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Karl Schlögel
"Der Duft der Imperien"

Düfte, Aromen und Gestank: Historiker nutzen Gerüche nur selten für ihre Forschung. Zu flüchtig und zu subjektiv, lautet der quellenkritische Vorbehalt. Doch so bleiben Fragen unbeantwortet. Wie zum Beispiel roch das 20. Jahrhundert? Karl Schlögel versucht sich an einer Geschichtsschreibung mit der Nase.

Von Ulrich Krökel | 02.03.2020
Im Hintergrund der Flacon von Chanel No 5. Davor das Buchcover von "Der Duft der Imperien"
Karl Schlögel legt eine Geruchsgeschichte des 20. Jahrunderts vor (imago/Steinach / Hanser Verlag)
Man tut Karl Schlögel gewiss kein Unrecht, wenn man ihn als einen Mann des Auges und des Intellekts bezeichnet. Bis heute gilt der 2013 emeritierte Professor für Osteuropäische Geschichte als besonders scharfsinniger Beobachter.
In "Der Duft der Imperien" wendet sich Schlögel nun jedoch einer völlig anderen Sphäre der Wahrnehmung und damit der Weltdeutung zu: dem Geruch, und fast scheint es, als wäre er selbst ein wenig erstaunt über seinen Wagemut, das Wesen des 20. Jahrhunderts erschnuppern zu wollen. Gleich mehrfach erläutert er sein Anliegen:
"In unserem Gedächtnis haben sich nicht nur Bilder eingeprägt, sondern auch Gerüche festgesetzt. Es braucht nur einen Windhauch, den Streifen eines Duftes, um eine ganze Szene in unserem Gehirn wieder zum Leben zu erwecken: das Treppenhaus in der Schule; der Odor des Schreibwarengeschäfts; der Benzingeruch der Autos ‒ ob östlicher Trabant oder westlicher Ford. An allen Lebensphasen haftet das Aroma der Zeit, und es kann nicht falsch sein, dem bei einer Rekonstruktion der Vergangenheit Rechnung zu tragen."
An anderer Stelle mutmaßt er: "Vielleicht ist es wirklich so: dass die Welt, die sich in einem Tropfen Wasser spiegelt, auch in einem Tropfen Parfum enthalten ist und das Aroma des Jahrhunderts entfaltet, für das es komponiert worden ist."
Duftzwillinge in getrennten Welten
Was Schlögel in dem schmalen Band schließlich vorführt, ist dann aber doch mehr als ein diffuses Schnuppern und Spekulieren. Er hat eine Geschichte zu erzählen, eine Geruchsgeschichte der beiden Imperien des 20. Jahrhunderts.
Als Ausgangspunkt dient ein historischer Zufall. Die in West und Ost legendären Parfums "Chanel No 5" und "Rotes Moskau" sind so etwas wie Duftzwillinge in getrennten Welten:
"Es zeigte sich, dass beide auf eine gemeinsame Komposition zurückgehen, komponiert von französischen Parfümeuren im Zarenreich, von denen der eine ‒ Ernest Beaux ‒ nach Revolution und Bürgerkrieg nach Frankreich zurückkehrte und auf Coco Chanel traf, während der andere ‒ Auguste Michel ‒ in Russland blieb, bei der Gründung der sowjetischen Parfümindustrie mitwirkte und das Rote Moskau schuf."
Hat Schlögel diese Fährte erst einmal aufgenommen, erweist er sich als historischer Spürhund im besten Sinne. Im Westen lässt er "Coco" Chanel auftreten, wie sie im Labor von Ernest Beaux den mythenumrankten und später so sagenhaft erfolgreichen Duft No 5 auswählt.
Das uneheliche Kind eines umherziehenden Markthändlers steigt zur Stilikone einer Epoche auf, die in "Chanel No 5" ihre ultimative Duftnote findet. Schlögel entwirft hier mit wenigen, mitunter etwas groben Pinselstrichen ein Sittengemälde der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts.
Im Osten waren Parfums ein Klassenmerkmal
Brillanter noch gelingt ihm die Skizze des sowjetischen Ostens, wo Auguste Michels "Rotes Moskau" nach der Oktoberrevolution 1917 eine geradezu widersinnige Erfolgsgeschichte schreibt:
"Von nun an lagen die Geruchswelten der physischen Arbeit, die mit Kräfteverausgabung, Schweiß und Schmutz verbunden war, im Streit mit den Düften des Müßiggangs, der Verzärtelung, der Dekadenz. Parfums konnten nun so verräterisch sein wie Brillen, die den bürgerlichen Intellektuellen verrieten. Sie wurden zum Klassenmerkmal."
Besonders eindrucksvoll arbeitet Schlögel biografische Parallelen heraus. In der Sowjetunion ist es Polina Shemtschushina, die Ehefrau des langjährigen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, die der Parfümindustrie zum Wiederaufstieg verhilft und dem "Roten Moskau" zum Durchbruch.
Und während sich "Coco" Chanel im besetzten Paris mit den Nazis einlässt und sich später in die Schweiz absetzt, fällt Shemtschushina den stalinistischen Säuberungen der Nachkriegszeit zum Opfer und wird nach Sibirien verbannt.
In Auschwitz riecht es nach Leichen
In einem der stärksten Kapitel stellt Schlögel die Gerüche in den deutschen Vernichtungslagern und im sowjetischen Gulag gegenüber. In Auschwitz ist es "der schale, widerliche Geruch von verbranntem Menschenfleisch, der das ganze Lager wie ein Teppich zudeckt".
An der Kolyma dagegen mit ihren extremen Minustemperaturen prägt sich nicht der Leichengeruch ein:
"Die Toten werden hier zu Eissäulen und wie Holzstämme im Freien gestapelt, bis sie vom Tauwetter im Frühjahr freigelegt werden und bestattet werden können, bevor sie auftauen und in Verwesung übergehen. Im Gulag steht der Geruch von Brot für das Überleben."
Karl Schlögels "Duft der Imperien" ist ein Parforceritt durch Lebenswelten und Biografien, Politik und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, dem in seinen großen Sprüngen nicht immer ganz leicht zu folgen ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Historiker etwas zu wenig Zutrauen in seinen olfaktorischen Ansatz hat, um genau diesen dann auf die Spitze zu treiben und die gesamte Palette der Möglichkeiten anzudeuten.
Keine Frage: Gerüche als historische Quellen sind problematisch. Meist sind es eben doch keine reproduzierbaren Parfum-Rezepturen, auf die sich Forschende stützen können, sondern stark subjektiv eingefärbte Beschreibungen von Zeitzeugen. Vor umso größere Aufgaben stellt es die Geschichtswissenschaft, die Welt der Aromen und des Gestanks dennoch zu erkunden. Schlögel weist mit "Der Duft der Imperien" auf diese Lücke hin. Vor allem aber ist die Lektüre des Buches ein inspirierender Genuss.
Karl Schlögel "Der Duft der Imperien. 'Chanel No 5' und 'Rotes Moskau'",
Hanser Verlag, 221 Seiten, 23 Euro.