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Weltgesundheitsorganisation
Doktor WHO vor neuen Aufgaben

Zika, SARS, Ebola - die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte seit der Jahrtausendwende einige Krisen zu meistern, was ihr nicht immer gut gelang. Dabei hat sie in ihrem 70-jährigen Bestehen durchaus bedeutende Erfolge vorzuweisen - man denke allein an die Ausrottung der Pocken.

Von Joachim Budde | 25.03.2018
    Das Gebäude der WHO in Genf.
    Das Gebäude der WHO in Genf. (dpa/pa/epa Keystone Di Nolfi)
    New York, der 19. Juni 1946: Die Stimme des angehenden WHO-Generalsekretär, Brock Chisholm, nimmt im Henry Hudson Hotel einen feierlichen Ton an bei der 18. Plenarsitzung der International Health Conference.
    "Die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation, die jetzt 79 Staaten angenommen haben, erklärt, dass die Gesundheit aller Völker wesentlich ist für das Erlangen von Frieden und Sicherheit."
    Als der designierte erste Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation diese Rede hält, liegt Europa in Trümmern. Damals hat sich eine Erkenntnis durchgesetzt, wie Bernhard Schwartländer, heutiger Chef der Kanzlei des WHO-Generaldirektors, sagt:
    "Ohne Gesundheit kann es keinen Frieden geben. Ohne Gesundheit kann es keine nachhaltige Entwicklung geben. Das ist undenkbar. Ohne Gesundheit kann man nicht glücklich sein."
    "Der Genuss des bestmöglichen Gesundheitszustands ist ein grundlegendes Recht jedes menschlichen Wesens. Ohne Ansehen der Rasse, Religion, der politischen Überzeugung, wirtschaftlicher oder sozialer Verhältnisse. Und diese Prinzipien sind die Basis für Glück, einträchtige Beziehungen und Sicherheit aller Völker."
    Große Ziele, für viele ferne Ziele
    Frieden – Glück – Gesundheit. Hehre Ziele. Große Ziele. Und bis heute für viele Menschen ferne Ziele. Denn noch immer gibt es in fast der Hälfte der WHO-Mitgliedsländer weniger als einen Arzt pro 1000 Einwohner. 100 Millionen Menschen geraten jedes Jahr in Armut, weil sie Arztkosten und Medikamente bezahlen müssen. Für viele reiche Länder dagegen ist in Zeiten der Globalisierung der Schutz vor Pandemien, vor dem nächsten Ebola-Ausbruch das Wichtigste.
    Wohin also steuert die Weltgesundheitsorganisation? Tedros Adhanom Ghebreyesus ist heute Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation in Genf:
    "Was die Welt im Jahr 1948 versprochen hat, als die WHO gegründet wurde, Gesundheit für alle – das gilt noch heute", sagt der Äthiopier Tedros Adhanom Ghebreyesus.
    Gesundheit seit 1948 ein Menschenrecht
    1948 beginnt eine neue Zeitrechnung. Die Vereinten Nationen erklären Gesundheit zu einem Menschenrecht und gründen eine Agentur, die dieses Recht auf Gesundheit für alle voranbringen soll. Am 7. April 1948 tritt ihre Verfassung offiziell in Kraft.
    Um die Bedeutung dieses Moments zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, in welcher Zeit das geschah und dass es alles andere als selbstverständlich war, sagt Robert Yates:
    "Gerade noch hatten sich die Menschen im Zweiten Weltkrieg gegenseitig umgebracht. Und jetzt verfolgten sie die Idee, dass jedermann ein Recht auf Gesundheitsversorgung habe – das waren kühne Forderungen."
    Robert Yates ist Experte für Gesundheitsökonomie der Denkfabrik Chatham House, dem Royal Institute of International Affairs in London. Er erinnert daran: Bevor die WHO entstand, gab es auch in der Gesundheitsversorgung ein Mehr-Klassen-System. Wer arm war, starb, wer reich war, überlebte – bei exakt derselben Krankheit.
    "Das ist völlig inakzeptabel. Und es ist einer der Triumphe von 1948, dass wir das heute so sagen. Im Jahrhundert zuvor war es so, dass Zugang zu Gesundheitsversorgung etwas für Männer war – damit Länder Krieg führen und Fabriken betreiben konnten. Aber seit Errichtung der WHO und Einführung des Allgemeinen Rechts auf Gesundheit hat jeder Mensch Anspruch auf diese Dienstleistungen. Das ist eine der großen Errungenschaften der letzten 70 Jahre."
    Vielfältige, fast unüberschaubare Aufgaben
    Von Beginn an waren die Aufgaben der Weltgesundheitsorganisation vielfältig bis kaum überschaubar. Sie gibt der Welt einen Rahmen in allen möglichen medizinischen Fragen: Von der Familienplanung über Ernährungsforschung und Impfempfehlungen bis zur Bewertung von Krebsrisiken. Und natürlich der Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria, HIV/Aids, Grippe, Kinderlähmung, Ebola oder Zika – um nur ein paar zu nennen. Da verliert selbst der geneigte Beobachter leicht den Überblick. Fragen wir also einen Experten nach den Errungenschaften.
    Gavin Yamey leitet das Center for Policy Impact in Global Health an der Duke University:
    "Der größte Erfolg der WHO – ich glaube, jeder denkt da zuerst an die Ausrottung der Pocken."
    Die Pocken sind die bislang einzige menschliche Krankheit, die auszurotten gelungen ist, sagt Gavin Yamey. Ende der 1960er tötete die Krankheit noch rund 2,7 Millionen Menschen jedes Jahr. Die WHO zeigte, dass sie verschiedene Gruppen zusammenbringen konnte, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. 1980 erklärte sie die Pocken offiziell für ausgerottet.
    Daneben gebe es aber eine Reihe von Leistungen, die häufig übersehen würden. Für Gavin Yamey von der Duke University in Durham im US-Bundesstaat North Carolina zählen Kampagnen fürs Impfen und gegen Tabak zu den eindeutigen Erfolgen der WHO. Aber noch wichtiger, so Yamey, sei anderes:
    Kleine, alltägliche Heldentaten
    "Diese unbesungenen kleinen alltäglichen Heldentaten der WHO. Und zwar dass sie als die herausragende internationale Gesundheitsagentur wissenschaftliche und technische Leitlinien für alle Länder bereitstellt – tagtäglich. Das kommt nicht in die Schlagzeilen, aber es ist unersetzlich für die Erfolge in der Globalen Gesundheit und rettet Leben."
    Bei allem Lob ist Gavin Yamey aber auch deutlich, wenn man ihn nach Misserfolgen fragt.
    "Wie viele Stunden oder Tage haben wir, um darüber zu sprechen?", antwortet er dann.
    Unendlich viele Kommissionen und Berichte hätten immer wieder Schwächen, Unzulänglichkeiten und Misserfolge der WHO hinlänglich beschrieben.
    "Es ist eine langsame, schwerfällige, bürokratische Organisation. Und sie ist zuweilen dafür kritisiert worden, dass sie politischen Einfluss auf wissenschaftliche und technische Entscheidungsprozesse zugelassen hat."
    Solche Kritik hat es immer wieder gegeben. Gavin Yamey nennt ein Beispiel:
    "Es hat viele Berichte gegeben, dass die WHO während des Ebola-Ausbruchs in Westafrika am Steuer eingeschlafen ist. Diese Kritik ist wirklich berechtigt."
    Erinnerungen an die Anti-Pocken-Kampagne
    Wenn man genauer hinschaut, dann gab es schon bei der Pocken-Ausrottung Mängel. David Heymann war in Indien am Eradizierungsprogramm beteiligt.
    "Ich habe zwei Jahre lang für die WHO daran mitgearbeitet, alle Fälle von Pocken ausfindig zu machen und Ringimpfungen durchzuführen, also alle Kontakte der Patienten und die Kontakte der Kontakte zu impfen. Das war eine sehr interessante Erfahrung, denn ich war sehr jung, hatte mein Medizinstudium gerade beendet, wie viele andere Leute in dem Programm auch."
    Die Industrieländer stellten die Mittel und die Technik zur Verfügung, die Entwicklungsländer sollten ihre Behördenmitarbeiter einsetzen. David Heymann erinnert sich:
    "Wir hatten das Geld und die Fahrzeuge. Die indischen Amtsärzte mussten mit uns arbeiten statt wir mit ihnen. Aber das Programm war sehr erfolgreich. Schon vier Monate nach meiner Ankunft in Indien waren die Pocken aus einem Bezirk verschwunden."
    Epidemiologe Heymann lehrt inzwischen an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Er erinnert sich auch an die Vorwürfe damals.
    "Der große Kritikpunkt war, dass das Programm keinerlei Infrastruktur hinterließ. Nicht einmal Leute, die sich mit Epidemiologie auskannten oder Impfprogramme für Kinder organisieren konnten. Und auch keine Maßnahmen, um die Gesundheitsaktivitäten vor Ort zu stärkten. Das hat uns gelehrt, dass nicht wir die Aufgabe erledigen müssen, sondern den Ländern helfen müssen, die Aufgabe selbst zu erledigen."
    Nächstes Ziel: Polio ausrotten
    Der strahlende Erfolg mit den Pocken soll sich möglichst bald wiederholen. Mit Polio, dem Erreger der Kinderlähmung.
    Bernhard Schwartländer ist im WHO-Hauptquartier in Genf Stabschef des amtierenden WHO-Generaldirektors Tedros Adhanom Ghebreyesus. Schwartländer erklärt:
    "Wir brauchen natürlich einen Bruder oder Schwester der Pocken, das ist die Polio, auch eine Erkrankung, die natürlich auch in Deutschland sehr viel Leid verursacht hat, wir sind jetzt ganz nah dran, wir haben nur noch in drei Ländern tatsächlich Poliofälle, das heißt da wäre vielleicht der zweite Riesenerfolg und diese beiden Beispiele sind sicherlich sehr eindrucksvolle Beispiele, wie die Arbeit der WHO dann erfolgreich sein kann."
    Wir haken nach:
    "Jetzt könnte man bei Polio sagen: die Ausrottung ist ja schon öfter angekündigt worden für ein festes Jahr und dann auch immer wieder genauso häufig verschoben worden. Da gibt es schon auch Kritik gerade in dem Punkt."
    Bernhard Schwartländer entgegnet: "Es ist natürlich immer einfach zu kritisieren, wenn man ein solches Gesundheitsziel nicht erreicht. Aber wir müssen uns natürlich auch die Welt anschauen."
    Gesundheit mag die Voraussetzung für Frieden und Glück sein – wie es so klangvoll in der WHO-Verfassung heißt –, Gesundheit braucht ihrerseits aber auch den Frieden.
    Bernhard Schwartländer: "Wenn man das isoliert nur sieht: 'Was hat die WHO geleistet?', ohne zu verstehen, was wirklich dahintersteht an politischen Situationen, wird man das nicht wirklich begreifen."
    Tedros Adhanom Ghebreyesus, der aktuelle WHO-Chef, schlägt einen großen Bogen:
    "Es ist der 70. Geburtstag der WHO, ein Anlass, Erfolge der Vergangenheit zu feiern und die Zukunft neu zu denken, Es ist außerdem der 40. Jahrestag der Erklärung von Alma Ata, ein Anlass uns erneut zu vergewissern, dass der menschenzentrierte Ansatz einer Basis-Gesundheitsversorgung die Grundlage unserer Anstrengungen sein muss, um universelle Gesundheitsversorgung zu erreichen. Und es ist der 100. Jahrestag der Spanischen Grippepandemie. Ein Anlass, uns daran zu erinnern, welch verheerendes Potenzial Krankheitsausbrüche haben, wenn wir unvorbereitet sind."
    Von Leuchtturmprojekten zu Barfußärzten
    Ende der 1970er Jahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Gesundheitsentwicklungshilfe an weiten Teilen der Bevölkerung vorbeilief, der sie eigentlich nützen sollte. Es fehlten Krankenhäuser, darum baute man große teure Hospitale, deren Einweihung wunderbare Bilder mit lächelnden Politikern hervorbrachten. So wie das "Schwarze Löwen Hospital" in Äthiopien. Als es 1966 eingeweiht wurde, blieb es zunächst sieben Jahre lang geschlossen, denn dieses Krankenhaus allein hätte zwei Drittel des gesamten Gesundheitsbudgets des Landes verschlungen.
    In Alma Ata, der Hauptstadt der Sowjetrepublik Kasachstan, verabschiedete die WHO-Generalversammlung 1978 ein neues Programm. Robert Yates, der Gesundheitsökonom vom Chatham House, fasst es so zusammen.
    "Die Primary-Health-Care-Bewegung von Alma Ata konzentrierte sich darauf, kosteneffiziente Leistungen nah bei den Menschen zu erbringen, ein wirklicher Versuch, Gesundheit für alle zu schaffen."
    Beobachter sehen diese Konferenz und die Bewegung für Primary Health Care als Meilenstein. Weg von Leuchtturmprojekten hin zu einer breiten Versorgung mit dem, was die Menschen wirklich benötigten.
    Die WHO propagierte, dass nicht nur Ärzte Medikamente geben sollten. Dorffreiwillige wurden zu Gesundheitshelfern – genannt Barfußärzte – ausgebildet. Doch auch Alma Ata und die Public-Health-Care-Bewegung blieben unvollendet, wie Yates betont.
    Die Rolle von Thatcher und Weltbank
    "Das ist enttäuschend und liegt zu einem großen Teil an der Politik der 80er Jahre, als eine Menge Druck auf Regierungen der Entwicklungsländer ausgeübt wurde, öffentliche Mittel für die Gesundheitsversorgung zu kürzen. Die USA, Margaret Thatcher und die Weltbank spielten dabei eine große Rolle. Darum gewann diese Bewegung nicht den Schwung, den wir wollten."
    Gesundheit für alle. Das bedeutet heute überall auf der Welt auch Gesundheitsschutz. Und doch hat dieser Begriff in den reichen Ländern eine andere Bedeutung als in Entwicklungsländern, sagt David Heymann:
    "Ein gutes Beispiel ist der Ebola-Ausbruch. Für ein Industrieland bedeutete Gesundheitsschutz: Wir müssen die Krankheit von uns fernhalten. Aber für ein Entwicklungsland, in dem Menschen an Ebola erkrankten, bedeutete Gesundheitsschutz: Ein funktionierendes Gesundheitssystem, das den Ebola-Patienten die Versorgung bereitstellte, die sie brauchten."
    Beim Ebola-Ausbruch in Westafrika funktionierte weder das eine noch das andere. 11.000 Menschen starben damals. Es fing im Dezember 2013 an, als in Guinea erste Menschen am Ebolafieber erkrankten.
    In der Finanzkrise im Jahr 2011 hatte die Weltgesundheitsversammlung der WHO die Mittel gekürzt. Die strich daraufhin ihrerseits das Budget der Abteilung für Global Health Security und die Notfallreserven zusammen. Epidemiologe David Heymann bilanziert:
    "Die Weltgesundheitsversammlung hat zugelassen, dass dieses System zusammenbrach. Mit dem Ergebnis: Als der Ebola-Ausbruch kam, reagierte die WHO nicht schnell und nicht entschieden genug. Der Ebola-Ausbruch bekam katastrophale Ausmaße, das Virus breitete sich in mehreren Ländern aus und tötete unnötig viele Menschen."
    Im März 2014 wurde deutlich, dass es sich um eine Epidemie handelte, die auch die Nachbarländer betraf. Doch von vielen Fällen erfuhr die WHO gar nicht oder erst sehr spät. Manche betroffenen Länder hielten die wahren Zahlen sogar bewusst zurück, um die Wirtschaft zu schonen. Es dauerte fast ein halbes Jahr, ehe die WHO den Internationalen Gesundheitsnotstand ausrief.
    Lehren aus Ebola hart gelernt
    Bernhard Schwartländer, der Stabschef der WHO blickt zurück:
    "Wir haben da sehr viel gelernt. Einen Teil dieser Lektionen mussten wir auch sehr hart lernen. Denn das Riesenproblem, das wir mit der großen Ebola-Epidemie hatten, war natürlich ein Umbruchspunkt. Die WHO hat auch erkannt, wo tatsächlich echte Schwächen waren in einer Konstruktion einer Organisation, die nicht ideal in Hinblick auf die Weltseuchenbekämpfung aufgestellt war."
    Inzwischen hat die WHO strukturelle Veränderungen in Angriff genommen. In der Demokratischen Republik Kongo hätten sie vor etwa einem halben Jahr bereits Früchte getragen, wie WHO-Führungskraft Schwartländer sagt:
    "Wir hatten einen anderen Ebola-Ausbruch, einen kleinen Ebola-Ausbruch, von dem die meisten Leute nicht gehört haben. Und das ist ein Erfolg. Wir haben ein Dashboard inzwischen eingerichtet, wo wir mit 30-minütiger Verspätung tatsächlich alle diese Informationen hier zentral zusammenführen können, wo wir innerhalb von wenigen Tagen tatsächlich die Spezialisten vor Ort hatten, und dadurch einen Ausbruch verhindert haben."
    Ein Erfolg. Andererseits ist Zentralafrika anders als Westafrika immer wieder mit kleinen Ebola-Ausbrüchen konfrontiert, dort bleiben sie fast immer klein. Die Nagelprobe wäre ein Ausbruch im Tschad, einem Land ohne Erfahrung und mit einem katastrophalen Gesundheitssystem.
    Gavin Yamey von der Duke University in den USA zeigt sich erfreut angesichts der Aussagen von Schwartländer:
    "Es ist ermutigend von Bernhard zu hören, dass er das Gefühl hat, die WHO ist auf dem richtigen Weg und jetzt besser vorbereitet als während der großen Ebola-Epidemie in Westafrika."
    Die WHO habe eindeutig Lehren gezogen, daran bestehe kein Zweifel, bestätigt Yamey.
    "Wer aber denkt, das internationale Gesundheitssystem sei auf eine große Pandemie vorbereitet, ist völlig verblendet. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, um sicherzustellen, dass jedes Land – ob mit niedrigem, mittlerem oder großem Einkommen – die Gesundheitskapazitäten hat, die dafür nötig sind."
    Finanzielle Ausstattung der WHO
    Für Gavin Yamey und andere Global-Health-Experten sind noch etliche Probleme zu lösen.
    "Hier ist ein perfektes Beispiel: Die WHO hat um nur 100 Millionen Dollar für den Notfallfond gebeten. Während wir hier sprechen, schaue ich auf der Website nach, wieviel die Welt seit 2015 zusammengetragen hat: Gerade einmal 44,5 Millionen. Das ist armselig! Wenn die Weltgemeinschaft nicht einmal nach einer Krise wie Ebola eine so winzige Summe aufbringen kann – hundert Millionen – was machen wir da?"
    Bernhard Schwartländer sagt zur Geldfrage:
    "Man vergisst das immer, wenn man eben nur über die WHO redet: Wir brauchen 500 Millionen im Jahr mehr, aber 500 Millionen, gehen Sie zu einer großen Firma, ist nichts."
    Die Zahlungsmoral ist das eine. Das andere: Die Finanzierung an sich ist aus dem Gleichgewicht. Nur noch 20 Prozent des WHO-Budgets sind Pflichtbeiträge, also Geld, das die Organisation einsetzen kann, wie sie möchte. Damit sind die Grundfunktionen der WHO unterfinanziert. Die restlichen 80 Prozent vergeben die Mitgliedsländer für bestimmte Zwecke. Yamey kritisiert das:
    "Diese zweckgebundenen Mittel sind tatsächlich der Kern des Problems, vor dem die WHO steht."
    Gates-Stiftung ein wichtiger Akteur
    In den letzten Jahren hat es sich weiter verschärft, weil private Geldgeber es genauso machen. Nach den USA bekommt die WHO das meiste Geld von der Bill-and-Melinda-Gates-Stiftung. Gavin Yamey:
    "Globale Gesundheit hat sich enorm verändert. Wir haben viele neue Spieler, und sie sind sehr willkommen, denn sie haben neue Energie und neues Geld mitgebracht und gehen neue Wege. Keine Frage. Verdrängen sie die WHO? Im Gegenteil. Mehr denn je brauchen wir eine überspannende Gesundheitsagentur. Sie muss auf globaler Ebene die gegenläufigen Aktivitäten koordinieren und auf Länderebene sicherstellen, dass die Ärmsten am meisten von den neuen Geldern profitieren."
    Rolf Korte verbringt seine Winter bei seiner Familie in Kenia. Das Interview mit ihm findet an einem Abend statt, da ist es ruhiger, bis auf die Grillen vor dem Fenster. Der Professor für Globale Gesundheit hat in Kenia aus nächster Nähe beobachten können, wie ein Gesundheitssystem sich in eine positive Richtung entwickelt. Schon Anfang des Jahres 2000 bat die kenianische Regierung die WHO und die Bundesregierung um Beratung in Sachen Krankenversicherung. Rolf Korte war daran beteiligt und erinnert sich heute.
    "Interessanterweise hatte die Regierung selber schon einen Gesetzentwurf formuliert und ganz bewusst alle Geber außen vor gehalten bei der Formulierung dieser Grundstruktur, um sich das nicht zerreden zu lassen."
    Denn wenn es um das Gesundheitssystem geht und darum, wie es finanziert werden soll, stoßen die vielfältigsten Philosophien aufeinander. Rolf Korte beschreibt, wie sich die Lage mitunter darstellt:
    "Sie haben dann natürlich die Amerikaner, die diesen Weg verfolgen, dann haben sie die Briten und die Skandinavier, die eher ein rein steuerfinanziertes System wollen und so weiter, da gibt es ja die unterschiedlichsten Philosophien. Die Weltbank, habe ich gerade hier erlebt, schießt dann dazwischen und sagt, das sei alles ein Traumgebilde, was hier verfolgt wird und reißt das sozusagen in Stücke – das geht natürlich nicht."
    Interessen der Empfängerländer
    Manchmal müssen die Länder ihre Interessen verteidigen. Heutzutage wisse gute Entwicklungszusammenarbeit das zu berücksichtigen, sagt Korte, der früher selbst für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), eine der staatlichen deutschen Entwicklungshilfe-Organisationen, gearbeitet hat.
    "Wir können ihnen Informationen bieten, wie es in Deutschland läuft, was bei uns gut läuft, was nicht so gut läuft, oder in anderen Ländern läuft, ich glaube, wir müssen immer erst mal zuhören, was die Länder selber wollen und vorhaben."
    In Kenia ist das Konzept aufgegangen, glaubt Korte.
    "Immerhin etwa die Hälfte der Bevölkerung hat Zugang über eine Art soziale Krankenversicherung zu Gesundheitsdiensten. Das ist doch schon mal was. Und diese Zahlen, da gibt es ganz konkrete Vorstellungen, wie man in den nächsten Jahren versuchen will, diese Zahlen noch mal deutlich zu erhöhen."
    Noch weiter sind große Länder in Asien, sagt der Gesundheitsökonom Robert Yatesvom Londoner Chatham House.
    "Länder wie Thailand, China und Vietnam haben ihre öffentlichen Ausgaben für Gesundheit vor etwa zehn Jahren erhöht, sich also von internationaler Hilfe abgenabelt und finanzieren ihre Gesundheitssysteme selbst."
    96 Prozent der Chinesen krankenversichert
    In China zum Beispiel ist der Anteil der Menschen mit Krankenversicherung seit 2003 von 30 Prozent auf 96 Prozent gewachsen. Yates sagt dazu:
    "Wir erkennen in diesen sehr großen Ländern, dass internationale Hilfe nicht wirklich die richtige Antwort ist. Politische Führer dieser Länder müssen die Verantwortung übernehmen und ihre Gesundheitssysteme selbst finanzieren."
    Ein Lernprozess, der nicht eben einfach war, wie Yates betont.
    "Glauben Sie mir, in der Debatte um die Gesundheitsfinanzierung hat es über die Jahre heftigen Streit gegeben. Manche Länder bevorzugen private Finanzierungsmechanismen, aber die WHO hat wunderbare Arbeit geleistet, dass Einigkeit darin besteht, dass öffentlich finanzierte Gesundheitssysteme die Lösung sind."
    Diese Art der Entwicklungszusammenarbeit passt viel besser zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung, die sich die UNO im Jahr 2016 gegeben hat. Und sie passt viel besser zum aktuellen Ziel der WHO, das unter dem Schlagwort Universal Health Coverage läuft – Allgemeine Gesundheitsversorgung.
    Ziel heißt Universelle Gesundheitsvorsorge
    Dabei geht es nicht mehr nur um Gesundheitszentren, Aufklärung oder Ausbildung. Es geht auch darum, finanzielle Risiken abzusichern. Für Gavin Yamey, den Global-Health-Professor aus Durham, ist das der wesentliche Unterschied zur Bewegung, die in Alma Ata ihren Anfang genommen hat.
    "Universal Health Coverage bietet den Leuten finanziellen Schutz gegen diese Art der Verarmung. Natürlich gehört zur Universellen Gesundheitsversorgung, die Gesundheitssysteme so auszubauen, dass jeder Zugang hat, wenn er es braucht. Aber entscheidend ist auch, die Leute vor Verarmung zu schützen. Davor, dass sie nachts wachliegen und sich den Kopf zerbrechen, wie sie ihren Arzt bezahlen sollen."
    WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus formuliert es so:
    "Alle Wege führen zur Universal Health Coverage. Das wird meine zentrale Priorität sein. Noch immer hat nur die Hälfte der Weltbevölkerung Zugang zu Gesundheitsversorgung ohne Armutsrisiko. Das muss sich dramatisch bessern."
    Etwa 400 Millionen Menschen fehlt der Zugang zu den grundlegendsten Gesundheitsdienstleistungen, deutlich mehr warten auf eine Krankenversicherung. Und die Welt kann immer noch nicht sicher sein vor Pandemien.
    Viel Hoffnung liegt auf dem neuen Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus. Der Londoner Epidemiologe David Heymann:
    "Tedros ist sehr schlau, er hat Universal Health Coverage und Ausbruchsbekämpfung und die Stärkung der Gesundheitsversorgung miteinander verknüpft. Er sagt, es sind zwei Seiten derselben Medaille. Und das stimmt. Man kann nicht das eine haben ohne das andere."
    Bernhard Schwartländer, Kanzleichef von Tedros Adhanom Ghebreyesus, sagt es so:
    "Ohne dass wir Universal Health Coverage erreichen, werden wir uns nie sicher fühlen können vor diesen Ausbrüchen."
    Mehr als 7000 Menschen weltweit arbeiten für die Agentur. Tedros muss die Staaten davon überzeugen, dass sie gute Arbeit leisten und globale Gesundheit das Geld wert ist, das die WHO einfordert. Damit Gesundheit für alle wieder ein Stück näher rückt.
    Gavin Yamey nimmt die Staaten in die Pflicht:
    "Wir alle sind dafür verantwortlich, nicht wahr? Es ist unsere WHO. Die WHO besteht aus den Mitgliedsstaaten. Aus uns. Und dennoch hungern wir sie aus."
    Von der WHO verlangt Yamey, dass sie Überzeugungsarbeit leistet:
    "Die WHO muss noch mehr ihren Nutzen herausstellen. Ich mag Wirtschaftsterminologie nicht unbedingt, wenn es um Gesundheit geht, aber die WHO muss zeigen, welch außerordentlichen Ertrag sie erwirtschaftet, wenn man in sie investiert. Den gesundheitlichen, sozialen und ja auch wirtschaftlichen Ertrag. Sie muss das zeigen, und die Mitgliedsstaaten müssen nachlegen."