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Kampf gegen IS
"Es gibt Ausnahmesituationen, wo Krieg das letzte Mittel ist"

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir befürwortet die französische Bitte um militärischen Beistand im Kampf gegen den Terror. Es sei gut, dass die Europäische Union angesprochen werde, sagte Özdemir im Deutschlandfunk. Dies beende den Zustand, dass jedes Land eine eigene Privatstrategie entwickle.

Cem Özdemir im Gespräch mit Christine Heuer | 17.11.2015
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir (picture alliance / dpa / Nicolas Armer)
    Es gehe darum, Frankreich zu entlasten - zum Beispiel in Mali. Zugleich forderte Özdemir die Bundesregierung auf, die kurdischen Peschmerga im Kampf gegen die IS-Milizen in Syrien militärisch stärker zu unterstützen. Die Entsendung von eigenen Bodentruppen lehnte der Grünen-Vorsitzende allerdings ab. Dies würde noch mehr IS-Anhänger mobilisieren. Sollte Deutschland technisch die Möglichkeit haben, Luftangriffe gegen IS-Stellungen in Syrien zu fliegen, hätte er nichts dagegen, wenn die Bundeswehr sich daran beteiligen würden.
    Es gebe Ausnahmesituationen, in denen der Krieg das letzte Mittel sei, um noch schlimmere Kriege zu verhindern. Das sei im Irak und Syrien der Fall. Man könne nicht mit dem IS verhandeln, sondern sich militärisch damit auseinandersetzen.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Frankreichs Regierung hat das Wort ausgesprochen, mit dem alle gerechnet haben. Nach den Paris-Anschlägen bittet die französische Regierung die EU-Mitgliedsstaaten auf Basis des EU-Vertrags um Beistand.
    In Brüssel beraten heute die EU-Verteidigungsminister. Nachdem Frankreich sich erklärt und um Beistand gebeten hat, geht es natürlich darum, wie man diesen Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags erfüllen kann, auf den die französische Regierung sich beruft.
    Am Telefon begrüße ich Cem Özdemir, den Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Tag.
    Cem Özdemir: Hallo! Guten Tag, Frau Heuer.
    Heuer: Herr Özdemir, Frankreich bittet um Beistand, auch um militärischen Beistand. Was soll Deutschland denn beitragen aus Ihrer Sicht?
    Özdemir: Erst mal ist es gut, dass wir als Europäische Union angesprochen sind, denn das beendet den Zustand, dass jedes Land eine eigene Privatstrategie entwickelt. Denn wir werden dieser Herausforderung nicht begegnen, wenn wir es nicht schaffen, als Europäische Union gemeinsam zu antworten. Ich glaube, es geht erst mal darum, wie in Ihrem Beitrag ja zu hören war, Frankreich zu entlasten, beispielsweise in Mali. Es geht sicherlich auch um eine verstärkte geheimdienstliche Zusammenarbeit. Das steht jetzt auf der Tagesordnung. Alles weitere werden wir sehen, wenn sich die Verteidigungsminister getroffen haben.
    Heuer: Dann verstehe ich Sie richtig: Deutschland hält sich mal wieder raus und Sie finden das auch richtig, aus dem eigentlichen Konflikt, der ja in Syrien spielt?
    Özdemir: Ganz im Gegenteil! Sie wissen, dass ich von Anfang an der Meinung war, dass man die Kurden unterstützen muss, auch militärisch unterstützen muss, die Peschmerga in ihrem Kampf gegen die ISIS, weil sie die erfolgreichsten sind. Es geht jetzt nicht darum, dass Bodentruppen dorthin entsandt werden. Die würden wahrscheinlich den Konflikt eher noch verschärfen, weil das ist, was ISIS möchte. ISIS möchte uns da hineinverwickeln mit Bodentruppen. Das würde wahrscheinlich eher dazu führen, dass ISIS dann noch mehr Kämpfer mobilisieren würde. Aber die, die dort kämpfen und sehr erfolgreich kämpfen, jüngst beispielsweise Sindschar befreit haben, die müssen wir unterstützen. Darüber muss auch mit der Türkei gesprochen werden, weil die Türkei schwächt genau diese Kurden.
    Heuer: Herr Özdemir, Sie haben gerade selber darauf angespielt. Sie haben zu Beginn, als in Deutschland über Waffenlieferungen an die Peschmerga diskutiert wurde, gesagt, so einen Krieg, den gewinnt man nicht mit der Yogamatte unterm Arm. Wir haben ihn aber auch mit den Waffen an die Peschmerga bislang nicht gewinnen können. Sollte Deutschland sich nicht an Luftangriffen beteiligen?
    "Wahhabismus als Quelle dieser gefährlichen Dinge"
    Özdemir: Das ging bislang nicht nach Auskunft der Bundesregierung, weil wir dazu nicht in der Lage sind. Das müssen Sie die Bundesregierung, die Verteidigungsministerin fragen, ob wir dazu in der Lage sind.
    Heuer: Die fragen wir gerne auch, ja.
    Özdemir: Aber klar ist jedenfalls: Deutschland ist Teil der Allianz und muss seinen Beitrag dazu leisten, ISIS zu bekämpfen. Da geht es um finanzielle, politische, aber auch die militärische Komponente. In all diesen Feldern kann und muss man deutlich mehr machen. ISIS muss militärisch besiegt werden. Das werden wir aber nicht schaffen, solange die ideologischen Grundlagen von ISIS nicht beseitigt sind, und da führt die Spur nach Saudi-Arabien, in die Golf-Staaten. Die Ideologie des Wahhabismus ist die Quelle für all diese gefährlichen Dinge, die ja auch bis nach Deutschland sich auswirken in Form von Salafismus. Dieses Tabu der westlichen Politik, das muss angesprochen werden. Man kann nicht einerseits enger Bündnispartner sein von Saudi-Arabien und andererseits sich über Terrorismus islamistischen Hintergrunds beklagen. Über diese Themen muss man endlich sprechen, anstatt dass man Waffen nach Katar oder Saudi-Arabien liefert, wo dann der Jemen dem Erdboden gleichgemacht wird.
    Heuer: Gut. Das ist der Appell an die Bundesregierung auf diplomatischer Ebene. Ich möchte trotzdem noch mal kurz auf die Luftangriffe zurückkommen, Herr Özdemir. Sie sagen, die Bundesregierung sagt das auch, die Bundeswehr ist nicht in der Lage zu diesen Luftangriffen. Wäre sie es, wären Sie dafür, dass wir uns beteiligen?
    Özdemir: Meine Partei und ich waren ja auch für den Einsatz in Afghanistan. Insofern ist es völlig klar: Es gibt bestimmte Ausnahmesituationen, wo man mit anderen Mitteln nicht vorankommt und wo der Krieg das letzte Mittel ist, um einen noch schlimmeren Krieg zu verhindern. Das ist im Irak und in Syrien der Fall. ISIS, mit denen kann man nicht verhandeln. Worüber denn? Über die Zahl der Frauen, die entführt werden? Über die Zahl der Menschen, die gekreuzigt werden, enthauptet werden? Mit ISIS kann man nur sich militärisch auseinandersetzen. Das geschieht bereits und die, die das erfolgreich machen - ich sage es nochmals -, die müssen wir unterstützen. Es ist doch geradezu absurd, dass wir die Kurden unterstützen, gleichzeitig Frau Merkel zu Herrn Erdogan reist, der G20-Gipfel in der Türkei stattfindet und man mit der Türkei nicht darüber spricht, dass die Türkei den Kampf gegen ISIS schwächt.
    "Der Krieg findet jeden Tag in Syrien, Irak und Libyen statt"
    Heuer: Lassen wir uns mit den falschen Gesprächspartnern ein aus lauter Angst vor ISIS und vielleicht auch aus einer Überforderung heraus, weil dieses Problem schlicht und einfach gar nicht zu lösen ist?
    Özdemir: Nein! Wir unterstützen Befürworter und Gegner gleichzeitig. Die Strategie des Westens ist nicht zu erkennen und dadurch macht er sich unglaubwürdig bei vielen Muslimen in der Welt, bei vielen Menschen der arabischen Halbinsel. Wie gesagt: Als König Abdallah gestorben ist, haben sich in Saudi-Arabien alle westlichen Politiker die Klinke in die Hand gegeben. Jetzt, wo in Paris schreckliche terroristische Angriffe stattgefunden haben, trauern wir zurecht gemeinsam. In Beirut hat das Ganze vor wenigen Tagen stattgefunden; da habe ich wenig drüber gehört und gelesen. In Afghanistan sind sieben Hazara von der schiitischen Minderheit enthauptet worden, darunter ein kleines Kind, allein deshalb, weil sie der falschen Konfession im Islam angehören. Der Krieg hat nicht erst begonnen, seit in Paris der Terrorangriff stattgefunden hat; er findet jeden Tag in Syrien, im Irak statt, in Libyen statt und wir müssen endlich realisieren, welchen Beitrag wir leisten können, um das zu stoppen. Dazu gehört beispielsweise, Klartext mit der Türkei reden. Dazu gehört, dass man Saudi-Arabien, Katar und den Golf-Staaten erklärt, dass wir nicht länger bereit sind, wenn der Dschihadismus von dort gefördert wird, das zu akzeptieren.
    Heuer: Ihre Botschaft ist angekommen, Herr Özdemir. Trotzdem noch einmal die Nachfrage: Wenn Deutschland sich in der Lage sähe, technisch in der Lage sähe, Luftangriffe auf den IS zu fliegen, in Syrien und vielleicht im Irak, dann sagen Sie für die Grünen ja, dann machen wir das?
    Özdemir: Dann wäre ich nicht dagegen, genauso wie ich gesagt habe, dass ich der Meinung bin, dass man die Kurden unterstützen muss, auch militärisch in ihrem Kampf gegen ISIS. Je länger der Krieg dort dauert, umso mehr Menschen müssen fliehen, umso schlimmere Menschenrechtsverletzungen passieren dort.
    Heuer: Sie sagen, man muss den sogenannten Islamischen Staat militärisch bekämpfen, man muss diplomatisch die Daumenschrauben anziehen bei denen, die dann heimlich oder offen unterstützen. Am Freitag, kurz vor den Anschlägen in Paris, da hat die Koalition schärfere BND-Gesetze angekündigt, will also den Auslandsgeheimdienst besser kontrollieren und auch in seinen Möglichkeiten einschränken. Zeigt das nicht auch diese zeitliche Koinzidenz, dass das genau die falsche Politik ist?
    Özdemir: Nein, mit Sicherheit nicht, denn der Bundesnachrichtendienst muss sich an die Gesetze halten. Das ist ja nun gerade das, was den Westen ausmacht, dass wir Rechtsstaaten sind, dass wir Demokratien sind, und ich glaube nicht, dass unser Problem ist, dass wir zu wenig Sicherheitsgesetze haben. Ich glaube, niemand von uns beiden kennt die Zahl der Sicherheitsgesetze, die erlassen worden sind, seit wir uns mit terroristischen Angriffen zu beschäftigen haben. Das scheint nicht das Problem zu sein. Frankreich hat deutlich schärfere Gesetze und konnte trotzdem diese terroristischen Angriffe nicht verhindern. Wenn wir was brauchen, dann ist es eine ausreichende Zahl von Polizisten, die angemessen ausgestattet sind. Das kostet viel Geld, aber bringt mehr.
    "Wir brauchen ausreichend Polizeibeamte"
    Heuer: Aber, Herr Özdemir, genau aus der Polizei kommt ja Kritik daran. Die Gewerkschaft der Polizei sagt, wir dürfen nicht die Geheimdienste schwächen, wir brauchen eine längere Vorratsdatenspeicherung als die Frist, zu der sich die Deutschen verständigen konnten. Müsste man an der Stelle nicht wieder etwas großzügiger werden, um Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus zu erzielen, der ja nun tatsächlich in Europa, mitten in Europa angekommen ist und von dem es so aussieht, als würde er sich dort auch halten?
    Özdemir: Die Vorratsdatenspeicherung, von der Sie sprechen, die gibt es in Frankreich, und wir hatten Charlie Hebdo und wir haben jetzt diese schrecklichen terroristischen Angriffe. Das Argument scheint mir eher ein Recycling von Textbausteinen von früher zu sein. Das scheint mir etwas unangemessen dem Ernst der Situation zu sein. Was wir brauchen ist tatsächlich ausreichend Polizeibeamte, damit wir die vielen Daten, die wir ja bereits haben, auch auswerten können. Was nützt es uns, dass wir riesige Datenberge haben, aber die nicht vernünftig koordiniert bekommen. Und in Frankreich haben wir ja auch gesehen: Unser eigentliches Problem ist der sogenannte homegrown terrorism. Also müssen wir verhindern, dass Jugendliche sich unserer Gesellschaft entfremden und den Dschihadisten anschließen. Das ist im Prinzip ein ähnliches Phänomen wie Jugendliche, die dann später zu Rechtsradikalen mutieren. Die Motive sind ziemlich ähnlich. Jugendliche, die nach ganz rechts oder zu den Islamisten mutieren, das ist unser Problem. Darum müssen wir uns kümmern. Da helfen uns keine neuen Sicherheitsgesetze, sondern das ist anstrengend. Das ist Integration, das ist der Versuch mitzubekommen, wenn Jugendliche sich verändern. Dafür brauchen wir die Moscheen, dafür müssen wir aber auch wissen, was im Internet passiert.
    Heuer: Herr Özdemir, wie besorgt sind Sie darüber, dass es bald auch einen Anschlag in Deutschland geben kann?
    Özdemir: Ich glaube, darüber spekulieren verbietet sich. Aber natürlich kann …
    Heuer: Darüber spekulieren aber viele Deutsche. Deshalb stelle ich Ihnen diese Frage. Die Bürger fragen sich das ja auch.
    Özdemir: Darüber kann ich nichts sagen, weil mir darüber keine Erkenntnisse vorliegen. Aber ich weiß, dass wir eine sehr, sehr gute Polizei haben, die schon viele terroristischen Angriffe Gott sei Dank verhindert hat. Wir müssen hoffen, dass sie jedes Mal eine Nasenlänge schneller sind als die potenziellen Terroristen. Zugleich müssen wir alles dafür tun, damit sich niemand diesen Terrorbanden anschließt und damit wir die, die es gibt, die sich denen angeschlossen haben, dingfest machen. Das ist unser Job, dafür sind wir beauftragt und da muss jeder das tun, was in seiner Macht steht.
    Heuer: Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Özdemir.
    Özdemir: Gerne!
    Heuer: Schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.