Donnerstag, 28. März 2024

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Kammermusikfestival in Lockenhaus
Intensive Töne zum Festival-Geburtstag

Ein kleines Dorf im Burgenland wird einmal im Jahr zum Mekka für Spitzeninterpreten aus ganz Europa: beim Kammermusikfestival Lockenhaus. Geiger Gidon Kremer und Intendant und Cellist Nicolas Altstaedt feiern nun den 40. Geburtstag des Festivals – mit ganz besonderen Aufführungen.

Von Marcus Stäbler | 19.07.2021
Blick auf den Hochaltar und Seitenaltäre der Pfarrkirche Lockenhaus im Burgenland, Österreich.
Viele Aufführungen finden in der barocken Pfarrkirche von Lockenhaus statt - so auch die des Klavierquintetts von Brahms. (picture alliance / Imagebroker)
"Ich war immer ein Vertreter dessen, dass Musik Emotionen sind, Musik spontan entsteht, Musik eine Freiheit braucht. Und diese Freiheit habe ich für mich immer gesucht, sie war mir ein Ziel, immer Neues zu entdecken. Und Lockenhaus war ein wunderbares Pflaster, diese Tendenz zu entwickeln."
So formulierte der Geiger und Festivalgründer Gidon Kremer sein künstlerisches Credo in einer Live-Sendung des österreichischen Rundfunks aus Lockenhaus am 10. Juli.
Diese Haltung prägt das Festival bis heute, auch unter Kremers Nachfolger Nicolas Altstaedt. Das war bei der Ausgabe zum 40-jährigen Bestehen deutlich zu spüren. Etwa in einer mitreißenden Aufführung des Klavierquintetts von Brahms in der barocken Pfarrkirche von Lockenhaus.

Lust an der Spontaneität in der Musik

Intendant Nicolas Altstaedt selbst am Cello spielte hier mit einem Ensemble um den Geiger Ilya Gringolts und den Pianisten Alexander Lonquich, das in dieser Konstellation erst kurzfristig zusammengekommen war. Aber davon ließen sich die Interpreten nicht verunsichern, im Gegenteil: Aus der Spannung des Moments entzündete das Quintett eine glühende Leidenschaft.
"Ich suche Leute aus, die sich kennen und die einander vertrauen, und dann können die besten Konzerte manchmal zustande kommen, wenn man zu wenig geprobt hat. Dann fährt man auf derselben Straße in dieselbe Richtung und dann geht’s ab!"
Die Lust an der Spontaneität offenbart sich in Lockenhaus nicht nur in Ad-Hoc-Ensembles aus Musikerinnen und Musikern der Spitzenklasse, sondern auch bei den festen Formationen. Großartig etwa, wie das Trio Gaspard dem Witz von Joseph Haydn nachspürt. Oder wie das kürzlich umformierte Kelemen Quartett die Partituren von Béla Bartók durchleuchtet und dabei zugleich wunderbar kraftvoll und feurig spielt. Vashti Hunter, die neue Cellistin des Kelemen Quartetts, schwärmt von der intensiven Beschäftigung.
"Wir haben fünf Monate in Budapest gelebt und die Quartette einstudiert. Es war eine großartige Erfahrung. Und jetzt haben wir diese absolut erstaunlichen Stücke unter unseren Fingern!"

Sinneserwachen nach coronabedinger Pause

Die auf mehrere Tage verteilte Aufführung aller sechs Bartók-Quartette mit dem Kelemen Quartett waren ein Herzstück des Festivals und gehörten zu den packenden Höhepunkten. Auch, weil sich da eine lange aufgestaute Energie entlud, wie Nicolas Altstaedt bestätigt.
"Was überwiegt, ist die Spielfreude, das Lechzen und das Verlangen nach wieder spielen, das auf jeden Fall."
"Sinneserwachen". So hatte Altstaedt das diesjährige Festival überschrieben und damit nicht zuviel versprochen. Nach der coronabedingten Stille weckten er und seine Kolleginnen und Kollegen das Publikum mit einer überwältigenden Vielfalt an Eindrücken aus der Zwangspause.
In bis zu vier Konzerten pro Tag erlebten die getesteten, geimpften oder genesenen Besucher – nach den Lockerungen in Österreich ohne Maske und trotzdem nahe beieinandersitzend – den für Lockenhaus so typischen Mix, aus frischen Interpretationen von Kammermusik-Klassikern und viel unbekannter und Neuer Musik.
Der Cellist und Intendant des Lockenhaus-Festivals Nicolas Altstaedt
Cellist und Intendant des Lockenhaus-Festivals: Nicolas Altstaedt (Marco Borggreve)

Darunter ein Percussion-Stück von Michio Kitazume, fantastisch gespielt vom Schlagwerker Johannes Fischer – und ein Cellokonzert von der Schweizer Komponistin Helena Winkelman, mit dem Titel "Atlas", 2019 für Nicolas Altstaedt geschrieben.
"Atlas ist ein sehr, sehr massives Stück und wirklich am Anfang mit tiefen Bässen, die der Nicolas fast einzigartig unter den Cellisten bringen kann. Und ich schreibe schon sehr stark für die Solisten, für die ich schreibe. Und Nicolas hat gewisse Qualitäten, die ich so kaum je woanders fand."

Der besondere Geist des Festivals - die familiäre Stimmung

Das Ausnahmeniveau vieler Aufführungen ist von der besonderen Atmosphäre in Lockenhaus inspiriert. Von der ländlichen Idylle des Dorfes, in dem sich die Kreativität ohne den Lärm der Großstadt entfalten kann. Und von einem auffallend freundschaftlichen Klima. Viele Besucher sind treue Stammgäste, teilweise seit Jahrzehnten. Die Künstlerinnen und Künstler kommen nach wie vor ohne Gage ins Burgenland und reisen oft für mehrere Tage an. Nicht nur um selbst zu proben und aufzutreten, sondern auch um sich auszutauschen. Sehr zur Freude des Intendanten Nicolas Altstaedt:
"Was ich wirklich schön finde ist, dass alle immer darauf bestehen, die Konzerte zu hören!"
Manche Musikerinnen und Musiker sitzen mit ihren Kindern auf dem Schoß auf der Empore der barocken Pfarrkirche, um den Auftritten der Kollegen zu lauschen. Ein schönes Bild für den besonderen Geist des Festivals. Diese familiäre Nestwärme war auch bei der Rückkehr von großen Interpreten zu spüren, die die Anfangszeit von Lockenhaus geprägt haben, und die jetzt den vierzigsten Geburtstag mitfeierten.
Natürlich der Gründer Gidon Kremer selbst, mit seinem Kammerorchester, der Kremerata Baltica. Der Oboist Heinz Holliger. Und der Pianist András Schiff, mit zwei verschiedenen Solo-Recitals direkt hintereinander und der Interpretation von Schuberts "Reliquien"-Sonate als besonders ergreifendem Erlebnis.
"Die ganze Musik ist über den Tod. Aber bei Schubert ist der Tod kein Feind, sondern eher ein lieber Freund, der uns erlöst."
In so einem vertrauten Zwiegespräch entsteht eine persönliche, beinahe intime Verbindung zwischen Interpret und Publikum, wie sie anderswo kaum möglich ist. Mit dieser ungewöhnlichen Nähe, mit den kostbaren Begegnungen und dem künstlerischen Ausnahmerang, bleibt Lockenhaus auch im vierzigsten Jahr seines Bestehens ein einzigartiger Ort in der Festivallandschaft.