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Kampf um den eigenen Stil

Für viele deutschen Autoren ist Raymond Carver ein Idol. Nun kann man auch auf Deutsch nachlesen, worüber in den USA schon seit Jahren geraunt und schließlich Klarheit geschaffen wurde: Dass es gar nicht Raymond Carver war, der seinen spektakulär verknappten Stil erfunden hat, sondern sein Lektor Gordon Lish.

Von Eberhard Falcke | 05.09.2012
    Eines ist gewiss: Der Zauber wirkt, so oder so. Die menschlichen Beziehungen, Gefühle und Stimmungen in der Welt des Raymond Carver sind ergreifend und unverwechselbar, gleich ob ihre Darstellung nun besonders lakonisch daherkommt oder um einiges wortreicher. Trotzdem steckt in diesen unterschiedlichen Stilkonzepten natürlich eine Differenz, die zählt, auch wenn die literarische Qualität weder im einen noch im anderen Falle infrage steht. Denn am 8. Juli 1980 war offenbar der Punkt erreicht, an dem die bis dahin harmonische Zusammenarbeit zwischen dem Schriftsteller und seinem Lektor einer gewaltigen Erschütterung ausgesetzt wurde. Die Änderungen und Kürzungen seiner neuesten Erzählungen hatten Carver den Schlaf geraubt und er schrieb in aller Frühe an Gordon Lish:

    Du bist unglaublich, ein Genie, ganz ohne Zweifel. Schon jetzt hast Du mir in gewissem Sinne Unsterblichkeit verliehen. Aus so vielen Geschichten in diesem Band hast Du etwas Besseres gemacht. Und wenn ich allein wäre, ganz für mich, vielleicht könn¬te ich mich dann mit Deinen Versionen anfreunden und Dir freie Hand lassen. Aber Tess hat sie alle gesehen und genau gelesen. Donald Hall hat viele von den neuen Geschichten gesehen und Richard Ford, Tobias Wolff, Geoffrey Wolff auch ... Wie kann ich die¬sen Leuten erklären, was in der Zwischenzeit passiert ist, wenn das Buch einmal veröffentlicht ist?
    Carvers minimalistischer Stil in seinen ersten Erzählbänden ging in der Hauptsache auf die Streichungen und Straffungen seines Entdeckers und Lektors Gordon Lish zurück. Der Schriftsteller war es zufrieden, weil er die Hilfe, die ihm damit zuteilwurde, bitter nötig hatte. Und es war keineswegs Undankbarkeit, als er sich eines Tages dann doch gegen die gravierenden Lektoratseingriffe, denen mal zwanzig, mal vierzig, manchmal sogar achtzig Prozent seiner Texte zum Opfer fielen, zu sträuben begann. Nein, es waren vor allem zwei neue Instanzen, die zu dem übermächtigen Einfluss von Gordon Lish in Konkurrenz traten. Zum einen war das Carvers zweite Frau, die Dichterin Tess Gallagher. Und zum anderen war das Carver selbst, der ein stabileres Selbstbewusstsein gewonnen hatte, nachdem es ihm gelungen war, sein Elend aus lausigen Jobs, Alkoholismus und wachsender Verzweiflung zu überwinden.

    Im Juli 1980 allerdings gab er trotz seines Brandbriefes noch einmal klein bei. Der Erzählband erschien so, wie der Lektor ihn geformt hatte. Die Titelgeschichte hieß nicht "Beginners", wie um Urtext, sondern "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden", und Carver wurde von der Kritik für eine Kunst gefeiert, die er nicht mehr ganz als seine eigene betrachten konnte.

    Zumindest posthum wird diese Kränkung nun wettgemacht, durchaus in Übereinstimmung mit dem Willen Carvers, der Tess Gallagher versprochen hatte, seine Geschichten würden eines Tages in ungekürzter Fassung erscheinen. Nun liegt "Beginners" mit dem etwas knalligen Untertitel "Uncut - Die Originalfassung" vor. William L. Stull und Maureen P. Caroll haben den Band herausgegeben und auch die einschlägigen Carver-Briefe an Gordon Lish mit aufgenommen. Da fragt sich der Leser natürlich beunruhigt: Geht das denn? Läuft das nicht einfach auf eine Demontage hinaus, auf die des Autors oder die des Lektors? Und welcher Stil soll nun künftig als der maßgebliche gelten, die Autorenvariante oder das Lektoratsdesign?
    Ein Beispiel: In der ungekürzten Fassung von "Beginners" findet sich die folgende Passage:

    "Was wissen wir schon über die Liebe?«, sagte Herb. "Und ich meine das ziemlich ernst, was ich sage, wenn ihr mir das zugestehen wollt. Also mir kommt es vor, als ob wir alle blutige Anfänger auf dem Gebiet sind. Wir sagen, dass wir uns lieben, und wir tun es auch, kein Zweifel. Wir lieben uns, wir lieben uns sehr, wir alle. Ich liebe Terri, und Terri liebt mich, und ihr beide liebt euch auch. Ihr wisst schon, was ich meine, wenn ich Liebe sage. "

    Abgesehen von der Änderung des Figurennamens von Herb zu Mel hat Gordon Lish hier zwei Sätze gestrichen: "Und ich meine das ziemlich ernst, was ich sage ... sowie: Wir lieben uns, wir lieben uns sehr, wir alle." Das sind Bekräftigungssätze, ohne die der Text straffer, weniger redselig wirkt. Die wirklich umfangreichen Kürzungen jedoch betreffen das Ausmalen von Situationen, Abschweifungen oder ganze Binnengeschichten, in denen das Thema noch einmal von einer anderen Seite beleuchtet wird.

    Lish hat alles eliminiert, was vorwiegend auf Erklärungen, Psychologie, Vorgeschichten, Augenblicksatmosphäre oder die sprachliche Widerspiegelung von Unsicherheit hinausläuft. Dadurch wirkt der Text gehärtet, kälter, unbarmherziger, methodischer und deshalb moderner. In Carvers Versionen dagegen treten die Mühen und Schlacken des Existenzkampfes in ihrer Unfertigkeit viel deutlicher hervor, die Suche, die Zweifel, die herbeigeredeten Hoffnungen, die ausgesprochenen Ängste.

    Carver selbst hat viele Jahre in der Alltagshölle, die eines seiner großen Themen war, gelebt, die vom Unheil torpedierte Glückssuche war ihm vertraut. Sex und Selbstsucht gehören zu den Erbsünden seiner Helden. Doch begehen sie diese Sünden nicht aus kaltem Übermut, sondern aus Angst, das Leben zu verfehlen, aus Einsamkeit und hastigem Erlösungshunger. Ihre Reue ist oft dementsprechend groß. Von all dem künden Carvers Originaltexte mit Nachdruck und Ausführlichkeit. Gordon Lish hingegen hat aus dieser Hölle einen großen Teil der Glut hinausgeschafft und sie in einen stilsicheren Showroom eines zeitgemäßen Unglücks verwandelt. Als es um seinen nächsten Story-Band "Kathedrale" ging, der 1983 erscheinen sollte, war Carver entschlossen, seine eigene Schreibweise zu verteidigen. Im Oktober 1982 schrieb er an seinen Lektor:

    "Aber im Ernst, Gordon, eins sollte ich lieber gleich vorab sagen: Ich kann nicht noch einmal die Art von chirurgischer Amputation und Transplantation aushalten, mit denen Du dafür sorgst, dass die Geschichten vielleicht besser in die Schachtel passen. Mein Herz wird das sonst nicht überstehen. Es wird einfach brechen, und ich meine das wörtlich. ... Bitte hilf mir mit diesem Buch als guter Lektor, als der beste ... aber nicht als Ghostwriter."

    Müssen sich nun die Bewunderer des minimalistischen Carver-Stils, den der Autor selber nie schreiben wollte, blamiert oder getäuscht fühlen? Darüber ließe sich lange diskutieren. Sicher ist aber, dass Literaturliebhaber nicht alle Tage auf einen so aufregenden, ja faszinierenden Grenzfall treffen. Der doppelte Carver erlaubt Einblicke, die vorher nicht möglich waren: in die Werkstatt eines großen Schriftstellers, in das Drama seines Lebens, in einige Geheimnisse des Schreibens und des Stils. Ganz zu schweigen von dem außergewöhnlichen Fall eines Lektors, der seinen Autor, anstatt ihm zu dienen, lieber nach seinen eigenen Vorstellungen umformte.

    Literaturhinweis:
    Raymond Carver: Beginners. Uncut - Die Originalversion von Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié sowie Antje Rávic Strubel. S. Fischer, Frankfurt am Main 2012. 361 Seiten, 21,99 Euro.