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Kampf um Entschädigung
Kinderpsychiatrien in der Nachkriegszeit

Von Uschi Götz | 25.08.2014
    "Haus B ist abgerissen worden, Haus A steht noch."
    Langsam geht Günter Wulf über das Gelände der ehemaligen Psychiatrie Hesterberg in Schleswig. Immer wieder bleibt er vor alten Backsteinhäusern stehen, mit Buchstaben waren sie früher gekennzeichnet. Jeder Buchstabe bedeute eine andere Qual:
    "Dieses Haus E, da waren auch Kinder drinnen und da hat man auch oft Schreie gehört."
    Sechs Jahre - von 1968 bis 1974 war Günter Wulf auf dem Hesterberg in Schleswig eingesperrt. Das damalige Landeskrankenhaus stand unter der Dienstaufsicht des Kieler Sozialministeriums. Günter Wulf kam nicht in die Psychiatrie weil er krank war, sondern übrig. Kurz nach seiner Geburt musste er in ein Heim, seine Mutter konnte ihn nicht versorgen. Behütet seien seine ersten Jahre in zwei verschiedenen Heimen gewesen, sagt er heute. Doch diese Heime waren überfüllt und größere Kinder mussten gehen. Günter Wulf war neun Jahre als er in die Psychiatrie kam:
    "Ja, das ist das Haus F, das ist einer der berüchtigten Häuser. Da habe ich sechs Jahre gewohnt."
    Der heute 55-jährige Mann steht vor dem alten Backsteingemäuer. Tränen laufen ihm über das Gesicht:
    "Wir sind mit Valium ruhig gestellt worden, wir sind in Zwangsjacken gesteckt worden, mittags Kopf auf den Tisch, wer geredet hat, bekam eine gefeuert. Man hat uns gehalten wie Tiere im Stall."
    Wulf wurde Zeuge, wie zwei Kinder zu Tode kamen. Zweimal wollte er abhauen, zweimal ist er gescheitert. An den Folgen trägt er bis heute. Wochenlang schlug man ihn für seine Aufmüpfigkeit:
    "Diese Nachtwachen, die haben mich dann auch gepackt, auf einen Stuhl gesetzt, Holzstuhl, und dann haben sie mich so fest gebunden - und zwar nackt. Da haben sie Leinenwindeln genommen, nass gemacht, Knoten rein, Doppelknoten, und dann haben sie mir damit den Rücken kaputt gehauen, bis ich bewusstlos war. Und dann musste ich die ganze Nacht so sitzen, und ich musste die nächsten drei Wochen immer dort oben sitzen."
    Nachts wurde er von Schwestern misshandelt, tagsüber von älteren Patienten missbraucht. Zur Schule durfte er nicht, nur an wenigen Tagen in einen Kellerraum. Mehr Freiheit kannte er nicht:
    "Diese jungen Menschen kamen ähnlich wie Heimkinder aus Verhältnissen, wo man vielleicht Angst hatte, diese Kinder verwahrlosen, wurden dann als scheinbar schwachsinnig bezeichnet, haben in diesen Einrichtungen über Jahre keine Bildung bekommen, sind gequält, geschlagen, sind oft auch von Mitpatienten, psychopathischen Mitpatienten in Serie sexuell missbraucht worden, sind auch vom Pflegepersonal missbraucht worden. Das Ausmaß hat mich schon schockiert."
    Professor Jörg Fegert ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Fegert ist auch Ärztlicher Direktor der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und Fegert war einer der ersten Psychiater, der Günter Wulf und andere Betroffene zu sich nach Ulm einlud, um ihnen zuzuhören und um sich bei ihnen zu entschuldigen:
    "Ja, das ist mir sehr nahe gegangen, dieses Gespräch. Weil diese Taten im Namen und im und in Einrichtungen meines Fachs begangen wurden, ich bin im Moment Präsident der Fachgesellschaft. Und das war auch unser Ziel, dass wir den Betroffenen wirklich zuhören, sie ernst nehmen und ihnen auch deutlich machen, dass wir ihnen glauben."
    Fegert versprach den Betroffenen, er werde sich für sie einsetzen. Auch sie sollen den Heimkindern gleich, entschädigt werden. Das Bundessozialministerium teilte auf unsere Anfrage mit, die Bundesregierung arbeite an einer Lösung. Während die Kirchen laut dem Ministerium ihre Beteiligung an einer Fondslösung zugesagt haben, wird jetzt eine Erklärung der Bundesländer erwartet. Doch die Länder mauern, es gibt wohl Absprachen untereinander. Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie schrieb Fegert alle Ministerpräsidenten an. Unglaublich findet er:
    "Dass man jetzt hier, ich würde schon sagen kleinlich unterscheidet, nach der sozialrechtlichen Zuständigkeit. Bei den Heimkindern, nach einer langen Debatte, ja Lösungen, die vielleicht auch unbefriedigend sind, in einem Fond gefunden hat. Und dass für diese Betroffenen eigentlich überhaupt keine Lösung und keine Anerkennung des Leids gibt."
    Nur die wirklich Starken fänden heute die Kraft und Sprache, sich zu wehren, so Psychiater Fegert. Die Zahl derer, die nicht über ihre Kindheit in der Psychiatrie reden könne, sei dagegen nicht bekannt.