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Kapitalismuskritik
Globaler Aufstand für eine bessere Welt

In ihren Büchern "Ändere die Welt" und "Gerechte Freiheit" fordern Jean Ziegler und Philip Pettit dazu auf, die Zwänge und Alternativlosigkeiten, die von wirtschaftlichen Eliten geschaffen werden, zu hinterfragen und anzugreifen. Auch wenn beide Autoren dasselbe Ziel verfolgen: In ihrer Herangehensweise arbeiten sie höchst unterschiedlich.

Von Stefan Maas | 03.08.2015
    Plakat an einem Berliner Haus: "Markt oder Mensch?"
    Plakat an einem Berliner Haus: "Markt oder Mensch?" - Kapitalismuskritik ist salonfähig geworden. (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
    Auch mit 81 Jahren ist Jean Ziegler alles andere als kampfesmüde. Deshalb soll sein jüngstes Buch auch kein Schlusspunkt sein, keine Biographie, das klinge ihm zu sehr nach Tod, erzählte der Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats auf der Leipziger Buchmesse.
    "Es ist eine Zwischenbilanz im Kampf gegen die kannibalische Weltordnung."
    Seine Seite hat Ziegler in diesem Kampf seit langem gewählt, das wissen die Leser seiner früheren Werke genau. Es ist die Seite der kleinen Leute, der Verlierer einer Weltordnung, die er als zutiefst ungerecht empfindet. Für sie fährt er die großen Geschütze auf und geht in gewohnter Manier nicht zimperlich mit seinen Gegnern um.
    "In den letzten 30 Jahren hat sich die Welt zutiefst gewandelt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand die weltweite Bipolarität der Staatengemeinschaft. Aus den Ruinen der alten Welt tauchte eine neue Tyrannei auf: Die Tyrannei der Oligarchien des globalen Finanzkapitals."
    "Die haben eine Macht, finanziell, politisch, militärisch, ökonomisch, wie es nie ein Kaiser, nie ein König, nie ein Papst gehabt hat. Und diese Macht entschwindet jeglicher sozialer Kontrolle, und diese Oligarchie funktioniert nur, was ganz normal ist, nach dem Prinzip der Profitmaximierung."
    Auch der Kontrolle durch demokratisch legitimierte Regierungen, hätten sich die Konzerne längst entzogen, sagt Ziegler.
    "Es geht darum zu verstehen, oder zu versuchen zu verstehen, warum der Raubtierkapitalismus, warum die weltbeherrschende Oligarchie des Finanzkapitalismus, des Kapitals die Entfremdung unseres Bewusstseins durchgesetzt hat. Warum unser Bewusstsein verschüttet ist von dieser neoliberalen Wahnidee zum Beispiel."
    Die Wahnidee von der Ziegler spricht, wird, so der Autor, von ihren Protagonisten mit einer ähnlichen Legitimation verfochten, derer sich schon Herrscher in früheren Zeiten bedienten. Sie erklärten schlicht, ihre Macht sei gottgegeben. Kein Mensch dürfe also daran rühren. Ähnliches hätten die heutigen Wirtschaftseliten in die Köpfe der Menschen gepflanzt.
    Vorschläge für eine gerechtere Weltordnung
    "Die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals berufen sich auf sogenannte 'Naturgesetze der Wirtschaft' um den Menschen aus seiner eigenen Geschichte zu vertreiben, um präventiv jeden Ansatz von Widerstand, der ihm in den Sinn kommen könnte, zu brechen und ihre Profite abzusichern. Der 'Weltmarkt' [...] wird auf diese Weise in den Rang einer 'unfehlbaren unsichtbaren Hand' erhoben."
    Deshalb, so die Argumentation der Wirtschaft, müsse das Ziel aller Politik sein, sämtliche Bewegungen von Kapital, Waren und Dienstleistungen zu liberalisieren und alle menschlichen Handlungen dem Grundsatz der Maximierung von Profit und Rentabilität zu unterwerfen. Nur so könnten die Marktkräfte weltweiten Wohlstand erzeugen. Für Ziegler ist dieses Versprechen eine bewusste Täuschung, die Manipulation durch eine kleine Elite, um sich selbst zu bereichern, während sie die Armen und Schwachen ausbeutet – ihr Elend bewusst in Kauf nehmend.
    Wie aber ließe sich die Weltordnung gerechter gestalten? Nur mit einem globalen Aufstand wie ihn Ziegler kommen sieht?
    Der irische Philosoph Philip Pettit, der in Princeton lehrt und – wenn auch in Deutschland weitgehend unbekannt – in anderen Ländern als einer der bedeutendsten politischen Philosophen der Gegenwart gilt, macht sich in seinem Buch "Gerechte Freiheit" auf die Suche nach einem anderen Weg.
    Sein Konzept, seine Messlatte für mehr Gerechtigkeit, ist das Prinzip der "gerechten Freiheit". Sie kann, argumentiert Pettit, als universeller moralischer Kompass dienen, wenn es darum geht, sich ein Urteil zu bilden über politische und gesellschaftliche Entscheidungen und ihre Auswirkungen:
    "Um eine freie Person zu sein, muss man über die Fähigkeit verfügen, bestimmte wesentliche Entscheidungen zu treffen, ohne die Erlaubnis eines anderen einholen zu müssen."
    Die Grundprinzipien dieser "republikanischen Freiheit" verortet er in der römischen Republik. Es ist nicht die seit der Französischen Revolution oft beschriebene Freiheit der Nichteinmischung, bei der etwa der Staat seine Bürger weitgehend gewähren lässt. Diese Form der Freiheit vergleicht der Autor mit einem Pferd, bei dem der Reiter die Zügel schleifen lässt, aber jederzeit wieder anziehen könnte, wenn es ihm gefällt. Um wirklich frei zu sein, dürfe kein Mensch von der Gnade und Gunst anderer anhängen, wenn es um die wesentlichen Ressourcen des Lebens geht – Nahrung, Wohnsitz, Arbeit, Zugang zu Bildung - denn Gnade und Gunst könnten jederzeit wieder entzogen werden. Um das zu verdeutlichen, zitiert Pettit Algernon Sidney, einen Republikaner des 17. Jahrhunderts:
    "Der, der dem besten und freundlichsten Mann der Welt dient, ist genau so ein Sklave wie der, der dem schlechtesten dient."
    Kontrolle und Gegenkontrolle
    Eine gerechte Freiheit ist für Pettit eine Freiheit der Nichtbeherrschung. Die Menschen sind frei, wenn sie ihren Mitmenschen als Gleichwertige begegnen können, auf Augenhöhe. Das gilt für die Niedrigsten und Höchsten in gleichem Maße. Und gilt auch, so argumentiert der Autor später, auch für Staaten untereinander. Anders als viele liberale Denker befürwortet Pettit auf dem Weg dorthin auch eine aktive Rolle des Staates, solange der Staat eben diese Freiheit gewährleisten kann. Durch Gesetze, durch sittliche Normen und Steuern. Und es den Bürgern möglich ist, ihren Staat, ihre Regierungen zu kontrollieren. Kontrolle ist, argumentiert Pettit, ein ganz wesentlicher Aspekt, denn wie Ziegler diagnostiziert auch er, dass kleine Gruppen ihre Macht zu ihren Gunsten – und damit zum Nachteil der anderen - missbrauchen. Das gilt für ihn für multinationale Konzerne genauso wie für gewählte Regierungen. Aufgrund ihrer Parteiinteressen. Deshalb ist für Pettit die Voraussetzung für Freiheit das Vorhandensein von Kontrolle und Gegenkontrolle.
    "Der republikanische Ansatz misst der Demokratie jedoch nicht nur enorme Bedeutung bei, er argumentiert auch für recht anspruchsvolle, gleichwohl aber plausible Beschränkungen für demokratische Verfahren."
    Pettits Vorschlag: Experten und Kommissionen, die wiederum von anderen Experten und Kommissionen kontrolliert werden, damit auch sie ihre Macht nicht missbrauchen, um Partikularinteressen durchzusetzen. Und mittendrin der Einzelne. Um die Kontrolle durch die Bürger möglichst egalitär zu gewährleisten, spricht sich Pettit sogar für eine Wahlpflicht aus.
    Sowohl Ziegler, der in seinem "Ändere die Welt" sehr ausführlich die philosophischen, soziologischen und politischen Theorien vorstellt, die ihn in Lehre und Aktivismus geprägt haben, als auch Pettit verlangen auf dem Weg zu einer gerechteren Welt viel Geduld von ihren Lesern. Beide lassen sie durch die Tiefen ihres theoretischen Wissens waten, sodass es bei der Lektüre oft harte Arbeit ist, den Kopf beisammen und über Wasser zu halten. Besonders Pettit will seine Leser ermutigen, selber zu forschen und zu bewerten. Dafür gibt er ihnen Kriterien in Form von drei einfachen Tests an die Hand – und fasst seine Argumente dankenswerterweise am Ende des Buches noch einmal Schritt für Schritt kapitelweise kurz und bündig zusammen. Doch auch damit kann er nicht wieder gutmachen, dass er sich über weite Teile des Buches in Wiederholungen und Erklärungen verliert, die sich immer kleinteiliger verschrauben oder zerlaufen. Manche Leser dürfte er damit so verschrecken, dass sie es nicht bis zu seinem Appell am Ende des Buches schaffen. Sein Appell sich zu engagieren. Da rüttelt eine, wenn auch erwartbar rumpelige Ziegler-Beschimpfung dann doch mehr auf.
    Jean Ziegler: "Ändere die Welt". Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen
    Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
    C. Bertelsmann
    Philip Pettit: "Gerechte Freiheit". Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt
    Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann
    Suhrkamp