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Kammer- und Klaviermusik
Erinnerungen an den Osten

Pianist Steffen Schleiermacher hat auf seiner neuen CD die verschiedengestaltige Klavier-Avantgarde Ostdeutschlands zusammengestellt. Fünf junge Kammermusiker um die Geigerin Nurit Stark haben zudem Werke des russischen Komponisten Victor Suslin eindrucksvoll eingespielt.

Von Frank Kämpfer | 19.10.2014
    Eine junge Frau spielt am 12.12.2013 im Ausstellungsraum der Klaviermanufaktur Steingraeber und Söhne in Bayreuth (Bayern) auf einem schwarzen Flügel.
    Steffen Schleiermacher hat seine CD "Lehrer Freunde Kollegen" im vergangenen Jahr auf einem großen D Steinway Konzertflügel eingespielt. (picture-alliance / dpa / David Ebener)
    Im Folgenden geht es um Lehrer und Schüler, Kollegen, die Freunde waren, nicht nur Rivalen - in bedrückender Zeit, als Kunst ihnen ein Halt war. Es geht um Rebellion, um ästhetisch gespeicherte Wut - und - es geht auch um Trauer, um Abschied, um die unaufhaltsam vergehende Zeit. Am Mikrofon Frank Kämpfer, ich habe zwei neue Alben hier, die ich Ihnen anspielen will: das eine "IN MEMORIAM", Viktor Suslin, das andere - gleichfalls Erinnerungsgut - mit avancierter Klaviermusik aus Ostberlin.
    Friedrich Schenker, "Klavierstück" (1972)
    Steffen Schleiermacher, Klavier
    A. D. S. C. H. B. E. G. - diese Buchstaben stehen für Noten, die Tonhöhen wiederum symbolisieren zeichenhaft einen Namen: Arnold Schönberg, Tabu und Fixstern zugleich in der zeitgenössischen Komponierlandschaft der Ex-DDR. Friedrich Schenker, Jahrgang 1942, einer der nachweisbar rebellischsten darin, hatte sich zu Schönberg in einem Klavierstück bekannt, 1972, als das Bekenntnis noch Widerstand war. Widerstand gegen "Borniertheit, Vereinnahmung, Verflachung, Verkrustung" in Kulturbetrieb und Kulturpolitik- wie Pianist Steffen Schleiermacher in seinem Booklettext nachvollziehbar erinnert. "Lehrer Freunde Kollegen" lautet der Titel seiner CD; der Interpret hat sie selbst konzipiert und im vergangenen Jahr auf einem großen D Steinway Konzertflügel für das Label MDG eingespielt.
    23 Titel von neun Tonsetzern finden sich hier. Fritz Schenker, einer der zwei Kompositionslehrer des Interpreten, ist auf der Platte mit seinem kompletten Klavierwerk vertreten, das knapp 15 Minuten umfasst: vier ebenso expressive wie komplexe Miniaturen aus den 1970er-Jahren. Eine Art Gegenpol bilden vier Klavierstücke von Friedrich Goldmann; Schleiermacher absolvierte ein Meisterstudium bei ihm, an der Akademie. Goldmann war seinerzeit frankophil orientiert, sein gleichfalls aus den 70ern stammender Zyklus verweist auf Messiaen, auf Pierre Boulez.
    Auf Steffen Schleiermachers CD finden sich indes neben den Spuren der Namhaften, schon vor dem Mauerfall international Renommierten, inzwischen Verstorbenen, auch andere Namen. Hermann Keller zum Beispiel, beheimatet in Grenzbereichen zur Improvisation. Schleiermacher kennt ihn aus den Zeiten des Freejazz, er hat von Keller vier kleine Skizzen gewählt: knappe Kurzporträts und Referenzen, zum Beispiel Katzer-Variationen, Länge: 1:48.
    Fern aller Komplexität und von ganz anderem Moderne-Denken geprägt sind auf der Platte die Stücke von Wolfgang Heisig, einem Außenseiter, den der Pianist als ostdeutschen Anwalt Nancarrows und Phonola-Experten kennt und reichlich schätzt. Heisigs Miniaturen basieren auf stark reduziertem Material und muten wie Oberflächen an, die man als solche erkennt. Ein Beispiel: "Happy Birthday" aus der 1980 begonnenen losen Sammlung "Klaviertöne":
    Wolfgang Heisig, "Happy Birthday" aus: "Klaviertöne"
    Steffen Schleiermacher, Klavier
    Musikwissenschaft diskutiert seit einem Vierteljahrhundert, ob in 40 Jahren ostdeutschen Komponierens bis 1989 eine besondere DDR-Spezifik nachweisbar ist. Steffen Schleiermacher, selbst einst dazugehörig, verneint. Bestimmte Musiker und Werke aus jener Zeit - dies stellt er ebenso klar - hätten auch heute Bestand. Vorliegende Platte versteht sich als ein Beweis. Der Pianist hat sie als Überblick über die verschiedengestaltige Klavier-Avantgarde Ostdeutschlands zusammengestellt. Systemtreue Tonsetzer fehlen, vielmehr sind Außenseiter vereint, die solche waren, wurden, immer noch sind. Schleiermacher hat ihre Kompositionen mit der ihm eigenen Präzision und Distanz eingespielt, die man von zahlreichen seiner MDG-Produktionen gut kennt.
    Sentimentalität ist nicht seine Welt. Dennoch scheint mir Emotionales der Platte zugrunde zu liegen: Beleuchtet die Auswahl der Namen und Werke, die sich zum Teil aufeinander beziehen, doch nichts Geringeres als ein Gefüge einstmals Verschworener, ähnlich Denkender - von Künstlern, die einander vertrauten. Steffen Schleiermacher selbst war und ist davon ein Teil.
    Hier noch eine andere musikalische Stimme: sie gehört Siegfried Thiele, Schleiermachers anderem Lehrer für Komposition. In seiner "Abendphantasie" war Thiele in dramatischer Zeit auf der Suche nach Wegen zu einer neuen Tonalität. Zugleich nahm er voraus, dass es in der Gesellschaft und ihrem System auf einen Schlussakkord zulief.
    Siegfried Thiele, "Abendphantasie"
    Steffen Schleiermacher, Klavier
    Viktor Suslin, "Capriccio über die Abreise"
    Nurit Stark, Rebecca Beyer, Violinen
    Ende und Abschied thematisiert auch diese Streichermusik - wenngleich mit anderem Impetus, in gänzlich anderer musikalischer Sprache: Das "Capriccio über die Abreise" belegt ein biografisches Schlüsselmoment: Komponist Victor Suslin, geboren 1942 in Miass (Ural), hat in diesem Duostück für zwei Violinen 1979 seine eigene Ausreise thematisiert. Genauer gesagt, die innere Auseinandersetzung damit, die UdSSR zu verlassen, kurz nach dem realen Entschluss. Zweifel und Mut in Bezug auf die eigene Zukunft folgen entsprechend nicht nacheinander, sie ereignen sich zeitgleich. Fieberhaft wechselnde Dur- und Moll-Dreiklänge zeichnen ein Psychogramm.
    Eine solche Programmatik ist indes ein Einzelfall im Oeuvre des Russen. Suslin, Gründer und Mitglied der berühmten Moskauer Improvisationsgruppe Astreja, machte weder als Künstler noch im Privatraum Aufhebens um seine Person. Ihn beschäftigten abstraktere Themen, wie seine intensive Auseinandersetzung mit Musik des 18. Jahrhunderts belegt, oder sein Komponieren im Grenzland des Mikrotonalen, das sich vor allem auf Streichinstrumente bezog.
    All dies birgt und bündelt eine "IN MEMORIAM" betitelte neue SACD beim Label BIS. Die Platte ist zugleich eine bemerkenswerte Visitenkarte der jungen israelischen Geigerin Nurit Stark. Stark spielt ein Guarneri-Instrument von 1710, auf dem sie Suslins Grenzgänge zwischen wohltemperierter und variablen Stimmungen sehr atmosphärisch zu entfalten vermag. Zweifellos ist die Instrumentalistin mit den Menschen und Werken der Platte auf besondere Weise vertraut - zumal Suslins Sohn Alexander auf der CD den Kontrabass spielt.
    Viktor Suslin, "Grenzübertritt"
    Nurit Stark (Violine), Olga Dowbusch-Lubotsky (Cello), Alexander Suslin (Kontrabass)
    Viktor Suslin - nach seiner Ankunft in Deutschland 1981 viele Jahre als Lektor beim Sikorski Verlag tätig - mag heute bereits ein Vergessener sein, ein Einzelgänger war er mitnichten. Darauf verweist eine Quartett-Komposition, die knapp ein Drittel der Platte ausfüllt. Urheberin Sofia Gubaidulina hat sie im vergangenen Jahr eigens für diese CD komponiert und erinnert so an gemeinsame Jahre des Austauschs und der Zusammenarbeit: etwa in Hamburg, dem späteren Lebensort beider, oder, viel früher, im 1975 noch in Moskau in Leben gerufenen Ensemble Astreja.
    Letzteres war Suslin wie Gubaidulina als auch dem Dritten im Bunde, Artjomow, ein Laboratorium, ein Experimentierfeld, ein verbotener und doch existierender Freiraum. In ihrer Widmungsarbeit "So sei es" erinnert Gubaidulina daran: sie rekapituliert die einstmals gemeinschaftlich favorisierte Form einer "konstruktiven Idee" als Basis des Komponierens und sie lässt ihre vier Instrumente Geige, Kontrabass, Klavier und Perkussion dialogisch mit- und gegeneinander agieren. Die 20-minütige Komposition ist voller Eruptionen - man darf sie als Trauerarbeit verstehen, als Versuch, Unabänderliches zu akzeptieren: die Linearität irdischen Lebens, die vergehende Zeit.
    Sofia Gubaidulina, "So sei es"
    Nurit Stark (Violine), Alexander Suslin (Kontrabass), Cédric Pecia (Klavier), Taiko Saito (Schlagwerk)
    "So sei es" - ein Ausschnitt aus Sofia Gubaidulinas Hommage an die gemeinsame Zeit mit dem Komponisten Viktor Suslin. Fünf junge Kammermusiker um die Geigerin Nurit Stark haben Werke des Russen für das schwedische Label BIS eingespielt. Zuvor habe ich Ihnen Steffen Schleiermachers gleichfalls ganz neue, bei MDG editierte CD mit Klaviermusik der ehemaligen DDR-Avantgarde angespielt. Soweit für heute unsere Sendung DIE NEUE PLATTE, ausgewählt von Frank Kämpfer.