Donnerstag, 25. April 2024

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Kampf um Kaviar

Die Region um das Kaspische Meer liefert ein weltweit begehrtes Produkt: den Kaviar. Die Kostbarkeit hat Schmuggler und kriminelle Banden auf den Plan gerufen. Rund um das größte Binnenmeer der Welt ist ein wahrer Mafiakrieg um das Edelprodukt entbrannt.

Eine Sendung von Andrea Rehmsmeier | 10.12.2005
    Ein Fischer im Wolga-Delta über die Situation seines Berufstandes:

    "Es gibt immer weniger Fische. In diesem Jahr war es sehr, sehr wenig, was wir gefangen haben. Man muss wohl zugeben, dass unsere Kolchose nicht mehr rentabel ist. Was wir verdienen geht für Benzin und Steuern weg. Wir essen den Fisch, den wir fangen. Fisch und Brot."

    Und ein Schmuggler, der den westeuropäischen Markt mit gewildertem Kaviar versorgt:

    "Schlechter Kaviar überlebt nicht mal den Weg ins Ausland, der verdirbt schon während des Transports. Nein, Westeuropa fordert hochwertige Ware, da darf man kein Fett sehen, Ei muss an Ei liegen, nur dann ist der Kaviar viele Monate haltbar."

    Echter Kaviar lebt von seinem Nimbus etwas ganz Besonderes zu sein. Er zählt zu den begehrtesten und teuersten internationalen Delikatessen und ist zu einem Statussymbol der Reichen geworden. Denn leisten kann sich das frühere Arme-Leute-Essen der Russen schon lange nicht mehr jeder. Vor allem seit der Stör 1998 unter Artenschutz gestellt und die Fangquoten drastisch reduziert wurden, sind die Preise für die Stör-Eier in die Höhe geschnellt.

    Die Kostbarkeit hat Schmuggler und kriminelle Banden auf den Plan gerufen. Rund um das Kaspische Meer, wo cirka 90 Prozent des weltweiten Kaviars produziert werden, ist ein wahrer Mafiakrieg um das Edelprodukt entbrannt. Denn während der legale Kaviarhandel rund 100 Millionen US-Dollar jährlich umsetzt, ist der illegale Kaviar-Markt ein Milliardengeschäft. Ob Beluga-, Ossietra-, oder Sevruga-Kavier, in nahezu allen größeren Städten Russlands, unter Straßenunterführungen, in Privatwohnungen und natürlich in den privaten Markthallen, blüht der Handel mit illegalem Kaviar.

    Der Preis ist Verhandlungssache – Moskaus schwarzer Markt für schwarzen Kaviar

    Plötzlich steht die Frau da. Ihr Alter versteckt hat sie unter einer Schicht Make-up versteckt, die dunkel gefärbten Haare sind sorgfältig toupiert. Die verschmierte Schürze aber verrät sie als Fischhändlerin. Der Konkurrenz von den Obst-, Fleisch- und Honigständen, die - wie sie selbst - um die Aufmerksamkeit der Marktbesucher buhlen, schenkt sie keine Beachtung. Vertraulich harkt sie sich bei dem potenziellen Kunden unter und zieht ihn sanft in Richtung des Seitenflügels. Hinter einer Schaufensterscheibe gibt es einen kleinen Verkaufsraum mit einer Auswahl von Speisefischen. Aber nicht die will sie anbieten.

    "Wollen Sie Kaviar? Kommen Sie in mein Geschäft! Schauen Sie! Schauen Sie hier! Ich habe verschiedene Sorten. Das hier ist die billigste, es ist Sevruga-Kaviar. Eine 500-Gramm-Dose kostet 6500 Rubel. Und die hier kostet 10 000 Rubel, also 300 Euro. Es ist Beluga-Kaviar, er kommt aus Astrachan. Ich kann mit dem Preis noch weiter heruntergehen, wenn sie wollen."
    Die Konservendosen sind meerblau und flach, mit einem silbernen Stör als Logo. "Produziert in Astrachan", steht am Rand. Flink hat die Frau die Deckel abgenommen: Schwarz und glänzend türmt sich der Kaviar in der Dose, dicht an dicht liegen die winzigen Fischeier beieinander. Geschäftig läuft die Mittfünfzigerin zum Kühlschrank, wo sich weitere Dosen stapeln.

    "Der Kaviar stammt aus diesem Jahr, er ist ganz frisch. Soviel Glück haben Sie nicht immer, ich weiß das, denn ich bin selbst aus Astrachan. Einen Stempel mit Produktionsdatum gibt es natürlich nicht. Dieser Kaviar stammt von Wilderern, aber er ist sehr frisch. So, und jetzt probieren Sie bitte!"
    Eigentlich steht auf den Handel mit gewildertem Kaviar eine Haftstrafe. Aber das beunruhigt die Schwarzhändlerin offensichtlich nicht: Mitten im Schaufenster löffelt sie ihren Kunden das schwarze Gold in den Mund: Beluga, Sevruga, Ossietra, und dann noch einmal den Beluga. Dabei redet sie unablässig. Woher denn der werte Kunde kommt? Aus Deutschland, wie interessant. In diesem Fall nimmt sie auch Euro. Zufrieden lehnt sie sich an die Kühltheke und gibt noch ein paar Insidertipps gratis dazu.

    "Haben Sie Angst vor dem Zoll? Dann sind Metallkonserven besser als Glasbehälter. Ich gebe Ihnen ein Zertifikat, das sieht aus wie echt, dann brauchen Sie den Zoll nicht zu fürchten. Die Russen schmuggeln Dutzende Dosen auf einmal nach Westeuropa, und noch nie haben sie Schwierigkeiten bekommen. Ich habe sogar einen deutschen Stammkunden, der kommt jedes Jahr zu Weihnachten und kauft 30 Dosen und mehr. Ja, ja, der macht daheim sein eigenes Weihnachtsgeschäft. Also: Aus Wiedersehen!"

    Der Wandel des Kaviars vom Familien-Fest-Essen zum Statussymbol der Reichen schildert die britische Schriftstellerin Vanora Bennett in ihrem Buch "The Taste of Dreams – An Obsession with Russia and Caviar". Die Erzählerin berichtet über ihre Zeit als Moskauer Korrespondentin einer britischen Zeitung Anfang der 90-er Jahre. Sie ist auf einer Party der neuen Oberschicht eingeladen und erlebt den Beginn einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft:

    Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wir sahen uns die übrigen Gäste an: Es gab mehr Sakko- als Lederjacken-Träger, und in der Luft hing eine gewisse Unbeholfenheit. "Schau da!", flüsterte mein Freund plötzlich und stieß mich an. An einer Ecke des Buffet-Tisches, halb versteckt hinter einem Satin-Vorhang, stand eine alte Frau in Lumpen. Irgendwie musste sie über die äußere Absperrung hereingekommen sein. Sie war die einzige Person in dem Raum, die die Beklemmung offensichtlich nicht spürte. Sie ignorierte alle Umstehenden und arbeitete sich durch ein drei Fuß großes Tablett mit Kaviar-Häppchen, unbarmherzig eines nach dem anderen verschlingend. Wenn sie gerade den Mund voll hatte, griff ihre Hand schon nach einem weiteren Leckerbissen und ließ ihn in eine Serviette ihrer offenen Wilderertasche gleiten. Sie hatte eine Spur von Fischeiern am Kinn hängen, und ein selbstvergessenes Lächeln umspielte ihren Mund. Wir starrten sie an. Wir zählten diese unglaubliche Zahl der Leckerbissen, die vom Tablett in ihrem Mund verschwanden.

    Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Jahre der Arbeitslosigkeit, des Chaos und der Massenverarmung, leiteten Anfang der 90er Jahre eine groß anlegte Jagd auf den Stör ein. Gewilderter Kaviar überschwemmte zu Dumpingpreisen die Märkte. Staatsbetriebe, Fischerfamilien, mafiöse Schmuggelbanden, korrupte Beamte, alle wollten mitverdienen. Dazu kam das Kompetenz - Wirrwarr der Behörden: Statt einer sowjetischen Aufsichtsbehörde sind nun gleich mehrere Ämter mit dem Schutz des Störs befasst: Die Wasserpolizei, die normale Polizei, die Geheimdienste. Und statt ehemals zwei Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres – Sowjetunion und Iran – müssen sich jetzt fünf Staaten über Fangquoten und Bestandsschutz einig werden.

    Ende der 90-er Jahre nahm die Artenschutz Konvention der UNO die Störe in die Liste der bedrohten Tierarten auf. Seitdem muss der in den Handel gebrachte Kaviar mit speziellen Zertifikaten der Aus- und Einfuhrländer versehen sein. Die Fangquoten wurden begrenzt, doch der illegale Handel blühte weiter. Erst jetzt, im Oktober dieses Jahres, haben die USA, einer der größten Kaviar-Importeure die Notbremse gezogen. Sie verboten die Einfuhr von Beluga-Kaviar. Doch das kümmert die Händler der kostbaren Delikatesse nur wenig. Was heute in Moskau, Sankt Petersburg oder auf dem Weltmarkt verkauft wird, ob iranischer oder russischer Kaviar, steckt häufig in nachgemachten Verpackungen der russischen Staatsfirma "Russkaja Ikra" und stammt fast ausschließlich aus den Netzen der Wilderer vom Kaspischen Meer.

    Ein schwieriger Job – Greenpeace-Mitarbeiter überwacht das Artenschutzgesetz

    Die Wände sind mit Marmor verkleidet, an der hohen Decke prangt vergoldeter Stuck. Das Luxus- und Delikatessen-Kaufhaus "Jenissejevskij" im Zentrum von Moskau ist eine Kathedrale der Nobelgastronomie. Die Regale quellen über mit allem, was edel und teuer ist: Spirituosen aus aller Welt, Schweizer Pralinés und russischer Lachs. Die Kaviar-Gläser sind pyramidenartig im Kühlregal aufgeschichtet. Davor steht ein junger Mann mit schulterlangem Haar und Rucksack. Er nimmt die Gläser einzeln in die Hand und untersucht die Etiketten.

    "Das sind die verschiedenen Kaviar-Sorten. Die blauen Deckel markieren den Beluga-Kaviar, die gelben den Ossietra und die roten den Sevruga. Interessant ist das Produktionsdatum, denn im Juni hat der Gouverneur von Astrachan den Kaviarverkauf verboten. Dieser Kaviar hier stammt vom Mai 2005. Er scheint also in Ordnung zu sein. Das Problem ist nur, dass viele Etiketten gefälscht sind, darum kann man sich nicht darauf verlassen. Doch hier sind wir in einem der populärsten Geschäfte Moskaus. Hoffen wir also, dass der Kaviar legal ist."

    Sergej ist für Greenpeace Russland unterwegs. Seit einem halben Jahr ist er dort fest angestellt. Davor hatte der studierte Zoologe auf der sibirischen Halbinsel Kamtschatka die Lachse erforscht. Die Kontrolle des Artenschutzes ist sein jetziger Job. Keine leichte Aufgabe, denn wie stellt man fest, ob der in Moskau frei verkäufliche Kaviar aus offizieller Produktion stammt oder aus einer Wildererküche? Die Legalität der Ware, sagt Sergej, muss jeder einzelne Verkäufer nachweisen können anhand einer Prüfbescheinigung von CITES, der UNO-Artenschutzkonvention. Die Russen nennen sie das "Rote Buch".

    Ob er die Bescheinigung sehen kann, fragt er die Verkäuferin hinter der Kühltheke. Er gibt sich als interessierter Kunde aus, der sich auf seine Verbraucherrechte beruft. Das Wort Greenpeace fällt nicht. Die Verkäuferin holt eine Mappe voller Dokumente: Kaufquittungen, Steuervermerke, Lebensmittelhygiene-Bescheinigungen. Das Papier mit dem CITES-Prüfsiegel fehlt. Sergej zitiert der Verkäuferin aus der Artenschutzkonvention. Da wird sie ärgerlich.

    "Ich kenne das Gesetz, und alle vorgeschriebenen Dokumente kann ich Ihnen vorweisen. Für dieses Zertifikat des Roten Buches oder wie das heißt bin ich nicht zuständig. Wenden Sie sich an den Hersteller, dort kann man Ihnen sagen, wo die Fische von wem gefangen wurden. Ich belege Ihnen hier die erstklassige Qualität der Ware. Also warum streiten Sie mit mir?"

    Sergej geht. Als Kunde ist seine Verhandlungsposition zu schwach. Und als Umweltaktivist, fürchtet er, wäre er erst recht nicht ernst genommen worden. Die Verkäuferin hat ihm ohnehin nur deshalb Respekt gezollt, weil sie staatliche Kontrolleure in Zivil fürchtet. Die kommen in letzter Zeit immer öfter, und sie verlangen immer neue Bescheinigungen. Den Unwillen über diese Bürokratie kann Sergej verstehen. Dass die Verkäuferin die CITES-Bescheinigung aber nicht einmal vom Namen kennt, darüber ist er doch erstaunt.

    Die russische Gesetzgebung scheint streng zu sein, aber sie wird andauernd unterlaufen, und zwar von allen Beteiligten. Beim Thema Artenschutz werden ohnehin nur Schein-Kontrollen durchgeführt, und das geht auf das Konto der mächtigen Fischindustrie. Die verarbeitet nämlich selbst gewilderten Kaviar. Und dabei wird sie von den Staatsbeamten gedeckt. Die Korruption in dieser Branche ist gewaltig, sie macht den Markt undurchschaubar. Jetzt hilft nur noch ein Total-Verbot des Kaviarhandels, weil die Naturressourcen fast schon vollständig ausgebeutet sind.

    Sergejs nächste Station ist eine der traditionellen Markthallen im Nordosten von Moskau. Bis heute ist sie in Staatshand. Direkt am Eingang steht ein auslandender Fischstand. Hier gibt es Zander, Forelle und Lachs, in einem Aquarium warten drei kleine Störe auf ihr absehbares Ende. Kaviar, appetitlich angerichtet, bildet den Blickfang der Auslage.

    Sergej fragt zwei junge Verkäufer nach der CITES-Bescheinigung. Zornig schauen sie ihn an. Sie wollen seinen Ausweis sehen und stoßen Flüche aus. Schließlich bringt einer einen Stapel Dokumente. Auch dieses Mal sucht Sergej vergeblich. Der Verkäufer schaut verständnislos:
    "Ich verkaufe geschmuggelten Kaviar, wollen Sie mir das erzählen? Mein Kaviar stammt aus den offiziellen, staatlichen Kombinaten! Hören Sie, ganz Moskau verkauft Kaviar so, wie ich ihn verkaufe. Meine Firma ist legal, sie zahlt regelmäßig ihre Steuern. Tun Sie doch nicht so, als ob wir hier mit Drogen dealen! Kaviar ist doch nur ein Nahrungsmittel, was wollen Sie eigentlich? Beschweren Sie sich bei Putin! Ganz Moskau handelt mit Kaviar so wie ich!"

    Den letzten Versuch startet der Greenpeacer im Verwaltungstrakt des Marktes. Der Direktor scheint aufgeschlossen, bittet ihn in sein karges Büro. Sofort beginnt er, über die bedrohte Flora und Fauna Russlands zu referieren. Dann aber lässt Sergej das Wort Kaviar fallen, und das Gesicht des Direktors versteinert. Unwillkürlich greift seine Hand nach einem Klappmesser, das auf dem Schreibtisch liegt. Er lässt die Klinge in den Schaft schnellen, holt sie langsam wieder heraus, lässt sie erneut einschnappen. Dass der Stör im Roten Buch der bedrohten Tierarten steht, davon, sagt er mit durchdringendem Blick, hat er noch nie gehört.

    "Was heißt denn hier, der Verkauf von Störprodukten ist verboten? Es gibt verschiedene Auflagen, das ist richtig. Und dass Kaviar von mafiösen Strukturen umgepackt und umetikettiert wird, das ist mir selbst klar. Aber das ist nicht mein Problem, damit beschäftigt sich die Staatsanwaltschaft! Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn auf unserem Markt heiße Ware auftaucht, dann rufen wir die Umweltpolizei, und die Sache geht ihren gerichtlichen Gang."

    Sergej schüttelt den Kopf und geht. Früher, sagt er, früher hat er einen leichteren Job gehabt:

    "Manchmal möchte ich nach Kamtschatka auf meine Insel zurückkehren und Lachse zählen. Aber dann denke ich, dass man in dieser Situation einfach aktiv werden muss. Ich wünschte nur, das wäre einfacher in diesem Staat."

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    Gewildert oder legal, auf den Partys der Neureichen in Russlands Hauptstadt schert sich niemand darum, woher und von wem der Kaviar stammt, denn dort findet das Leben in einer Dollar-Blase statt. So erschien es der britischen Journalistin Vanora Bennett in ihren Erinnerungen an das Moskau der 90-er Jahre. Das dekadente Leben der High Society auf der einen Seite und der Hunger der Bettler in den Straßen auf der anderen. Als eine Frau in Lumpen sich auf einer Party über das Kaviar-Buffet hermacht, erscheint sie den Gästen, wie ein Besuch aus einer anderen Welt.

    Musik

    Wir sahen einander erstaunt an, über ihre Dreistigkeit nicht weniger erstaunt als über ihre Unersättlichkeit. Die anderen schauten genauso. Man konnte sehen, wie sie sich fragten, ob es wirklich nur eine Bettlerin war, die irgendwie die Rausschmeisser überlistet hatte, oder ob sie eine engagierte Schauspielerin und Teil des Entertainments war – irgendeine parabelhaft gemeinte Szene aus dem Roman "Meister und Margerita" von Michail Bulgakov, die herausfinden sollte, ob die Gäste hier genauso reagieren würden wie die wenig anziehenden sowjetischen Charaktere aus dem Roman. Man wusste es einfach nicht.

    Sie kümmerte sich um niemanden. Sie wusste, dass niemand sie anrühren würde, nicht einmal die Kellner, die sie schon längst hätten herausschmeißen sollen. Man sah förmlich, wie sie sich dachten: Soll sie doch, in Gottes Namen! und einen taktvollen Bogen um sie machten, oder sogar mehr von diesen unglaublich großen Kaviar-Tabletts in ihre Nähe schoben. Sie hatte wirklich Glück. Es hätte dem Geist des Abends widersprochen, ihr Schwierigkeiten zu machen.

    Wir schlichen uns davon. Als wir uns auf dem Heimweg machten, war es dunkel. Es war mein bester Abend überhaupt in der "Dollarblase". Und wahrscheinlich der der Bettlerin genauso.


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    1500 Kilometer südöstlich von Moskau erstreckt sich das Wolga-Delta. Hier mündet Europas größter Strom in Hunderten von Flüssen ins Kaspische Meer. Es gilt als eines der schönsten Naturparadiese Russlands. Hier blüht die Lotus- Blume und die seltene Saiga-Antilope wandert noch immer durch die Steppe. Doch die Entdeckung gewaltiger Öl- und Gasvorkommen hat ihre Spuren hinterlassen. Ein dichtes Netz von Pipelines zieht sich in Richtung Türkei und Westeuropa und bedroht diese einzigartige Naturlandschaft. Umweltvermutzungen haben das empfindliche Ökosystem ins Wanken gebracht. Sie gefährden auch die Fischbestände und die Existenzgrundlage der Menschen, die von ihnen leben.

    In dieser Gegend, unweit von Astrachan, liegt die Siedlung "Ikrjanoe", das "Kaviar-Dorf". Viele der Fischbetriebe sind bis heute noch in Staatshand. Doch seit der Störfang für die industrielle Kaviarproduktion stark eingeschränkt wurde, hat sich das Leben der Fischer verändert.

    Fischer ohne Fisch – Die Folgen der Überfischung

    "Jetzt geht es gleich los, wir holen das Netz ein!"

    Bis zu den Hüften steht Aleksej, der Fischer, in der Wolga. Ein wasserdichter Gummianzug schützt ihn vor dem Flusswasser. Der Fischkutter hat am Ufer angelegt. Die Position des Netzes bildet sich in kleinen Wirbeln auf der Wasseroberfläche ab: Es ist zwischen dem Schiff und einer schweren Zugmaschine am Flussufer gespannt. Aleksej arbeitet mit zusammen gekniffenen Augen. Das Flusswasser ist kalt geworden, der schneidende Wind kündigt den Wintereinbruch an. Die Männer wuchten den tropfenden und zappelnder Ballen aus Netz und Flussgetier ins Boot: 30 Zander, das ist der heutige Ertrag der zehnköpfigen Brigade und anderthalb Stunden Arbeit.

    "Es gibt immer weniger Fische. In diesem Jahr war es sehr, sehr wenig, was wir gefangen haben. Man muss wohl zugeben, dass unsere Kolchose nicht mehr rentabel ist. Was wir verdienen, geht für Benzin und Steuern weg. Unseren Lohn bekommen wir seit einem halben Jahr nicht mehr ausbezahlt. Und dabei verdienen wir sowieso nur umgerechnet 120 Euro im Monat, zuzüglich Provision. Aber wie gesagt: Im Moment kriegen wir gar nichts. Wir essen den Fisch, den wir hier fangen. Fisch und Brot."

    Ein Schnellboot donnert über den Fluss, darin sitzen drei Uniformierte: Die Wasserpolizei. Die Fischer schauen dem vorbei fliegenden Gefährt hinterher.

    "Die kommen hier alle zehn, zwölf Minuten vorbei. Wow, es gibt hier mehr staatliche Kontrolleure als Fischer. Die suchen nach Wilderern. Nun ja, hin und wieder nehmen sie auch welche fest. Es gibt hier ja auch eine ganze Menge."

    Das Wildern ist im Wolga-Delta ein ganz normaler Zuverdienst. Aleksej zeigt auf eine roten Punkt im Fluss, es ist eine Art roter Plastikkanister. Damit markieren die Wilderer die Position ihrer Hakenleinen, erklärt er. Diese sind durch die gesamte Breite des Flussbettes gespannt. Die Haken haben messerscharfe Spitzen – tödliche Fallen speziell für Störe, die gerne im Flussschlamm gründeln. Nachts, im Schutz der Dunkelheit, kommen die Dorfleute heraus und holen sich das, was den staatlich angestellten Fischern bei Tag verwehrt ist.

    Dann ist Pause. Die Fischer haben sich in eine Holzhütte zurückgezogen. Im Inneren: eine Teeküche, ein Fernseher, Holzbänke, ein langer Tisch. Vladimir, der Leiter der Brigade stellt eine Flasche Wodka und getrockneten Fisch auf den Tisch. Als er das Wort ergreift, zieht Aleksej sich zurück. Was sein Chef als Staatsangestellter zum Thema Fischwirtschaft sagen wird, kennt er schon.

    "Alle lügen, die sagen, es gäbe immer weniger Fisch. Mit den Fischen ist alles in Ordnung! Der Fang eben war zwar wirklich etwas dürftig. Aber das liegt am Wetter. Im Herbst ist der Wasserstand zu hoch. Sobald er sinkt, kommt der Fisch wieder. Es gibt eben solche und solche Tage."

    Doch der Wodka löst die Zungen, und bald sinnieren die Männer über ihr Los als Fischer. Zur Sowjetzeit gehörten die Störe zur Haupteinkommensquelle für die Kolchose. Kaviar aßen die Fischerfamilien aus Eimern, so alltäglich war er. Noch vor zehn Jahren fingen sie in wenigen Stunden bis zu 20 Tonnen Stör, sagen sie. Doch Ende der 90-er Jahre wurden die Fangquoten drastisch gesenkt. Seitdem ist es mit der lukrativen Einkommensquelle vorbei. Ohnehin sind ihnen in diesem Jahr kaum noch Störe ins Netz gegangen.

    "Die dürfen wir sowieso nicht behalten, die sind für die offiziellen Kaviarunternehmen bestimmt. Wir haben sie ins Wasser zurückgesetzt – wir wollen ja nicht ins Gefängnis. Für uns ist der Astrachaner Wodka! Hier, auf dem Etikett ist das Wappen unserer Region abgebildet. Also, greift zu, Wodka schadet nicht!"

    Musik
    In den russischen Süden zu gehen, das bedeutet, Gefahr zu suchen und sich dem Unbekannten mutig zu stellen. Aber es bringt auch die Möglichkeit einer Belohnung mit sich, die sich der Abenteurer nicht in seinen wildesten Träumen vorgestellt hätte.

    Obwohl der Süden immer ein drachenbewohntes Territorium geblieben ist, am Ende der Landkarte der bekannten Welt, sind die wilderen unter den Abenteurern zu allen Zeiten aus Russland hier her gekommen, um dort unten einen neuen Kitzel zu finden.

    Die Abenteurer nehmen dieselbe Route wie die jungen Störe, die Wolga hinab zum Meer. Wenn sie Glück haben, kehren sie zurück in den Norden am Ende ihrer Abenteuerreise, folgen dem trächtigen Stör, der flussaufwärts strebt um zu laichen und zu sterben – mit einem Kopf voller Reisegeschichten und Geschick in den Kaspischen Geschäftsangelegenheiten: Seide, Öl und Kaviar.

    Die große, seichte, schlammige Wolga ist die Route, die die heißblütigen, fragenden, eigensinnigen Geister nehmen, mit denen der russische Staat nicht umgehen kann: der Fluss der Hitzköpfe.


    Musik

    Hitzig und explosiv ist auch die Lage rund um das Kaspische Meer. Am russischen Westufer destabilisiert der Konflikt in Tschetschenien die Region. Und auch im benachbarten Dagestan kommt es immer wieder zu Terroranschlägen. Der islamische Fundamentalismus gewinnt zunehmend an Einfluss. Zusätzlich werden die Spannungen durch die ungeklärten Territorialfragen zwischen den Anrainerstaaten angeheizt. Ungeklärt sind die Fragen, wem die Naturressourcen gehören: Öl, Gas, der Fisch – und damit auch der Kaviar. Und da die die Nachfrage nach Kaviar auf dem Weltmarkt ungebrochen groß ist, scheren sich weder kriminelle Gruppen, noch offizielle Produktions-Unternehmen um Fangquoten und Fangverbote: Geschäftemachern verspricht der illegale Kaviarhandel phantastische Gewinnmargen. Den arbeitslosen Fischern aber bleibt dies verwehrt. Die Stör-Wilderei bringt ihnen gerade genug, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

    Lagan ist eine kleine Fischerstadt in der Republik Kalmykien. Die Lebensader der Stadt ist der Kanal, der rund 50 Kilometer südlich ins Kaspische Meer führt. Von hier aus starten die Fischerflotten. Seit Jahrhunderten gehört Lagan zu den wichtigsten Produktionsorten für schwarzen Kaviar. Von hier aus geht das Schwarze Gold in die Weltmärkte. Die Fisch- und Kaviarverarbeitung war für die meisten Familien in Lagan die Haupteinkommensquelle. Jetzt ist das Traditionshandwerk in die Illegalität gerutscht.

    Die Mafia der kleinen Leute – Wilderei und Bestechung sind an der Tagesordnung

    In der Küche ist es eng: Eine Spüle, ein Tisch, ein Hängeschrank. Eine Pistole liegt auf dem Fensterbrett. Auf dem Gasherd köchelt das kalmykische Nationalgetränk: gesalzener schwarzer Tee mit Ziegenmilch und Butter. Geschäftig gießt die Mittvierzigerin zwei Tassen ein: Sie hat einen potenziellen Kunden zu Gast. Dann eilt sie ins Nachbarzimmer. Als sie zurückkehrt, hält sie zwei tellerförmige, blaue Konserven in der Hand: 500 Gramm Beluga-Kaviar. Der Gast begutachtet die Ware. Es ist eine schwarze Masse - ölig und körnig. Die Hausherrin zuckt entschuldigend mit den Schultern.

    "Dieser Kaviar hat nicht die beste Qualität, ich weiß. Guten Kaviar gibt es nur schließlich im Frühjahr und im Herbst, dieser aber stammt aus der Sommersaison. Ja, all das Fett, das schon ausgetreten ist" Für den Export taugt dieser Kaviar nicht. Normalerweise essen wir ihn selbst, bestenfalls geht er auf die Märkte nach Astrachan, Wolgograd oder Rostov."
    Den Fischrogen hat die Frau den Wilderern abgekauft und selbst zu Kaviar verarbeitet. Zwischen 200 und 400 Rubel verdient sie an einem Kilo Kaviar, das sind rund zehn Euro. In der Hochsaison produziert sie bis zu 30 Kilogramm hochwertigen Kaviar täglich – eine viel zu wertvolle Ware, um sie zuhause zu lagern. Polizeikontrollen und Raubüberfälle; in dieser Branche droht Gefahr gleich von zwei Seiten. Ihre Kaviarvorräte versteckt sie bei einem Nachbarn, der Beziehungen hat. Den nennt sie ihren "Paten". Bis zum Abend, verspricht sie jetzt, will sie vom Paten hochwertigen Kaviar besorgen. Damit gibt sich der Zwischenhändler zufrieden. Er braucht die Ware für den Export.

    "Schlechter Kaviar überlebt nicht mal den Weg ins Ausland, der verdirbt schon während des Transports. Nein, Westeuropa fordert hochwertige Ware, da darf man kein Fett sehen, Ei muss an Ei liegen. Nur dann ist der Kaviar viele Monate haltbar."

    Der fliegende Händler nennt sich Viktor, doch das ist nur ein Tarnname. Er verdient sein Geld mit Kaviar-Schmuggel. Viktor ist um die 40, ein väterlicher Typ mit mongolischen Gesichtszügen und einer üppigen Statur. Viktor handelt mit allem, was Umsatz verspricht, legal oder illegal: Tierfelle, Diamanten, Kleidung – und Pulver aus dem Horn der bedrohten Saiga-Antilope, das bei vielen Asiaten als Wundermedizin gilt. Sobald ein Tier vom Aussterben bedroht sind, weiß Viktor, steigt sein Marktpreis. Das macht auch das Kaviar-Geschäft interessant. Den Kaviar schmuggelt Viktor von Lagan nach Rostov, Wolgograd und Moskau. Von dort geht die Ware in Touristenbussen nach Westeuropa. Entscheidend bei allem ist die Qualität – und die hängt auch von der Zubereitung ab. Die Frau, in deren Küche Viktor sitzt, kennt sich aus.

    "Zuerst wird den Rogen gewaschen und von den Eierstöcken befreit und anschließend gesalzen. Auf ein Kilo Rogen kommen 38 Gramm eines speziellen Salzes. Dann bleibt er offen stehen, bis Ei an Ei liegt. Dann kann man sicher sein, dass die Flüssigkeit ganz eingezogen ist."

    Viktor und seine Lieferantin sind die kleinsten Rädchen im globalen Getriebe des Kaviar-Schwarzmarktes. Eine Mafia der kleinen Leute: Mit ihren Hinterhof-Geschäften verdienen sie gerade so viel, dass sie ihre Familien durchbringen können. Die märchenhaften Gewinnspannen, von denen sie träumen, erzielen andere - zum Beispiel die Direktoren der staatlichen Produktionsbetriebe. Das glaubt zumindest Viktor. Er greift nach der blauen Kaviarkonserve vor sich und deutet auf eine unbeschriftete Stelle. Hier müsste eigentlich das Produktionsdatum der Ware eingestanzt sein, doch das fehlt.

    "Wenn eine Konserve kein Produktionsdatum trägt, dann ist klar, dass es sich um gewilderten Kaviar handelt. Das Problem ist nur: Es gibt auch gewilderten Kaviar mit Stempel. Der stammt aus den staatlichen Kaviar-Unternehmen und ist entsprechend teuer. Diese Staatsunternehmen sind höchst verdächtig, schließlich ist kommerzieller Störfang offiziell verboten. Aber was für gewaltige Mengen an Kaviar werden dort hergestellt! Das kann nicht legal sein! Die Staatsunternehmen kaufen ihren Rogen nämlich ebenfalls bei den Wilderern ein – nicht anders als wir auch. Ob man den Kaviar also offiziell kauft oder bei uns, das macht keinen Unterschied. Gewildert ist er sowieso."

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    Am Nachmittag schlendert Viktor durch Lagan. Am Kanal herrscht ständiger Betrieb, denn von hier starten die Fischer ihre Touren ins Kaspische Meer. Seite an Seite sind die Schnellboote am Kanalufer vertraut - Holzgefährte mit deutlichen Gebrauchsspuren, aber jedes einzelne versehen mit drei starken Yamaha-Motoren. Die verwandeln die Boote in Geschosse, die in wenigen Sekunden auf Höchstgeschwindigkeit kommen und beim Starten meterhohe Fontänen aufsteigen lassen. Wildererboote, meint Viktor, kein Zweifel. PS-starke Sprinter, die auch mit fünf Tonnen Ladung aus jeder brenzligen Lage entkommen. Verstecken müssen die Wilderer ihre Boote offensichtlich nicht. In Lagan selbst wissen ohnehin alle bescheid, erzählt Viktor. Und die Aufsichtsbehörden sind bestochen. Der regionale Kaviar-Schwarzmarkt ist in der Hand von Drahtziehern aus dem Ort, diese pflegen Kontakte zu Staatsbediensteten und Großabnehmern. Die Fischer lassen sie auf Provisionsbasis für sich arbeiten.

    "Wenn die geschnappt werden, dann tragen die Eigentümer des Kartells das Risiko. Sie müssen sich mit allen Behörden arrangieren: Mit der Fischaufsicht, der Wasserpolizei, der Staatsanwaltschaft und einzelnen Richtern – sie brauchen ihre Kontakte überall. Aber korrupte Beamte zu finden, ist kein Problem – zumindest solange die Nachfrage nach Kaviar groß ist. Es ist so gut wie noch nie vorgekommen, dass einer vom Schwarzmarkt festgenommen wurde. Und wenn doch, dann kann man sich freikaufen: die Wilderer kaufen sich frei, die Schmuggler kaufen sich frei. Das ist leicht. Alle wissen, wem man wie viel bezahlen muss. Darum ist das Geschäft nicht besonders riskant. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, dass die Ware konfisziert wird. Mir haben sie einmal 10 – 20 Tonnen beschlagnahmt. So was kann dich ruinieren!"

    Auch Viktor pflegt ein Netzwerk aus Behördenkontakten: Freunde und Verwandte in Schlüsselpositionen decken die Geschäfte aus Verbundenheit. Ansonsten gelten feste Schmiergeld-Tarife: Für eine Lieferung von vier Tonnen Störfleisch und 100 Kilo Kaviar nimmt ein Verwaltungsbeamter knapp 900 Euro. Dafür verspricht er, dass der Lkw bei Kontrollen durch gewunken wird. Doch das klappt nicht immer: In Russland wuchert der Beamtenstaat, neue Kontrollinstanzen schießen wie Pilze aus dem Boden, und immer mehr Behörden wollen geschmiert werden. Diejenigen, die eigentlich die Artenschutzbestimmungen durchsetzen sollten, kassieren an erster Stelle mit. Das macht Kleindealern wie Viktor das Geschäft kaputt. Seit einigen Monaten, erzählt er, bleibt ihm so gut wie kein Gewinn mehr übrig.

    "Nicht die Politik hat sich verändert! Das Geschäft mit dem Kaviar ist nicht mehr lukrativ, weil immer mehr Leute an immer weniger Fischen verdienen wollen. Wenn ich heute in Lagan für 100 Rubel Kaviar kaufe, bekomme ich im Verkauf gerade noch 130 Rubel dafür. Ich muss aber die Polizei bestechen und den Transport bezahlen. Das Geschäft lohnt sich nicht mehr – zu wenig Geld für so ein zu hohes Verlustrisiko."
    Ein Schnellboot legt am Ufer an. Die drei Männer kehren gerade vom Kaspischen Meer zurück. Vier Tage sind sie unterwegs gewesen: Es hat einen Herbststurm gegeben, erzählen sie, deshalb konnten sie ihre Netze nicht einholen. Sie haben ein gutes Dutzend Störe gefangen, sagt der Älteste der drei. Auch drei Beluga - Weibchen sind darunter, die sind jung und klein, aber trächtig. Das ist keine große Ausbeute, gemessen an dem Aufwand: Seit die Uferregionen leer gefischt sind, müssen die Boote immer weiter aufs Meer hinaus. Das kostet Benzin. Der alte Wilderer beginnt zu fluchen.

    "Ja, zu Sowjetzeiten gab es sehr viel Fisch, damals war Fischer ein gut bezahlter Beruf. Dazu haben wir für uns selbst Störe gefangen, mit Netzen und Hakenleinen. Dann aber kam die Perestrojka, die Kombinate und Kolchosen haben zugemacht und wir alle sind arbeitslos geworden. So bin ich Wilderer geworden. Unfreiwillig. Ich hasse diesen Beruf. Ich komme höchstens auf 4000 Rubel im Monat, das sind ungefähr 120 Euro. Das reicht kaum zum Leben. Und man kann umgebracht werden. So geht es uns Wilderern. Für Kopeken bringen sie dich um!"

    Wer oder was genau sein Leben bedroht, will er nicht erzählen. Viktor ahnt dennoch, was er meint. Nicht nur vor Stürmen und der Wasserpolizei müssen die Wilderer sich in Acht nehmen. Am gefährlichsten sind die Zusammenstöße mit der Konkurrenz: Je weiter die Crew aufs Meer hinausfährt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit Wilderern aus Kasachstan, Dagestan oder Turkmenistan aneinander geraten. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Scharmützeln, nicht selten mit Toten und Verletzten. Und noch etwas anderes macht dem Wilderer Angst: eine Erscheinung, die er seit etwa zwei Jahren beobachtet. Manchmal - nachts auf hoher See - beginnt die Wasseroberfläche zu leuchten. "Medusa", nennen die Fischer die phosphoreszierende Alge. Seit sich die Ölplattformen wie eine Plage im Kaspischen Meer vermehren, breitet sie sich aus.

    "Das habe ich früher nie gesehen. Noch nie hat es die Medusa am Kaspischen Meer gegeben. Jetzt ist sie überall, und ich vermute, sie erstickt die Fische unter sich. Irgendetwas geht da unten vor sich, und du verstehst nicht, was?"

    Immer öfter träumt der alte Wilderer von einem Leben als Landwirt. Aber er finanziert seinen Töchtern das Studium in Astrachan. Bald werden die sich gut verheiraten, hofft er, möglichst mit jemandem aus der Ölbranche. Dann wird er endlich Geld für einen kleinen Bauernhof übrig haben, mit drei oder vier Rindern. Bis es soweit ist, wird er Wilderer bleiben müssen.

    "Wovon sollten wir sonst leben? Wenn es hier eine andere Arbeit gäbe, würde ich das Meer nicht einmal anschauen. Warum sollte ich? Ich bin ausgebildeter Mechaniker!"

    Den Traum, auszusteigen, hegt auch Viktor. Er hat die guten Zeiten des Kaviar-Schwarzmarktes erlebt. Jetzt genügt ihm ein Blick in das Netz des alten Wilderers, um zu wissen, dass sie vorbei sind.

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    Bereits vor einigen Jahren warnten Umweltorganisationen vor dem Aussterben der im Kaspischen Meer und in seinen Zuflüssen lebenden Störarten. So wurden schon zu Sowjetzeiten sieben Werke für die künstliche Reproduktion der Störe geschaffen. Heute werden von allen Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres rund 100 Millionen Störe gezüchtet und dann als Fingerlinge frei gelassen. Die Überlebensrate dieser Fingerlinge beträgt jedoch nur ein Prozent. Angesichts der illegalen Ausbeutung und Überfischung, ein Tropfen auf den heißen Stein.

    Doch die Zukunft der Delikatesse Kaviar auf den Tischen der Nobelrestaurants ist dennoch gesichert. Überall auf der Welt, nicht nur im Wolga-Delta, zum Beispiel auch in Mecklenburg-Vorpommern, entstehen Zucht-Anlagen. Dort produzieren Störe Kaviar unter künstlichen Bedingungen. Der befruchtete Rogen aber für die Neuproduktion kommt weiterhin aus dem Kaspischen Meer, unter anderem aus Astrachan im Wolga-Delta.

    Die Zukunft im Zuchtbecken – Das Störunternehmen Bios in Astrachan
    Seite an Seite schwimmen die Störe. Nach Sorte, Alter, Größe und Geschlecht sortiert leben sie bei "Bios", einem Forschungs- und Produktionsunternehmen für Kaviar. Es ist ein weiträumiges Gelände, das in der bevölkerungsarmen Gegend bei Astrachan liegt. Die großen Tiere sind draußen in Teichen untergebracht, die Jungfische in den Bassins der Gewerbehallen. Hier sorgen riesige Pumpen für zuverlässige Sauerstoffzufuhr und gleichmäßigen Wasseraustausch. Sergej, einer von 177 Mitarbeitern, misst gerade die Wassertemperatur.
    Mit dem Netz fischt er eines der Tiere aus dem Becken - eine Handvoll Fisch, die sich mit kräftigen Schwanzschlägen wehrt, so dass Sergej Mühe hat, sie festzuhalten.

    "Das ist ein russischer Stör aus diesem Jahr. Er ist vier oder fünf Monate alt. Die Wassertemperatur in diesem Bassin ist niedrig, daher muss er nicht gefüttert werden. Weil er im Winter nicht aktiv ist, ist er jetzt sehr schwach. Er sitzt einfach im Becken und wartet auf den Frühling. Das Wasser hat die gleiche Temperatur wie die Wolga um diese Jahreszeit. Der Fisch verliert an Gewicht, aber er überlebt 100-prozentig. Im Frühjahr kommt er in unsere Fischteiche, dort wird er wachsen."

    Ein Becken ist nicht die Wolga, und ein Fischteich nicht das Kaspische Meer. Aber die Chancen, dass ein Störweibchen unter diesen unromantischen Bedingungen die Jahre bis zu seiner Geschlechtsreife überlebt, stehen ausgesprochen gut. Dann wird es Kaviar produzieren, der allen internationalen Standards der Lebensmittelhygiene entspricht - und keinen Giftcocktail aus Pestiziden, Ölresten und Algenschlick wie seine wilden Artgenossen. Das Störunternehmen Bios ist ein Produkt der Umbruchjahre. Es wurde Anfang der 90-er Jahre als kleines Privatunternehmen gegründet. Damals hatte der Plan, Störe in Becken zu halten, noch etwas Visionäres. Als sich aber die Wildbestände zu dezimieren begannen, erkannte auch der damalige Präsident Boris Jelzin das Zukunftsweisende der Störzucht: Das Unternehmen wurde verstaatlicht. Heute ist Bios kaum noch auf Wildfang aus der Wolga angewiesen, die meisten Fische stammen aus eigener Nachzucht. Der Lebend-Rogen aus Bios-Produktion geht nach China, Frankreich und Italien.

    Das Revolutionäre der Bios-Methode: Der Rogen wird dem Störweibchen mit einer Art Kaiserschnitt herausoperiert, erklärt Sergej. So muss der Fisch nicht geschlachtet werden und gibt bis zu 15 Mal in seinem Leben Kaviar.

    "Das hier sind die größeren Fische, von denen Nachkommen gezüchtet werden sollen. Dazu muss man naturähnliche Bedingungen schaffen. Bislang beträgt die Wassertemperatur im Becken fünf Grad. Im Frühjahr heben wir sie wieder auf 20 Grad an. Damit stimulieren wir den Fortpflanzungsprozess. Nach zehn Tagen bekommen die Fische ein Hormoninjektion. 20 bis 30 Tage später kann man den Kaviar herausoperieren, so dass er mit der Milch der männlichen Fische befruchtet werden kann. Insgesamt muss man das Störweibchen etwa einen Monat darauf vorbereiten. Wenn man es sofort will, dann klappt es nicht."

    Fische ohne Fluss, Hormonspritzen statt Fortpflanzungstrieb - rentabel, global einsetzbar und nachhaltig. Die Bios-Methode passt gut in die moderne Welt der Fischereiwirtschaft. Die Störe im Kaspischen Meer wird sie nicht retten. Aber die Zukunft des Produktes Kaviar für die globalen Märkte der Nobelgastronomie ist gesichert.

    Literatur: Vanora Bennett, The Taste of Dreams – An Obsession with Russia and Caviar, Headline Book Publishing, London, 2003. Übersetzung: Andrea Rehmsmeier