Freitag, 19. April 2024

Archiv

Karlsruhe zu Staatsanleihen
"Im Alltag ist der EuGH übergeordnet"

Der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verteidigt, das Anleihekaufprogramm der EZB vom EuGH überprüfen zu lassen. Damit hätten die Karlsruher Richter keine Kompetenzen abgegeben, sagte Di Fabio im Deutschlandfunk.

Udo Di Fabio im Gespräch mit Jürgen Liminski | 08.02.2014
    Das Bundesverfassungsgericht im Januar 2014
    Das Bundesverfassungsgericht im Januar 2014 (dpa / picture-alliance / Uli Deck)
    Jürgen Liminski: Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich den früheren Richter am Bundesverfassungsgericht Professor Udo Di Fabio, der in seiner aktiven Richterzeit auch federführend für das Urteil über den Lissabonvertrag zuständig war. Guten Morgen, Herr Professor!
    Udo Di Fabio: Guten Morgen, Herr Liminski!
    Liminski: Herr Di Fabio, hat Sie dieser Schritt der Kollegen in Karlsruhe überrascht?
    Di Fabio: Es ist ein bedeutender Schritt, aber kein wirklich überraschender Schritt. Denn schon im Jahr 2009 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem bekannten Lissabonurteil eine solche Vorlage angekündigt. Eine solche Vorlage erschien dem Gericht nämlich dann notwendig, wenn es Zweifel hat, ob ein Ultra Vires, das heißt, ein kompetenzwidriges Handeln europäischer Organe vorliegt. Und offensichtlich nimmt das Gericht einen solchen schweren Kompetenzverstoß an und gibt deshalb dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg Gelegenheit, diesen Kompetenzverstoß durch eine andere Auslegung des Europarechts zu heilen.
    Liminski: Dann bedeutet dieser Schritt kein Einknicken vor dem EuGH?
    Di Fabio: Nein, es ist kein Einknicken, sondern es ist das, was Juristen als Kooperationsverhältnis zwischen den obersten Gerichten der Mitgliedsstaaten und der europäischen Gerichtsbarkeit bezeichnen. Das Bundesverfassungsgericht behält das letzte Wort in dieser Frage, daran besteht kein Zweifel. Denn die sogenannte Ultra-Vires-Kontrolle, die das Bundesverfassungsgericht auf Rüge von Bürgern vornimmt, bedeutet, dass ersichtliches und schwerwiegend das Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedsstaaten und Union betreffendes Handeln, das nicht von den Verträgen gedeckt ist, für Deutschland unanwendbar erklärt werden kann. Das wäre ein bedeutsamer und gefährlicher Schritt, aber dieses Recht müssen sich im Grunde genommen die Staaten auf der Grundlage jedenfalls des Grundgesetzes Deutschlands vorbehalten, damit man sehen kann: Was ist denn völkerrechtlich eigentlich übertragen worden und was nicht?
    Liminski: Mit dieser Meinung, Herr Professor, sind nicht alle einverstanden. Ich darf da mal aus der heutigen Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen" den Wirtschaftsprofessor Starbatty zitieren, der sagt: "Damit hat das Bundesverfassungsgericht de facto abgedankt, niemand braucht zukünftig das Verfassungsgericht noch anzurufen, weil Verstöße gegen das Grundgesetz, die die gemeinschaftliche Haftung, den Euro oder europäische Belange betreffen, an den EuGH weitergeleitet werden." Was stimmt denn nun?
    Di Fabio: Weitergeleitet ist da nichts worden, sondern der EuGH wird befragt. Er wird gebeten, seine Auslegung des europäischen Vertragsrechts vorzunehmen. Es steht ja im Streit, ob die Ankündigung der europäischen Zentralbank, Staatsanleihen von, ich sage mal, notleidenden Staaten, die sich nicht mehr ausreichend refinanzieren können, notfalls unbegrenzt aufzukaufen. Ob eine solche Ankündigung, ob ein solcher Beschluss gegen das Verbot der geldpolitischen Staatsfinanzierung verstößt, wie es in den europäischen Verträgen enthalten ist. Und das ist zunächst einmal eine Frage der Auslegung des europäischen Vertragsrechts. Und der EuGH erhält nun zum ersten Mal Gelegenheit, etwas dazu zu sagen. Und nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – insofern keine Überraschung – muss der EuGH Gelegenheit haben, einen solchen Rechtsbruch, den das Gericht in Karlsruhe annimmt, zu heilen, vielleicht auch durch eine einschränkende Auslegung des Beschlusses, den die EZB 2012 getroffen hat.
    Liminski: Karlsruhe drängt mit diesem Schritt die Kollegen in Luxemburg also zu einer Definition des EZB-Mandats. Ist das Ausdruck eigener Unsicherheit in Karlsruhe in dieser Frage?
    Di Fabio: Nein, das glaube ich nicht. Man muss ja Folgendes berücksichtigen: Aus prozessualen Gründen kann das Gericht nur deutsche Staatsorgane kontrollieren. Das bedeutet, selbst wenn die Kläger dieses Verfahrens, die Beschwerdeführer erfolgreich wären und festgestellt bekämen in Karlsruhe, dass das sogenannte OMT-Programm, also der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, verfassungswidrig wäre, dann würde das nicht unmittelbar für die EZB, ein europäisches Organ, gelten können. Mit anderen Worten: Das Bundesverfassungsgericht kann in seiner Bindungsreichweite seiner Urteile nur deutsche Verfassungsorgane, nur die deutsche öffentliche Gewalt erreichen. Wenn der Europäische Gerichtshof aber die Unvereinbarkeit des EZB-Beschlusses so, wie er gefasst ist, mit dem europäischen Vertragsrecht feststellt, dann gilt das unmittelbar für die EZB. Mit anderen Worten: Karlsruhe würde, wenn der Luxemburger Gerichtshof teilweise oder ganz die deutschen Bedenken teilt, würde eine enorme Verstärkung der Reichweite seiner Rechtsauffassung erreichen.
    Liminski: Nach dieser Auslegung hat das EuGH eigentlich nur konsultative Wirkung. Ist es den Gerichten, den einzelnen Ländern nicht übergeordnet?
    Di Fabio: Das europäische Recht hat normalerweise in den Staaten einen Anwendungsvorrang. Das heißt, es verdrängt entgegenstehendes nationales Recht. Und ein Gericht, das über einen solchen Anwendungsvorrang entscheidet, wirkt übergeordnet, das ist gar keine Frage. Im Alltag ist der EuGH übergeordnet. Aber nicht in einer bundesstaatlichen Hierarchie, weil, die Europäische Union ist kein Bundesstaat. Die höchsten Gerichte der Länder können, wenn es ihre Prozessordnungen erlauben, ihrerseits prüfen, ob die Europäische Union noch innerhalb ihrer Kompetenzen handelt. Denn man darf nicht vergessen: Europa ist nicht als Staat von einem europäischen Staatsvolk gegründet, sondern souveräne Mitgliedsstaaten übertragen einzelne Hoheitsrechte, also Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Rechtsprechungsrechte, auf europäische Organe. Und das kann nicht grenzenlos sein, das kann auch nicht unbesehen erfolgen. Sondern nur mit einzelnen Kompetenzen. Und wenn diese Organe sich so verselbstständigen, dass sie Kompetenzen behaupten, die sie gar nicht übertragen bekommen haben, dann müssen die Mitgliedsstaaten das Recht haben, und ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht das Recht haben, das entsprechend zu rügen und für ihr Land festzustellen, dass das so nicht übertragen war.
    Liminski: Das letzte Wort bleibt also beim Bundesverfassungsgericht. Kann dieses Gericht der Europäischen Zentralbank sagen, nun ist Schluss mit eurer Geldschieberei von Nord nach Süd?
    Di Fabio: Nein, das kann das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar an die Europäische Zentralbank adressieren, weil die Europäische Zentralbank nicht deutsche öffentliche Gewalt ist und insofern nicht der Rechtsprechungshoheit des Bundesverfassungsgerichts unterliegt. Das Bundesverfassungsgericht würde allerdings, glaube ich, ein Datum setzen für die Politik der Europäischen Zentralbank, die ja rechtstreu sein will und das Verfassungsverständnis eines wichtigen Mitgliedsstaates aufnehmen würde. Würde sich allerdings der Europäische Gerichtshof in Luxemburg einer restriktiven, einer begrenzenden Auslegung des OMT-Beschlusses anschließen, dann hätte das unmittelbare Wirkung für die Europäische Zentralbank.
    Liminski: Ist es eine rechtlich vorstellbare Lösung zu sagen, wenn die EZB auf diesem Kurs bleibt – da das Bundesverfassungsgericht ja sozusagen nicht unmittelbar einwirken kann –, dann steigen wir eben aus dem Währungsverbund aus? Oder haben wir die Finanzsouveränität sowieso schon aufgegeben?
    Di Fabio: Ja, in diesen Fällen haben wir viel mit dem Wort ultra zu tun, also jenseits. Ultra Vires nennt man diese Kompetenzkontrolle des Gerichts und man muss auch sagen, wir hätten hier ... Wir reden jetzt über eine Ultima Ratio in diesem Verfahren. Deutschland hat eine verfassungsrechtliche Ermächtigung, an der Währungsunion teilzunehmen. Die Verfassung wurde entsprechend geändert, der Artikel 88 des Grundgesetzes. Aber wir dürfen von Verfassungs wegen, wir, die Deutschen, dürfen von Verfassungs wegen nur an einer Währungsunion teilnehmen mit einer unabhängigen Europäischen Zentralbank, die vorrangig der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Eine Europäische Zentralbank, die ihre Unabhängigkeit verlöre, weil sie Wirtschaftspolitik betreibt und deshalb außerhalb ihres geldpolitischen Mandates handelt, eine solche Politik wäre von der verfassungsrechtlichen Ermächtigung nicht gedeckt. Eine Europäische Zentralbank, die ... Heute bestehen dafür, glaube ich, überhaupt keine Anzeichen, aber wenn in ferner Zukunft eine Europäische Zentralbank die Währung aktiv destabilisieren würde, dann könnte im Extremfall das Bundesverfassungsgericht sagen, an einer solchen Währungsunion darf Deutschland nicht mehr teilnehmen. Und könnte deutsche Verfassungsorgane zu entsprechendem Handeln bis zum Austritt aus der Währungsunion verfassungsrechtlich verpflichten. Aber davon sind wir, glaube ich, sehr weit entfernt, auch wenn man das OMT-Programm sehr kritisch sehen kann oder als Rechtsverstoß betrachten kann, wenn es denn so vollzogen würde. Dann wäre damit aber noch nicht gesagt, dass Deutschland aus der Währungsunion etwa austreten müsste.
    Über Udo Di Fabio
    Geboren 1954 in Duisburg, Nordrhein-Westfalen. Udo Di Fabio war 1999 bis 2011 Richter am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Seine berufliche Laufbahn begann als Verwaltungsbeamter in Dinslaken. 1985 absolvierte er das zweite juristische Staatsexamen, er arbeitete dann kurze Zeit als Richter am Sozialgericht in Duisburg. Später promovierte er zunächst in den Rechtswissenschaften und danach in den Sozialwissenschaften. Es folgten mehrere Professuren in Münster, Trier, München und Bonn.
    Liminski: Letzten Endes, Herr Professor, entscheidet also doch die Politik. Wo bleibt da der Primat des Rechts?
    Di Fabio: Das habe ich nicht gesagt, dass letzten Endes die Politik entscheidet. Letzten Endes entscheidet doch das Gericht über das, was verfassungsrechtlich erlaubt ist und was nicht. Man darf nur eins nicht übersehen: Die deutsche Verfassung ist die Verfassung eines souveränen Staates. Aber die verfassungsgebende Gewalt sagt bereits im Vorspruch zum Grundgesetz, dass Deutschland ein gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa werden will und dem Frieden der Welt dienen will. Das heißt, die deutsche Souveränität ist nach außen auf Verbindung und Kooperation und Friedenspolitik gerichtet. Es ist eine moderne Verfassung, die nicht selbstbezüglich ist und nicht die Grenzen schließt. Das bedeutet aber auch, dass das Gericht in einer Lage ist, wo man zugleich die Identität einer freiheitlichen Gesellschaft im Innern zu wahren hat, denn das ist der Anspruch des Grundgesetzes, alles muss demokratisch sein, auch der Prozess der europäischen Integration. Und gleichzeitig muss die Verfassungsauslegung auch freundlich gegenüber der europäischen Integration sein, das Gebot der Europafreundlichkeit muss der Verfassung auch entnommen werden.
    Liminski: Sagt hier ... Wir müssen Schluss machen, Herr Professor! sagt Professor Di Fabio, Staatsrechtler an der Universität in Bonn, bis vor Kurzem Bundesverfassungsrichter. Besten Dank für das Gespräch, Herr Professor!
    Di Fabio: Danke, Herr Liminski, Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.