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Kampf gegen Diskriminierung
Anonymisierte Bewerbung in der Diskussion

Das Land NRW schafft die anonymisierte Bewerbung wieder ab. Es bekämpfe nicht die Ursachen von Diskriminierung, sagt Serap Güler vom NRW-Integrationsministerium im Streitgespräch. Christine Lüders von der Antidiskriminierungsstelle hält dagegen: So schafften es erwiesenermaßen mehr Migranten in die zweite Auswahlrunde.

Serap Güler und Christine Lüders im Gespräch mit Sandra Pfister | 20.07.2017
    Vordruck für eine anonyme Bewerbung ohne Foto, Name und Alter
    Muss der Personaler seine Vorurteile selbst im Griff haben, wenn hier nicht "Adelheid" steht? Oder sollte hier am besten gar nichts stehen? Zwei Staatsbedienstete im Streitgespräch. (dpa / picture alliance / Jens Büttner)
    Sandra Pfister: In den Spitzenorchestern in Amerika saßen jahrelang fast nur Männer. Die Frauen, die scheiterten immer am Vorspiel. Das hat sich erst geändert, als das Symphonieorchester in Boston auf die Idee kam, die Bewerber und Bewerberinnen hinter einem Vorhang vorspielen zu lassen. In den 70er-Jahren war das. Danach stieg der Anteil der Frauen auf fast 40 Prozent, weil viele Orchester merkten: Sie lassen sich sonst Talente entgehen. Der Vorhang, der das Geschlecht, der das Alter oder der die Herkunft unsichtbar macht, das wäre in einem normalen Bewerbungsverfahren erst einmal die anonyme Bewerbung – ohne Namen, ohne Geburtsdatum, ohne Geburtsort und ohne Nationalität. Diese Art von Bewerbung wurde seit fünf Jahren in einigen Landesbehörden in Nordrhein-Westfalen getestet. Sie galt als besonders fortschrittlich, aber jetzt will die Regierung in Nordrhein-Westfalen die anonyme Bewerbung wieder abschaffen. Dafür ist Serap Güler, Staatssekretärin im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium, und dagegen ist Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Frau Güler, erst einmal Sie: Warum wollen Sie die anonyme Bewerbung abschaffen?
    Serap Güler: Es ist nicht unbedingt bewiesen, dass das anonymisierte Bewerbungsverfahren, was als Pilotprojekt von der führenden Landesregierung gestartet wurde, dass es da einen kausalen Zusammenhang gab, dass das anonymisierte Bewerbungsverfahren und der Anstieg der Zahl der Beschäftigten mit Einwanderungsgeschichte, dass man da einen kausalen Zusammenhang herstellen konnte. Was die freie Wirtschaft macht, ist ihr Ding, aber ich möchte, dass sich jeder bei uns im öffentlichen Dienst bewerben kann, ohne das Alter, das Geschlecht, die Herkunft oder auch die Behinderung verstecken zu müssen. Wenn es eine Diskriminierung tatsächlich von Seiten des öffentlichen Dienstes gibt, dann ist erst mal nur die erste Hürde überwunden, aber im Vorstellungsgespräch wird man trotzdem scheitern, weil sich in den Kopf der Menschen nichts ändert, in dem Kopf der Personaler, und da müssen wir viel stärker bei uns selbst im Öffentlichen Dienst ansetzen, indem wir diejenigen, die sich mit den Personaleinstellungen beschäftigen, schulen und auf das Thema sensibilisieren.
    Abschaffung gegen den Trend der Forschung, sagt Lüders
    Pfister: Also Sie sagen, wer diskriminieren will, der kann das auch immer noch in der zweiten Runde tun. Frau Lüders, Sie entgegnen, das ist eine Rolle rückwärts, Sie haben es mal so schön gesagt: ins analoge Bewerbungsmittelalter. Warum?
    Christine Lüders: Also erstens, Onlineverfahren sind heute Standard, und im weltweiten Vergleich sind Bewerbungen, zu denen NRW jetzt wieder zurück will, gnadenlos veraltet, und genau deshalb stellt beispielsweise jetzt die Berliner Verwaltung komplett auf anonymisierte Verfahren um, und genau deshalb hat Siemens, ein Weltkonzern, gerade den Verzicht auf Fotos zum Standard gemacht. Das ist ja was sehr Emotionales, und genau deshalb empfiehlt das wissenschaftliche Zentralorgan der Arbeitgeber, "Recht der Arbeit", nämlich anonymisierte Bewerbungsverfahren in der neuesten Ausgabe als Erfolgsfaktor. Auf welche Analyse gründet sich jetzt eigentlich die Debatte, die anonymisierten Verfahren abschaffen zu müssen? Es gibt doch gar keine Evaluierungen dieses ganzen Verfahrens. Und ich muss noch mal eines ganz, ganz deutlich sagen: In anonymisierten Bewerbungsverfahren muss sich ja niemand verstecken. Im Gegenteil: Also, das erhöht die Chancen für Migranten, überhaupt zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, und hier können sie zeigen und mit ihrer Qualifikation überzeugen. Das ist ganz sicher belegt, dass Migranten und Frauen beispielsweise sehr viel höhere Chancen haben, überhaupt zu einem Gespräch eingeladen zu werden.
    Auswertung stellte keinen Zusammenhang her, sagt Güler
    Pfister: Frau Güler, der Ball liegt bei Ihnen.
    Güler: Also das ist gerade ein bisschen Polemik, was Frau Lüders betreibt. Frau Lüders hat das Beispiel Siemens genannt. Ich kann das Beispiel die Deutsche Post oder Deutsche Telekom nennen, die von dem Bewerbungsverfahren, dem anonymisierten Bewerbungsverfahren wieder abgerückt sind, weil sie gesagt haben, es hat uns nicht geschadet, es hat uns aber auch nichts genutzt. Also von daher gibt es da auch in der freien Wirtschaft durchaus unterschiedliche Positionen.
    Pfister: Aber das sind Fallbeispiele. Frau Lüders fragte nach Evaluierungen und nach Beweisen dafür, dass es nicht hilft.
    Güler: Auch da hätte ich gedacht, dass Frau Lüders eigentlich darüber informiert ist, dass die Landesregierung nach der Pilotphase eine Bewertung dieses Projektes vorgenommen hat, und aus dieser Bewertung hatte ich auch gerade zitiert: Es konnte kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden. Wir als Landesregierung haben eine Verantwortung zu dem öffentlichen Dienst, und wir möchte dan ansetzen, dass wir sagen, wenn es diese Diskriminierung gibt, dann müssen wir bei den Personalern ansetzen – noch mal – und nicht bei den Menschen, die diese Vielfalt mitbringen, bis sie überhaupt zum Vorstellungsgespräch im öffentlichen Dienst eingeladen werden, aber ich persönliche finde es wichtig, sich mit Namen vorzustellen. Das ist ein Teil der Identität, und diese Identitätsverschleierung, die die anonymisierte Bewerbung nun mal mit sich bringt, ist etwas, was die Landesregierung in dem Bereich, wo sie die direkte Verantwortung trägt, sprich im öffentlichen Dienst, nicht noch fördern.
    Anonymisierung überbrücke Vorurteile, sagt Lüders
    Lüders: Da muss ich jetzt einfach mal was sagen: Die größten Diskriminierungspotenziale für Bewerbende lauern im ersten Schritt, und hier, genau hier werden Bewerbende wegsortiert, weil die unterbewussten Vorurteile greifen, und wer sagt, Diskriminierung werde in die zweite Runde verschoben, der unterstellt ja deutschen Personalverantwortlichen, sie würden vorsätzlich diskriminieren, und das genau zeigen und belegen wissenschaftliche Studien, und schauen Sie mal: Es gab jetzt gerade eine große Wohnungsmarktstudie, wo klar belegt wurde, dass Menschen mit einem andersklingenden Namen keine Chance auf eine Wohnung haben. Das war eine umfassende, umfangreiche Studie, und eines muss man doch mal sagen: Die Kommunen, die mit diesem System arbeiten, erschließen sich ganz neue Bewerbungspotenziale, denn dort in der Kommune hat sich vorher nicht ein Migrant getraut, überhaupt sich zu bewerben, und die Kommune Celle, die das sehr gut praktiziert, erzählte uns, dass sie plötzlich viel mehr Migranten haben, weil die sagen, ach, wir haben ja gedacht, das ist Klüngelwirtschaft, und die werden ja sowieso alle vorher vergeben. Also, das muss man eigentlich auch mal ganz, ganz klar sehen.
    Güler: Ich bin gar nicht diejenige, die den Personalern unterstellt, sie seien so diskriminierend. Ich finde, das sind Sie, indem Sie sagen, auch im Öffentlichen Dienst macht das anonymisierte Bewerbungsverfahren Sinn. Ich sage, wenn es diese Diskriminierung gibt, dann müssen wir an unseren Personalern arbeiten, dann müssen wir die Ursache bekämpfen und nicht das Symptom erst mal aus der Welt schaffen und sagen, okay, dann kommen sie wenigstens bis zur Bewerbungsrunde, weil wenn derjenige, der über dies Personal entscheidet, ein Problem mit Frauen, Migranten oder Älteren hat, dann wird sich das auch im Bewerbungsgespräch nicht absetzen, zumindest, wenn das bei ihm fest verankert ist.
    Kein Bewerber soll Namen verstecken müssen, sagt Güler
    Deshalb müssen wir in den eigenen Reihen arbeiten und nicht von Menschen verlangen, dass sie, bis sie zu dieser Vorstellungsrunde überhaupt kommen, erst mal irgendetwas verschleiern. Und gerade als Mensch mit Migrationsgeschichte erweckt es bei mir den Eindruck, und das ist auch das, was ich von vielen Migranten im Rahmen des Pilotprojekts in Nordrhein-Westfalen als Feedback bekommen habe, dass viele sagten, in so einem Land wie Nordrhein-Westfalen muss ich mich jetzt schon anonym bewerben, um überhaupt zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Ich möchte nicht, dass sich die Menschen verändern beziehungsweise die Menschen erst mal anonymisieren, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Ich möchte an dem System was verändern.
    Lüders: Also, ich möchte die Debatte einmal ein bisschen versachlichen. Wir müssen hier mal bei wissenschaftlichen Standards bleiben, und da gibt es ganz klare Untersuchungen, das haben Sie ganz sicher auch schon gehört: unconscious bias. Das sind genau diese unbewussten Vorurteile, die Menschen haben, und dieser unconscious bias ist genau da, der lauert bei Bewerbenden im ersten Schritt der Bewerbung, und genau deshalb – und das ist erwiesen – sind so viele Menschen abgelehnt worden, und hier muss sich keiner verstecken. Im Gegenteil: Die Migranten können sich präsentieren, wenn sie sich vorher nicht präsentieren konnten. Ich halte es für einen großen Fehler, Migranten nicht mehr Chancen zu geben, denn sie haben erwiesenermaßen – das ist wissenschaftlich belegt – mehr Chancen mit diesem Verfahren, und bedaure es sehr, dass aufgrund von Untersuchungen, die ich nie gesehen habe, schade, diese Sache nun abgeschafft werden soll in Nordrhein-Westfalen. Das ist schade und macht auch wieder den Weg für mehr Klüngelei frei.
    Ein Phänomen, zwei Schlussfolgerungen
    Güler: Und da unterscheiden wir uns grundsätzlich: Ich will an die Ursache ran, ich will, dass sich jeder in einem Land wie Nordrhein-Westfalen mit seinem Namen öffentlich im öffentlichen Dienst bewerben kann.
    Lüders: Ich möchte, dass alle Menschen gleiche Chancen haben. Die haben sie definitiv mit dem anonymisierten Bewerbungsverfahren, ja, weil es wissenschaftlich belegt ist, und ich möchte niemanden dazu zwingen, dieses Verfahren anzuwenden, aber ich hätte mir gewünscht von einer Landesregierung, die den Schwerpunkt auf Integration und gegen Diskriminierung legt, dass sie ein Verfahren sucht, wo Migranten mehr Chancen haben.
    Pfister: Nordrhein-Westfalen macht Schluss mit anonymen Bewerbungen im öffentlichen Dienst. Serap Güler, die Staatssekretärin im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium, hat sich gestritten darüber mit Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Danke an Sie beide!
    Güler: Danke!
    Lüders: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.