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Kampnagel Sommerfestival 2016
Die Macht der Geste

Wie sehr bestimmen Gesten unser Denken und Handeln? Dieser Frage ist die Künstlergruppe Ligna in ihrem neuen Projekt "The Kommunity" beim Kampnagel Sommerfestival nach. Ihre These: Wer in der Gesellschaft das Sagen hat, hängt vor allem von den Gesten ab.

Von Juliane Reil | 11.08.2016
    Ein Transparent mit dem Logo des Kampnagel Sommerfestivals 2016 hängt am 09.08.2016 in Hamburg auf dem Gelände der Kampnagelfabrik im Eingangsbereich an der Halle K6.
    Ein Transparent mit dem Logo des Kampnagel Sommerfestivals 2016 hängt am 09.08.2016 in Hamburg auf dem Gelände der Kampnagelfabrik im Eingangsbereich an der Halle K6 (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    "Sind Sie bereit? Bereit für The Kommunity?",
    fragt mich die anonyme Stimme über Kopfhörer, als ich zwischen anderen Besuchern im Theaterfoyer auf Kampnagel in Hamburg stehe.
    "Sehen Sie sich um. Die Leute hier bilden keine einheitliche Gemeinschaft, doch sie teilen einen gemeinsamen Raum, den Hörraum. Sie haben diesen Raum verlassen und sind Teil einer Geheimgesellschaft geworden. The Kommunity."
    Wie in einer Seifenblase fühle ich mich, von meiner Umgebung durch eine unsichtbare Wand getrennt. Das ist die Absicht der Künstlergruppe Ligna. Ihr neues Stück "The Kommunity" setzt sich mit der Macht der Geste auseinander. In einer Installation aus Klang, Raum, Licht, Hör-Essay und Film werde ich selbst zum Performer, der Gesten nachahmt und erfindet. Aus gutem Grund, wie Ligna-Künstler Torsten Michaelsen erklärt:
    "Wofür wir anleiten können, ist erst einmal bestimmte Situationen zu schaffen, in denen man dann zunächst etwas sehr äußerlich ausführt, aber dadurch eben eine bestimmte Erfahrung in dieser Situation macht."
    Es geht um gesellschaftliche Machtverhältnisse
    Zum Beispiel soll ich die Finger meiner Hand zu einem Guckloch formen, durch das ich die anderen Menschen im Raum wie durch eine Kamera betrachte. Dieses spielerische Moment ist einerseits schön, kommt mir aber auch etwas albern vor.
    Bei den Projekten von Ligna geht es im Kern um gesellschaftliche Machtverhältnisse, und wie man sich von ihnen lösen kann. Das neue Projekt "The Kommunity" führt diese Arbeiten inhaltlich fort.
    "Macht wird in der Gesellschaft, in der wir uns befinden, sehr stark auf Körper ausgeübt. Darüber eben dass unsere Körper zum Beispiel bestimmten Regulationen im öffentlichen Raum unterliegen, durchaus ja auch direkten Gewaltverhältnissen und wir auch denken, der Körper ist der Ort, an dem man Praktiken entwickeln kann, sich dem freizusetzen."
    Körperliche Gesten legen uns fest – auf eine Gemeinschaft, die sie lesen kann. Man könnte sogar sagen, Gesten sperren uns ein. Aber können uns dieselben Gesten auch befreien? Das Projekt "The Kommunity" will diese Frage erforschen. Inzwischen stehe ich allein in einer weißen Kammer. Vor mir ein riesengroßer Monitor, in dem ich mein Spiegelbild erkenne. Dann wieder die Stimme, die mir fast ein wenig esoterisch vorkommt.
    "Fragen Sie sich sorgfältig: Wer sind Sie? Was treibt Sie an? Woher kommen ihre Gesten?"
    Im nächsten Moment leuchten auf dem Monitor Bilder aus Filmklassikern auf. Zum Beispiel ist Jean Paul Belmondo in Godards Film "Außer Atem" zu sehen. Langsam fährt er sich mit dem Daumen über die geschlossen Lippen. Im Film ist diese Bewegung ein Geheimzeichen. Als wäre er mein Spiegelbild werde ich aufgefordert, seine Geste nachzuahmen. Die Weitergabe einer Geste, die in diesem Fall abweichend vom kulturellen Zeichenkanon ist. Eine andere Form der Befreiung: die Parodie.
    "Zum Beispiel einen zentralen Bestandteil nimmt ein Film von Jean Rouch ein, "Les maíetres fou" heißt der, in dem es um die Hauka geht, eine Religionsgruppe in Ghana, die Gesten der Kolonialherren – der Film stammt aus den 50er-Jahren –übernimmt und in so was, was eigentlich aussieht wie ein Ritual, aber überspitzen und der Lächerlichkeit preisgeben."
    Mittlerweile habe ich die Kammer verlassen. Wieder die Stimmen.
    "Sie haben Gesten gesehen. Schauen Sie nach rechts Begegnen Sie nun anderen Körpern."
    Zum Nachdenken anregen
    Mit anderen Teilnehmern von The Kommunity interagiere ich und schaffe neue Gesten. Ob dadurch wirklich eine Befreiung möglich ist? Es fühlt sich nicht so an. Die freundlich formulierten Imperative der Stimme erzeugen bei mir eher Unbehagen. Sie ermutigen zur freien Geste, wollen aber doch kontrollieren. Auch wenn die Durchführung der Performance weniger reizvoll ist, ist der Gedanke dahinter dennoch interessant. Und auf den kommt es auch Torsten Michaelsen an.
    "Tatsächlich wollen wir erst einmal nur dazu anregen, darüber nachzudenken, welche Formen vielleicht auch von Uneigentlichkeit des gestischen Repertoires möglich wären – also von "das ist jetzt nicht mein authentischer Ausdruck, wie ich mich gebe" – um vielleicht anders agieren zu können. "
    Warum Kampnagel sein diesjähriges Sommerfestival mit dem Schwerpunkt "Kunst und digitaler Aktivismus" gerade mit dieser Performance eröffnet, muss unklar bleiben. Den Aspekt des Handlungsraumes im Digitalen bleiben Ligna mit ihrem Projekt schuldig.