mit unseren Köhlerschildkröten Experimente zum sozialen Lernen durchgeführt. Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie, und sie sind von Natur aus Einzelgänger. Also sollte es bei ihnen soziales Lernen nicht geben, weil das generell als Anpassung an ein Leben in Gruppen angesehen wird. Aber auch wenn wir unsere Schildkröten am Institut in Gruppen halten: Von der Evolution her sind sie nicht darauf vorbereitet."

    Dennoch schafften es die Köhlerschildkröten, sich auf die Gruppe einzustellen. Sie lernten durch Beobachten. Etwa wie man um einen V-förmigen Zaun herumläuft, um an einen Ball mit Erdbeeren heranzukommen.

    "Was für uns eine ganz einfache Aufgabe ist, aber für ein Tier sehr schwer, denn es muss sich erst einmal von der Futterquelle entfernen, um dann zu ihr zurückzukommen. Wir teilten unsere Schildkröten in zwei Gruppen ein: Die eine sollte den Trick herausfinden und die andere sollte sie dabei beobachten. Jeder hatte zwölf Versuche - aber kein einziges Tier schaffte es."

    Also wurde Wilhelmina trainiert, die für Erdbeeren einfach alles tut. Sechs Wochen dauerte das Training und es gestaltete sich extrem mühsam:

    "At this point we were pulling our hair out what on earth are we doing. This is crazy."

    Dann hatte Wilhelmina endlich begriffen - und führte ihr Können anderen Schildkröten vor: Zwei der Beobachterschildkröten schafften es direkt beim ersten Mal, die beiden anderen brauchten etwas länger, aber auch sie fanden innerhalb der zwölf zugestandenen Versuche den richtigen Weg.

    "Good boy, Moses, good boy."

    Im Labor an der Wiener Universität ist aus weißen, niedrigen Wänden ein Art Stern mit acht Ausläufern aufgebaut und mit Baumrindenstücken ausgelegt. Am Ende eines jeden Arms wartet eine Belohnung in Form einer Erdbeere. Anna Wilkinson:

    "Das hier ist Moses, und er soll in diesem Stern ein Experiment durchführen. Moses wird so abgesetzt, dass er direkt in den achten Arm sieht."

    Um den Irrgarten herum versperrt ein schwarzer Vorhang die Sicht: Moses soll sich nicht an einer Vielzahl von Hinweisen in seiner Umgebung orientieren können. Das ist schon die fortgeschrittene Form des Versuchs. Anfangs ging es "nur" um das räumliche Denkvermögen von Moses, ob er weiß, in welchem Arm des Labyrinths er schon war und in welchem nicht.

    "Bei den Säugetieren spielt der Hippocampus bei der räumlichen Orientierung eine große Rolle. Aber Reptilien besitzen keinen Hippocampus, sondern eine ähnliche Struktur namens Komodowaran. Deshalb fragten wir uns, ob Schildkröten auch ohne Hippocampus mit einem komplexen Irrgarten fertig werden - und sie schaffen es."

    Solange sie sich an der Umgebung orientieren konnten, lösten sie die Aufgabe genau so, wie es auch eine Ratte tun würde. Aber diesmal, ohne die vertrauten Zeichen, passiert etwas vollkommen Unerwartetes: Moses beginnt, in dem Stern ganz systematisch einen Arm nach dem anderen abzuklappern. Es ist nachweislich die effizienteste Methode, die es gibt. Wilkinson:

    "Sein Erfolg liegt jedesmal bei fast 100 Prozent. Bei Säugetieren sieht man dieses Verhalten niemals."

    Noch nicht einmal beim Menschen. Warum er und seine Artgenossen es so halten, weiß niemand. Vielleicht findet sich die Antwort am Rande der Urwälder Südamerikas, wo Riesenschildkröten über Jahrmillionen hinweg bestehen mussten.