Freitag, 19. April 2024

Archiv

Kammermusik
Ottensamer spielt ungarische Musik

Andreas Ottensamer spielt auf seinem zweiten CD-Projekt Werke von Johannes Brahms. Vielleicht hätte die Zeit fürs Fotoshooting des Soloklarinettisten etwas knapper und die für die Proben mit den anderen Musikern etwas großzügiger bemessen sein sollen - die Musiker kombinieren aber dennoch fabelhaft die technische Souveränität von Profis mit der Leidenschaft einer Kaffeehauskapelle.

Von Raoul Mörchen | 29.03.2015
    Ungewöhnliche Teilansicht einer Klarinette
    Ungewöhnliche Teilansicht einer Klarinette (imago stock&people)
    "Die nackte Gulasch-Kanone", so witzelt gerade das Klassikmagazin "Rondo" über Andreas Ottensamer und sein zweites CD-Projekt: Es führt den 25-jährigen Soloklarinettisten der Berliner Philharmoniker zurück zu den Wurzeln seiner Familie mütterlicherseits, zurück nach Ungarn. "Brahms – The Hungarian Connection" heißt das neue Album bei der Deutschen Grammophon – Ottensamer spielt dort an der Seite von Freunden und Kollegen wie dem Geiger Leonidas Kavakos und dem Bratschisten Antoine Tamestit.
    Musik: Remenyi/Brahms/Koncz: Ungarischer Tanz Nr.7
    Erkennen Sie die Melodie? Richtig – ein ungarischer Tanz von Johannes Brahms. Und doch, genau genommen, auch wieder falsch. Denn Brahms hat diese Melodie gar nicht selbst erfunden, er hat sie bloß ausgeschmückt: Ursprünglich war sie einem Freund, dem Geiger Eduard Remenyi, eingefallen, der Brahms schon früh bekannt gemacht hatte mit Volksmusik der Ungarn. Für das Publikum war das freilich nur Kleingedrucktes. Ob authentisch oder nachempfunden – die ungarischen Tänze waren von Beginn an ein Riesenhit und sind es noch heute. Wenn der Klarinettist Andreas Ottensamer sie aufs Programm setzt, kann er sicher sein, nichts falsch zu machen.
    Musik: Borzo/Brahms/Koncz, Ungarischer Tanz Nr.1
    "Andreas Ottensamer – Brahms. The Hungarian Connection." Eine CD wie ein Fotoalbum. Gleich Zwölfmal begegnen wir im Booklet dem gut aussehenden jungen Mann, der hier die Klarinette bläst, doch für seine Plattenfirma nicht nur Musiker ist, sondern auch Model. Selbst unter Klassikfans soll es schließlich Menschen geben, die besser sehen können als hören. Ottensamer trifft solch listiges Marketing nicht unvorbereitet. Nimmt man Oberarme und Brustkorb zum Maßstab, muss sich Ottsamers Klarinette schon seit geraumer Zeit die Zuneigung des Musikers teilen mit Hanteln und Rudermaschinen. Doch selbst massiver Bizeps macht nicht notwendigerweise unsensibel und Eitelkeit auch nicht – man denke nur an den bodybuildenden Pianisten Tzimon Barto.
    Ottensamer also sieht blendend aus, er ist fit, er ist jung, er ist ein Künstler wie geschaffen für das Portfolio des Hochglanzlabels Deutsche Grammophon. Das möchte allerdings den neuen Star gleich auch noch zum Musikwissenschaftler promovieren, alldieweil Ottensamer durch "weitreichende Forschungsarbeit", so steht's im Booklet, eine genaue Verbindungslinie ziehen konnte von Brahms zur traditionellen Musik Ungarns.
    Die Mühe allerdings hätte er sich sparen können – das Kapitel Brahms & Ungarn ist längst in aller Ausführlichkeit von anderen geschrieben worden. Nun gut, dann halt Booklet beiseitelegen, Augen schließen und auch nicht an die Fotos in Unterhose denken, die eine Weile vom Klarinettisten im Netz kursierten. Stattdessen Ohren auf und zugehört: Das Fitness-Forschungsmodel Ottensamer nämlich ist ein verdammt guter Musiker.
    Musik: Leo Weiner, Der traurige Hirte
    Wenn "der traurige Hirte" ruft im gleichnamigen Stück des ungarischen Spätromantikers Leo Weiner, sind wir fast schon am Ziel unsere Reise und am Ende der CD. Sie beginnt in Deutschland. 1891 komponiert Johannes Brahms ein großes Quintett für Streicher und Klarinette. Brahms hatte das Komponieren längst aufgegeben, doch als er in Meiningen Richard Mühlfeld spielen hört, macht er sich noch einmal an die Arbeit und schreibt für den Musiker zwei wunderbare Sonaten, ein Trio und das erwähnte Quintett mit der Opuszahl 115.
    Seitdem hat Brahms Generationen von Klarinettisten auf seiner Seite. So könnte man also von einer bequemen Entscheidung sprechen, die Andreas Ottensamer da getroffen hat zum Auftakt seiner zweiten CD. Doch Ottensamer führt etwas Besonderes im Schilde. Er will unsere Aufmerksamkeit auf die angeblich ungarischen Wurzeln von Brahms' Quintett lenken. Und tatsächlich: So frei und fließend, so sentimental und expressiv wie diese Musik hier klingt, fällt es nicht schwer, Ottensamer zu glauben. Vor allem das dramatisch schluchzende Adagio, der zweite Satz, stützt seine These.
    Musik: Brahms, Quintett, II. Adagio
    Von Brahms' Klarinettenquintett über Leo Weiner zu alten Tänzen aus Transsylvanien: Der Weg, den Andreas Ottensamer vorgibt, ist etwas holprig, doch man folgt ihm gerne. Das allerdings liegt nicht allein am attraktiven Reiseleiter. Für sein zweites Album hat der Klarinettist eine tolle Truppe zusammen getrommelt: Der Bratschist Antoine Tamestit ist dabei, der Geiger Leonidas Kavakos, Ödön Racz und Oszkar Ökrös an Kontrabass und Zymbal, der Geiger Christoph Koncz und sein Bruder Stephan Koncz, der als Cellist zugleich Arrangeur ist.
    Alle Stücke des Albums - abgesehen vom Quintett - hat er eingerichtet. Als Ensemble kombinieren die Musiker die technische Souveränität von Profis mit der Leidenschaft einer Kaffeehauskapelle. Das ist fabelhaft in den freieren Arrangements, beim Brahms-Quintett allerdings geht das auf Kosten der inneren Balance.
    Einigkeit herrscht beim Tempo, auch dort, wo sich das Metrum in langen Rubati ganz aufzulösen scheint. Doch die Unebenheiten im Klang verraten, dass hier ein Ad-hoc-Ensemble spielt. Auch der Klarinettenstar Andreas Ottensamer ist nicht davor gefeit, bisweilen aus dem Septett oben herauszuschießen oder unten durchzusacken.
    Hätte man die Zeit fürs Fotoshooting etwas knapper und die für die Proben etwas großzügiger bemessen, hätte man vermutlich noch mehr herausholen können aus dem enormen musikalischen Kapital, das hier versammelt ist. Doch betrifft die Kritik eben vor allem den Ausgangspunkt der Reise, das Quintett von Johannes Brahms, weniger das Ziel, die Musik Ungarns. Andreas Ottensamer und seine Freunde erreichen es gut gelaunt mit arrangierter Tanzmusik aus Transsylvanien. Dass Transsylvanien im heutigen Rumänien liegt, darf uns jetzt auch egal sein.
    Musik: Traditional (Tänze)
    Tänze aus Transsylvanien – traditionelle Musik, eingerichtet von Stephan Koncz für Klarinette, zwei Geigen, Bratsche, Cello, Kontrabass und Zimbal – gespielt von einem Ensemble um den Klarinettisten Andreas Ottensamer. Die neue Platte "Andreas Ottensamer. Brahms. The Hungarian Connection" ist beim Label Deutsche Grammophon erschienen und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.
    Vorgestellte CD:
    Andreas Ottensamer. Brahms. The Hungarian Connection
    Label: Deutsche Grammophon
    Bestellnummer: 0289 481 1409 2 CD DDD GH
    EAN: 00028948114092