Aus den Feuilletons

Jugendlicher Utopismus-Wahn ohne Selbstkritik

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Junge Menschen demonstrieren in Berlin. Sie tragen Schilder mit der Aufschrift: WAKE UP - ZEIT FÜR VERÄNDERUNG! - Water Save Water - Denken statt folgen - Tüll statt Müll - SCHEIß AUF PLASTIK
Diese jungen Menschen wollen laut "Welt" das "goldene Zeitalter des veganen, klimaneutralen und rasseblinden Demeter-Menschen noch zu den eigenen Lebzeiten" erleben. © imago stock&people
Von Arno Orzessek · 28.06.2020
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Die "junge Generation" ist von einem "fanatischen Utopismus" geprägt, behauptet die "Welt". Es drohe die Gefahr, dass die jungen Menschen beim "Verlangen" nach einem "grünen Zeitalter" die offene Gesellschaft opfern.
Liebe junge Leute von heute, soweit ihr gern gehätschelt und getätschelt werdet – Finger weg von der Tageszeitung DIE WELT! Denn dort rechnet Jacques Schuster unbarmherzig mit Euch ab.

Abrechnung mit der jungen Generation

"Die junge Generation erstrebt nicht nur ein grünes Zeitalter, sie kämpft auch für ein porentief reines. In diesem ist der Drang, gerecht zu sein, genauso schwach ausgeprägt wie die Selbstkritik. Schlimmer noch: Jeder Ruf nach Mäßigung wird als getarnte Repression und als Ausbeutung verdächtigt und bekämpft. Schon seit Längerem ist unter vielen jungen Leuten der Geist eines fanatischen Utopismus zu spüren, der nach dem Ende des Kommunismus verschwunden war. Dem Verlangen, das goldene Zeitalter des veganen, klimaneutralen und rasseblinden Demeter-Menschen noch zu den eigenen Lebzeiten zu erleben, wird im Zweifelsfall selbst die offene Gesellschaft geopfert."
Immerhin konzediert der WELT-Autor Jacques Schuster, noch sei "der jugendliche Wahn kein Terror. Doch schon jetzt geht mit ihm die Tabuzüchtung im Dienste einer falsch verstandenen Aufklärung einher."
Apropos Tabu! Unter der Überschrift "Von der Sehnsucht des Weibes nach dem Mohren" fragt sich die Schriftstellerin Angelika Overath in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: "Können wir ohne manches alte Wort, das mittlerweile auf den Index gesetzt ist, über Diskriminierung und Schönheit und Identität sprechen?"

Rassismus-Debatte beim Familientreffen

Im Laufe des Artikels stellt Angelika Overath eine ihrer Freundinnen vor: "Ihre Haut ist dunkel, ihre Locken ein Wasserfall. Meine Königin von Saba". Und erzählt dann folgende Begebenheit: "Meine Freundin ist schwarz, sage ich zu meiner entfernten Cousine bei einem Familientreffen. Das würde ich niemals sagen, sagt meine Cousine. Die Menschen sind doch gleich. Aber nein, sage ich, die Menschen sind nicht gleich. Die einen haben blaue Augen und die anderen braune. Meine Cousine funkelt mich giftig an. Ich frage: Wenn ich sage, dass ich meine Freundin schön finde, gerade weil sie schwarz ist, ist das dann rassistisch? Meine Cousine überlegt kurz. Dann sticht sie in ihre Schwarzwälder Kirschtorte und sagt: Ja."
So Angelika Overath, die in der FAZ mit der Frage schließt: "Wenn wir Angst vor Wörtern haben, wie sollen wir den Mut finden zu eigenen Gedanken?"

Gesellschaft ohne Gemeinschaft

Wir finden jetzt erst einmal den Mut zu einem harten Schnitt und schlagen in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG das Interview mit dem Soziologen Andreas Reckwitz auf. Mit der nicht selten erhobenen Klage, es fehle in unserer Gesellschaft an Gemeinschaft, kann Reckwitz gar nichts anfangen.
"Moderne Gesellschaften sind keine Gemeinschaft mehr. Vormoderne Gesellschaften waren Gemeinschaften. Die Menschen lebten etwa in Dorfgemeinschaften, die ihre ganze Welt waren. Moderne Gesellschaften sind anders organisiert. Sie leben von der Differenz, also von der Unterschiedlichkeit. Natürlich gibt es auch hier verschiedene Communities. Aber das sind kleinere Zirkel von Wahlgemeinschaften. Die gesamte moderne Gesellschaft kann nicht zu einer Gemeinschaft werden. Es ist gefährlich, diesen Eindruck zu erwecken. Ein Zurück zur Gemeinschaft ist eine Illusion", so Reckwitz in der SZ.

Der Staat braucht das Zutrauen der Bürger

In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG rät der Philosoph Thomas Sören Hoffmann zur Neu-Lektüre der Schriften Hegels – was mitten im Hegel-Jahr nicht allzu originell ist. Aber hören wir uns an, welche Einsichten Hoffmann bei seiner Hegel-Lektüre hatte.
"250 Jahre nach seiner Geburt lautet Hegels Botschaft: Der Staat hat allen Grund, sich davor zu fürchten, das Zutrauen der Bürger zu verspielen. Das verlorene Zutrauen ist durch Propaganda, durch das antrainierte Bekenntnis und blinde, angstgetriebene Gefolgschaft nicht zu ersetzen. Das Zutrauen erhält sich auch nicht durch bloße Machtdemonstration. Das Zutrauen lebt davon, dass der Bürger im Staat sein eigenes Recht erkennt – dass er den Staat in Freiheit als den seinen bejahen kann."
Wem das zu gravitätisch klingt, dem können wir jetzt auch nicht mehr helfen. Denn schon das nächste ist für heute unser letztes Wort.
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