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Juliana Kalnay: "Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens"
Spanner auf dem Balkon

Mietshaus Nummer 29. Was sich hier ereignet, beobachtet Rita über Jahre mithilfe eines Spiegels, den sie auf ihrem Balkon platziert hat. Juliana Kálnays Roman ist ein Wimmelbild verschiedener Figuren und unterschiedlicher Zeitebenen, verknüpft durch ein Wohnhaus, dessen Mauern nicht nur im übertragenden Sinne transparent sind.

Von Cornelius Wüllenkemper | 16.05.2017
    Balkon in Gropiusstadt in der südöstlichsten Ecke des früheren West-Berlins.
    Rita beobachtet die Nachbarschaft von ihrem Balkon aus. Der Roman als "poetisches Schelmenstück voller doppelter Böden". (imago/)
    Im ersten Stock rechts wohnt Rita, eine der Figuren in Juliana Kálnays Roman, die wenigstens ein Stück Orientierung versprechen. Rita war jedenfalls von Anfang an dabei und scheint die meisten der Bewohner der vier Stockwerke in diesem merkwürdigen Haus zu kennen. Rita beobachtet die Nachbarschaft mit Hilfe eines Spiegels, den sie auf ihrem Balkon platziert hat.
    "Es gibt Menschen, die sind ihr Haus, und es gibt Menschen, die wohnen nur darin. Sie kaufen sich Möbel, stellen eine Garderobe auf und ein Bett und eine Nachttischlampe und dann sagen sie, das ist mein Haus, da wohne ich. Ich habe viele Menschen hier kommen und gehen sehen und ich kann sagen, die meisten, die sind so. Sie entwickeln vielleicht mit der Zeit ein Gespür für die Art der Bewohner, die Art, wie man hier lebt. Sie übernehmen Gewohnheiten, führen neue ein.
    Sie denken an unsere Straße, wenn sie von ihrem Zuhause sprechen, und fühlen das auch so. Manchmal kennen sie noch ein anderes Zuhause, und manchmal waren sie schon immer hier. Ich war schon immer hier, ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, es gibt nicht viele, die anders sind, weder hier noch anderswo. Nicht viele tragen das Haus, in dem sie leben wie eine Schnecke mit sich herum. [...] Ich spüre, wie das Haus atmet. Wie es Bewohner abstößt oder verschlingt. Ja, ich könnte vom ersten Tag an sagen, wer wieder ausziehen wird."
    "Figuren und ihre Geschichten kommen und gehen wie Schatten"
    Sind Ritas Erkenntnisse und Auskünfte über die Bewohner des Hauses mit der Nummer 29 bloß pure Erfindungen, Behauptungen einer rätselhaften Figur, über die man nicht viel mehr erfährt als spärliche, widersprüchliche Versatzstücke? Figuren und ihre Geschichten kommen und gehen wie Schatten in Juliana Kálnays Roman "Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens", erklärt die Autorin:
    "Der Roman arbeitet sehr viel mit Leerstellen. Es sind Fährten gelegt, die beim Leser bestimmte Assoziationen auslösen können, die auch so intendiert sind, die aber so nie explizit drinstehen. Und dann gibt es wieder Fährten, die vielleicht Assoziationen in eine andere Richtung lenken, und am Ende liest dann jeder vielleicht ein anderes Buch, weil vieles, was da an Fährten gelegt wird, gar nicht wirklich aufgelöst wird."
    Die Struktur von Juliana Kálnays Roman ähnelt einem Wimmelbild verschiedener Szenen und Figuren, die einzig verbunden sind durch das Haus, das sie bewohnen. Dieses Erzählprinzip ist angelegt an George Perecs Kultroman "Das Leben. Gebrauchsanweisung", in dem der Autor in den 1970er Jahren mit fast 1500 Figuren und über einhundert einzelnen Erzählsträngen ein literarisches Soziogramm entwarf.
    "Setzkasten absurder Begebenheiten"
    Kálnays Haus dagegen erscheint wie ein Setzkasten absurder Begebenheiten, surrealer Motive und ungreifbarer Figuren. Die Wills zum Beispiel aus dem obersten Stockwerk links, hat bis zu ihrem plötzlichen Auszug nie jemand zu Gesicht bekommen. Tom dagegen hat sich im Fahrstuhl eingerichtet, was anfänglich auch kaum jemandem auffällt. Außerdem gibt es Kasi, die bei Oscar im Bidet wohnt.
    Oder die Gramo-Zwillinge, die vielleicht auch nur eine Person sind. Maia ist verschwunden und versteckt sich "in ihren Löchern" wie ein Maulwurf, und die Morans aus dem Souterrain, zwei Fotografen, leben in völliger Dunkelheit. Juliana Kálnay arrangiert ihre Motive zu einem literarischen Universum mit starker Anziehungskraft:
    "Dadurch, dass ich, glaube ich, weniger stark bin, Geschichten über den Plot zu entwickeln, ist eben eine andere Möglichkeit, das durch ein gemeinsames Setting zusammenzuhalten. Es war nie so gedacht, dass ich so eine Art Erzähllinie hatte, wo ich dann wusste, das passiert, und dann wird das wieder aufgelöst. Sondern es ist eben dieses Auswuchernde in viele verschiedene Richtungen, weil eben bestimmte Handlungsideen durch andere Texte ausgelöst werden. Und da fand ich auch die Figur des Baumes schön, den es ja auch im Buch als Figur gibt, mit den Ästen, die in unterschiedliche Richtungen wuchern."
    Mann oder Baum, Tier oder Mensch
    "Meine Frau Lina, stolze Besitzerin eines grünen Daumens, die sich schon immer einen Garten mit Laubbäumen gewünscht hatte, stellte mich auf den Balkon. Sie sagte, nur dort bekäme ich genügend Sonne ab. Meine Frau war es auch, die mir täglich Wasser in die Stiefel goss, als im Herbst meine Zehen Wurzeln geschlagen hatten und eine mächtige Baumkrone mir die Sicht versperrte.
    Sie löste meine Tabletten im Gießwasser auf und summte mir unbekannte Melodien vor, während sie mir die Äste ins Gesicht kämmte [...] Im darauffolgenden Frühling brüteten in meinen Achselhöhlen Rotkehlchen, und im Spätsommer besuchten mich die Kinder aus dem Viertel täglich, um von den Früchten, die ich trug, zu kosten. Nachmittags kochte Lina daraus Marmelade, deren Geruch zum Fenster herausströmte und die ganze Nachbarschaft anlockte."
    Die Erzählung aus der Perspektive eines Baumes, das ist nur einer von den zündenden Einfällen, die diesen Roman so überraschend und unterhaltsam machen. Mann oder Baum, Tier oder Mensch, Schatten oder echte Nachbarn - bereitwillig folgt man Kálnay in ihre literarische Welt:
    "Es ist nicht so, dass ich primär von der Realität ausgehe, dass ich sage, ich habe etwas beobachtet und möchte das in Literatur umwandeln. Sondern bei mir geht es eher von den Motiven aus, und das sind meistens eher surreale oder groteske Motive, an denen ich mich dann entlang schreibe. Natürlich ist es aber so, dass man geprägt ist von dem, was man kennt. Man kreiert die Bilder ja nicht aus dem nichts heraus, auch wenn es surreale Bilder sind."
    Kálnays literarisches Universum verfliegt wie flüchtiger Rauch
    Da gibt es etwa die Gruppe der "chronisch Schlaflosen". Sie haben Kinder, achten penibel auf die Ordnung im Hause, pflegen etwas zu bemüht die gute Nachbarschaft und denken schließlich doch nur an ihr eigenes Wohl. Und dann ist da noch Nina, deren Eltern sie und ihren kleinen Bruder plötzlich verlassen:
    "Nina, sechszehn-, siebzehn- achtzehnjährig, die auf dem elterngroßen Bett Mittagsschlaf hält. Sie hat Eltern, die verschwunden sind, doch darüber spricht sie nie. Nina, wie sie den Bruder in den Schrank hievt, damit er ruhig ist. Die Schranktüren lässt sie offen, so bleibt Platz für die Beine. [...] Nina glaubt nicht mehr an Geister. Nina, die nicht viel davon hält, den Bruder mehr herzuzeigen als nötig wäre, und noch weniger von den Kindern im Haus.[...] Nina hat immer Kleingeld und gibt keine Antwort, wenn man sie fragt, woher. Nina ist es egal, worüber gesprochen wird, wenn sie nicht da ist.
    Manchmal geht sie fort aus dem Haus mit der Nummer 29, tage-, wochen-, monatelang. Nina kauft Kekse und Wasserflaschen für ihren Bruder. Nina ist dann plötzlich wieder da, als sei sie nie fort gewesen. Ab und an tanzt, tanzt, tanzt Nina bis zum Morgengrauen und manchmal noch darüber hinaus, auf dem Treppenabsatz. Sie streift die Schuhe ab, bevor sie die Wohnung betritt. Nina, die den Bruder nicht wecken möchte, der Rest des Hauses kümmert sie nicht, die chronisch Schlaflosen schon gar nicht."
    Was hier zunächst wirkt wie kruder Sozialrealismus, wandelt sich kurz darauf in ein federleichtes, burleskes literarisches Motiv. Juliana Kálnay spielt so freihändig und gekonnt mit Handlungsversionen, Erzählhaltungen, sprachlichen Stilen und literarischen Formen, dass man nur beeindruckt sein kann von diesem poetischen Schelmenstück voller doppelter Böden. Am Ende dieser Chronik des Auftauchens und Verschwindens des Hauses und seiner Bewohner, beim "letzten Fest", scheint man endlich einige Rätsel gelöst zu haben. Doch da verfliegt Kálnays literarisches Universum schon wie flüchtiger Rauch.
    Juliana Kálnay: eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens. Roman.
    Wagenbach. 187 Seiten. 20 Euro. E-Book: 17,99 Euro