Donnerstag, 25. April 2024

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Kapitalismuskritik auf der Bühne
Das Festival "Marx' Gespenster" in Berlin

"Marx Gespenster" nennt sich das Theater-Festival in Berlin, das den täglichen Aufforderungen zur Selbstausbeutung nachgehen will. Kapitalismuskritik hat auf der Bühne immer Platz. Schön, wenn sie dann auch gut wäre.

Von Eberhard Spreng | 17.11.2015
    Das Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels in Berlin nahe dem Alexanderplatz
    Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels (picture alliance / Wolfram Steinberg)
    "Die große Welt denkt Mensch zu klein,
    er würd' es auch so sehn'
    Wenn Mensch für sich im Menschensein
    Sich selbst könnt' widerstehn'."
    Die große Welt denkt der Mensch zu klein, säuselt der Kult-Sänger und Klubbetreiber Schorsch Kamerun, und fragt sich, wie der Mensch sich selbst widerstehen könnte. Er steht auf der Vorderbühne mit allerlei perkussiven Kleininstrumenten, rechts bedient der Theatermusiker PC Nackt Klavier und Keyboard, und in der Mitte zirpt der Schauspieler und Performer Fabian Hinrichs an seiner E-Gitarre. In einem reichlich eklektischen Abend wird er nach dem musikalischen Teil der Vorführung mit poetisch-verrätselten Texten zum Alleingang auf der Hauptbühne schreiten. Im Taucheranzug gibt er dort einigermaßen verschwurbelte Textfragmente zur verwirrten Lage des Individuums im neoliberalen Kapitalismus von sich.
    "Ich habe um Hilfe gerufen. Es kamen Tierschreie zurück" ist symptomatisch für die ersten Tage beim Festival "Marx' Gespenster" im HAU. Es geht dabei einerseits um ein gewaltiges Werk der kapitalismuskritischen Welterklärung und andererseits um das jämmerlich in sich selbst zusammengefallene postmoderne Subjektchen, das sich zu bündigen Aussagen über sich und seine Gesellschaft nicht mehr aufraffen mag. Der Titel "Marx' Gespenster" könnte also diesmal nicht nur verstanden werden als die in der Krise wieder herumgeisternden Ideen eines totgesagten Philosophen, sondern auch als die verwirrte Nachkommenschaft des Karl Marx. Die Gespenster, das sind wir, und allen voran das HAU. Denn um das Marxsche Gedankengut für die gegenwärtige Situation unserer Gesellschaft nutzbar zu machen, dazu fehlt es hier an Systematik und kuratorischem Ehrgeiz.
    In "The Marx Sisters" der flämischen Gruppe Stan & de Koe ringen die Töchter des Theoretikers mit dem tonnenschweren Erbe des Vaters und ihrer eigenen Emanzipation. Zwei Schauspielerinnen und der Autor Willem de Wolf fragen sich, wie ihre Geschichte anfangen soll, bringen die Recherche an Stück und Text mit ins Spiel, treten immer wieder aus der Rolle und offenbaren den Widerspruch zwischen Darsteller und darzustellender Figur. Wie soll man das heute verkörpern: den großen emphatischen Traum von der Befreiung des Individuums und der Gesellschaft. Das Stück endet mit der lustigen Parabel von der blauen und der roten Tinte in einer Welt der Zensur: Die blaue soll die Wahrheit verkünden, die rote die Lüge offenbaren. Aber in unserer schönen neuen Welt gibt es keine rote Tinte zu kaufen. Und so fehlt uns die Sprache, in der wir unsere Unfreiheit artikulieren könnten.
    "Ich lasse Geld regnen auf alle Leute
    und die schwimmen im Geld und zwar heute,
    ich hab einen Privatjet das teuerste Modell
    ich flieg überall hin wenn es mir gefällt."
    Mit Schülern der Berliner Hector-Petersen-Schule hat Patrick Wengenroth eine kleine Recherche zum Thema Geld veranstaltet. "!Geld?", so der Titel, ist eine Nummerfolge: Die Lebenswelt von Jugendlichen zwischen Konsum und Starkult, Selbstsuche und Emanzipation von Elternhaus. Man sah schon gelungenere Workshopergebnisse bei der Arbeit mit Schülern.
    Die Theateraufführungen und Performances in den drei Häusern des HAU begleiten Installationen. Phil Collins befragte vier Frauen aus der ehemalige DDR nach den Veränderungen in ihrem Leben nach 1989 und nach der Bedeutung der marxistisch-leninistischen Theorie für ihr Leben heute und zeigt ihre Antworten in einer Videoarbeit.
    "Und jetzt ist Ende, aus! Opel macht zu, Bochumer Verein ist auch zu. Da haben sie gebaut, was haben wir noch hier? Stahlwerke machen auch pleite."
    Chris Kondek und Christiane Kühl dokumentieren in ihrem Video und einigen Großfotos das abgebrochene Kunstprojekt "Shoot Out" über die sieben Überlebensformen aus Ciceros "Über das Gemeinwesen", in dem der römische Denker Zustände nach dem Ende des Geldsystems imaginiert. Reenactment, fotografiert und videografiert, ergänzt durch begleitendes Interviewmaterial dokumentieren eine Welt in Auflösung. Übrig bleiben: Jagen, Tauschen, Klauen, Betteln, Besetzen, Verzichten, Saufen. Man ahnt fröstelnd, dass diese Zukunft an den Rändern der Gesellschaft schon begonnen hat. Die ersten Tage von "Marx' Gespenstern" im HAU aber konnten nicht überzeugen.