Donnerstag, 25. April 2024

Kapitel 2
Die Gefangenen

Bis vor ein paar Jahren hätten sich Thomas Welz und Detlef Fahle nicht träumen lassen, dass sie so oft an diesen Ort zurückkehren würden. Beide waren hier in Haft und beide haben über 25 Jahre lang geschwiegen. Welz und Fahle sind die beiden Vorsitzenden des Vereins DDR-Militärgefängnis Schwedt. Jahrelang wäre eine solche Allianz undenkbar gewesen.

Von Benjamin Hammer | 30.09.2014
    Blick durch ein Zellengitterfenster in den Garten
    Blick durch ein Zellengitterfenster in den Garten (Foto: Torsten Dressler)
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    Thomas Welz, ehemaliger Gefangener: Und hier an der Seite, guck mal, da ist dieser Elektroschließer, dieser Magnet, der die Tür freigegeben hat. Es ist also tatsächlich noch ein Originalrahmen.
    Detlef Fahle, ehemaliger Gefangener: Hast Du ein Foto gemacht?
    Welz: Nee, ich habe ja nichts!
    Benjamin Hammer: Die ehemaligen Gefangenen sprachen nicht miteinander, sie kannten sich schlicht nicht oder hatten sich aus den Augen verloren. Das Internet änderte dann alles. Ein Forum entstand, hier konnten sich die Gefangenen anonym über ihre Erfahrungen austauschen. "Das tut verdammt gut", dachten sich viele. Es wurden immer mehr. Irgendwann schrieb jemand seinen ersten Klarnamen ins Forum. Die Gefangenen beschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen.
    Fahle: Also bei mir kannst Du "du" sagen, Benjamin – Detlef – Du – ist dann einfacher ...
    Hammer: Detlef Fahle, 50 Jahre alt, wirkt deutlich jünger, enge Jeans, hochgegeltes blondiertes Haar, arbeitete in der Mode- und Hotelindustrie. Anfang der 80er Wehrpflichtiger beim Fliegertechnischen Bataillon. Nach eigener Aussage unerträgliche Schikane durch Vorgesetzte – aufgrund seiner Homosexualität. Fahle klaut einen Laster, fährt ohne Licht vom Hof. Will seinem Leben ein Ende bereiten. Wird gestellt. Kein Gerichtsverfahren. Kommt für drei Monate in die sogenannte Disziplinareinheit nach Schwedt – das Gebäude steht noch heute.
    Im Lager sind sich Detlef Fahle und Thomas Welz nie begegnet. Zwischen ihren Haftzeiten liegen rund fünf Jahre.
    Thomas Welz, 57, Halbglatze, grauer Schnäuzer. Als junger Mann bei der Marine. An einem Abend zu viel getrunken. Welz kann sich an nichts erinnern, er soll um sich geschlagen haben, versucht haben einem Soldaten die Waffe zu klauen. Urteil des Militärgerichtes: Fünf Monate Militärgefängnis im Winter 1978-1979. Seiner Vergangenheit begegnet Welz mit trockenem Humor.
    Welz: Wir sind ja sowieso die biologischen Sieger der Geschichte. Von daher müssen wir das jetzt nicht übereilen.
    Hammer: Wir sind jetzt in einer dieser Einzelarrest-Zellen. Wir haben die Wände, die mit Kalk verputzt sind, und hier ist eine nackte Frau eingeritzt worden.
    Thomas Welz' Aufnahmeformulat für das DDR-Militärgefängnis
    Thomas Welz' Aufnahmeformulat für das DDR-Militärgefängnis (zur Verfügung gestellt von Thomas Welz)
    Welz: typisch Männerhaushalt.
    Hammer: Und es gibt einen Spruch, der Sie und Ihre Mitstreiter im Verein besonders bewegt. Den sehen wir jetzt auch hier. Man kann es kaum erkennen, ganz, ganz fein.
    Welz: Die Wände sind ja ein paar Mal übergestrichen worden, auch sicherlich nachdem die Wärter den Spruch entdeckt haben, und der Spruch, der durch die Farbe noch zu sehen ist, obwohl man versucht hat, ihn zuzukleistern, lautet: "Verliere nie Deine Träume. Hier bist Du nur, um ihrer ganz sicher zu werden." Das ist genial kurz und könnte eine Überschrift für dieses ganze Areal sein.
    Hammer: Bestand bei Ihnen die Gefahr, die Träume zu verlieren?
    Welz: Ja selbstverständlich, weil für mich war Schwedt einer der Wendepunkte in meinem Leben. Vorher war ich ja einer von den Guten. Ich war ein Freiwilliger, ich wollte die ganze Welt befreien und die siegreiche Arbeiterklasse und ihre historische Mission weltweit umsetzen. Da war ich ganz konform erzogen. Hier in Schwedt habe ich das erste Mal erlebt, wie man auch ohne großen Aufwand Menschen nicht nur dritt- und viertklassifizieren kann, sondern man kann ihnen deutlich zu verstehen geben – und zwar Tag und Nacht, rund um die Uhr -, Du bist ein Nichts, Du bist ein Niemand.
    Hammer: In welcher Verfassung sind Sie dann nach Schwedt gekommen und wie haben Sie sich gefühlt, als zum ersten Mal Sie realisiert haben, ich bin jetzt hier eingesperrt?
    Welz: todesmutig. Den richtigen Kick, den richtigen Ausblick habe ich dann bekommen, als ich oben durch das Blechtor kam. Da sah man dann die linke Ecke vom Lager. Man ist ja vorher nur durch Wald gelaufen, eine Teerstraße durch den Wald, kilometerlang, und sah dann das Lager, und da verbanden sich mit dieser Optik sofort jedwede Optik und Erinnerung, die man in seinem ganzen Leben gesammelt hatte: also Stacheldraht doppelt, dazwischen Hunde, Holztürme, grün gestrichen aus Holz, mit Scheinwerfer oben drauf, Baracken. Das also war der Ort, von dem alle erzählten und von dem die wildesten Gerüchte herumwaberten, und er sah tatsächlich zum Fürchten aus in seiner Ausbreitung, in seinem Bild.
    Porträtfoto von Thomas Welz in seiner Volksmarine-Zeit
    Thomas Welz in seiner Volksmarine-Zeit (Foto: Thomas Welz)
    Hammer: Sie haben gesagt, es war nicht einfach, sich die Träume zu bewahren im Gefängnis in Schwedt. Was war das im Alltag, was einen zermürbt hat?
    Welz: Der Alltag, wie ich ihn erlebt habe, war geprägt davon, dass man ständig in Bewegung gehalten wurde. Es gab immer irgendetwas zu tun, oder man musste draußen stundenlang - jedenfalls gefühlt, wir hatten ja keine Uhr, es war auch keine da -, stundenlang im Zählappell draußen herumstehen, warten bis man gezählt wurde, wieder rein. Ich wurde später auch Außenkommandos zugeteilt, zum Beispiel in einer Papierfabrik, und die wussten alle, wo man herkam. Man sah aus wie ein Lumpenheinz. Mit diesen abgewrackten ehemaligen Uniformen sah man schon aus wie eine erbärmliche Figur. Nichts passte, alles war zu groß, der gelbe Streifen war noch auf die schwarze Kombi zum Arbeiten aufgenäht. Auch ohne den hätten die anderen gewusst, wo man herkommt. Man hätte das gar nicht gebraucht. So zerlumpt ist kein anderer herumgelaufen.
    Hammer: Thomas Welz Mitstreiter Detlef Fahle durfte damals nicht in einem der Außenkommandos arbeiten. Fluchtgefahr – meinte die NVA. Immer in Bewegung – so hat auch Fahle seinen Aufenthalt in der Disziplinareinheit erlebt. In den 80er-Jahren kamen die NVA-Planer auf eine Idee. Sie bauten neben das Militärgefängnis ein Gebäude, das in ihren Augen eine Umerziehungsanstalt für Soldaten war. Bis zu drei Monate kamen vermeintlich renitente Soldaten in die Disziplinareinheit. Für Kommandeure machte es das relativ einfach. Auch Detlef Fahle berichtet vom Schreiton der Kommandeure, auch er erinnert sich an den permanenten Laufschritt. Wir haben das Essen immer in uns reingeschlungen, sagt er, man wusste ja nie, wann der Befehl kam, das Essen abzubrechen.
    Ein karger Plattenbau - 90 Meter lang, 13 Meter breit, vier Stockwerke. Hier befand sich die Disziplinareinheit. Detlef Fahle steht in einem Zimmer im Erdgeschoss. Er blickt auf den früheren Appellplatz. Hängengeblieben ist bei ihm das orangene Licht, das hier im langen Winter seines Aufenthaltes brannte.
    Heute passt hier nur noch wenig zusammen. Mitten auf dem Appelhof steht dort ein Spielplatz. Gegenüber steht noch das ehemalige Stabsgebäude, heute ist es ein Obdachlosenheim.
    Was war für ihn Schlimmste an seiner Haft?
    Fahle: das Schweigen danach ... Das Schweigen danach, weil es ist in der Natur des Menschen, sich anderen Leuten mitzuteilen, sich das von der Seele zu reden, um auch das zum Beispiel schlimm Erlebte sich von der Seele zu reden, um damit umzugehen, um das für sich selber aufzuarbeiten. Und das konnte man nicht. Man musste damals ein Schreiben unterschreiben, in dem man sich verpflichtet hat, über all das Gesehene und Erlebte ein Leben lang zu schweigen, unter der Androhung, wenn man es denn nicht macht, landet man ganz schnell wieder im Gefängnis. Und ich habe mich damals daran gehalten, habe geschwiegen. Aber eben dieses Schweigen, dieses ganze Erlebte von Schwedt hier in sich reinzufressen, davon keinem zu erzählen – man durfte es nicht beziehungsweise die anderen haben aus irgendwelcher Scheu oder Angst auch gar nicht gefragt.