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Karneval
Masken der Ordnung

Ob Maskenspiele oder Eselsmessen: Der Karneval ist die umgestülpte Welt, der geduldete Tabubruch. Die komplette Umkehrung des Machtgefüges wurde schon im Mittelalter vom Klerus nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert - wenn auch nur für einen Tag im Jahr.

Von Harry Lachner | 02.03.2014
    Und so blasphemiert es fröhlich vor sich hin. Scheinbar. Denn was hier wie ein Verstoß gegen die gottgefälligen, kirchlichen Sitten erscheint, ist eine vom Klerus des Mittelalters tolerierte, ja sogar unterstützte Verkehrung der Messe und der klerikalen Ordnung. Ein Eselsfest, ein Festum asinorum also, für das sich bereits im 9. Jahrhundert erste Hinweise finden und das vor allem zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert gut dokumentiert ist. Bei diesen sogenannten Eselsmessen, die zur Jahreswende stattfanden, inszenierten die Gläubigen eine karnevaleske Umkehrung des Messe-Rituals: Bacchus war der Gott, dem man huldigte, und der Priester trat in der Gestalt eines Esels auf: Symbol der Fruchtbarkeit, des sexuellen Begehrens und der Ausschweifung.
    Exkremente statt Weihrauch
    "Man erwählte in den Kathedralkirchen einen Narrenbischof. Dieser hielt alsdann einen feierlichen Gottesdienst und sprach den Segen. Die vermummten Geistlichen betraten den Chor mit Tanzen und Springen, und sangen Zotenlieder. Die Subdiakone aßen auf dem Altar vor der Nase des messelesenden Priesters Würste; spielten vor seinen Augen Karten und Würfel, taten ins Rauchfass statt des Weihrauchs ein Stück von alten Schuhsohlen und Exkremente, damit ihm der hässliche Gestank in die Nase führe. Nach der Messe lief, tanzte und sprang jedermann nach seinem Gefallen in der Kirche herum und erlaubte sich die größten Ausschweifungen; ja einige entkleideten sich völlig. Hierauf setzten sie sich auf Karren mit Kot beladen, ließen sich dort durch die Stadt fahren, und bewarfen den sie begleitenden Pöbel mit Unrat."
    Für einen Tag verkehrten sich die Regeln der Macht: Vierundzwanzig Stunden lang mussten nun alle dem "Ehrwürdigen Abt Pater Esel" unbedingten Gehorsam leisten - ganz gleich, welchen Standes man auch war. Aber nicht Anarchie trat an die Stelle der Liturgie - sondern ein parodistisches Ritual, dessen Ablauf - wie auch der Gesangstext - in Handschriften niedergelegt war. Die Zeremonie knüpfte an die römischen Saturnalien, jene Feiern zu Ehren des Gottes Saturn, an. Auch hier wurde die soziale Hierarchie auf den Kopf gestellt: Für einige Tage waren die Sklaven ihren Herren gleichgestellt; und auch ein Saturnalienfürst wurde gewählt. So vermengten sich in der Eselsmesse christliche und heidnische Traditionen. Und nicht zuletzt diente diese Umkehrung der Triebkontrolle - gerade in der Ausschweifung.
    "Wir feiern es nicht im Ernst, sondern bloß im Scherz, um uns, nach alter Gewohnheit, zu belustigen, damit die Narrheit, die uns eine andere Natur ist, und uns angeboren zu sein scheint, dadurch wenigstens alle Jahre einmal sich austobe. Die Weinfässer würden platzen, wenn man ihnen nicht manchmal das Spundloch öffnete und ihnen Luft machte. Wir treiben deswegen etliche Tage Possen, damit wir hernach mit desto größerem Eifer zum Gottesdienst zurückkehren können."
    Schlemmeressen in England
    ...heißt es in einer Verteidigungsschrift der theologischen Fakultät in Paris 1444. Hier zeigt sich das Zweischneidige all dieser parodistischen Umtriebe. Im ersten Kapitel seines Romans Der Glöckner von Notre Dame schildert Victor Hugo die Wahl eines Narrenpapstes, parodiert die Zeremonie der Inthronisierung. Doch damit wird die Gültigkeit dieses Zeremoniell an sich erneut festgeschrieben - und auch die sozialen und klerikalen Unterschiede.Die Tradition der Eselsmessen hielt sich bis ins 17. Jahrhundert. Eine abgewandelte Form davon konnte man in England beobachten. Fünfmal im Jahre wurden sogenannte "Schlemmer-Messen" abgehalten:
    "Des Morgens versammelt sich die Gemeinde in der Kirche, bringt Essen und Trinken mit, hört die Messe an und feiert im Anschluss ein Fest, das offensichtlich in der völligen Betrunkenheit aller Beteiligten (auch der Priester) endet. Zwischen den Angehörigen verschiedener Gemeinden gibt es dabei regelrechte Wettbewerbe, wer zu Ehren der Heiligen Jungfrau am meisten Fleisch vertilgen und am meisten Alkohol trinken kann."
    Jesajas Diktum:
    "Werdet trunken, doch nicht vom Wein, taumelt, doch nicht von starkem Getränk", muss darob kurzzeitig in Vergessenheit geraten sein.
    Babylon, Jahreswende. Die Welt ist in Unordnung, der Lauf der Gestirne ordnet sich neu: Es ist die Schaltzeit zwischen den Jahren des babylonischen Kalenders. Angst befällt die Menschen, das kosmische Gleichgewicht, die geregelten Abläufe könnten ins Chaos stürzen, die Sonne ihren Kreislauf nicht mehr aufnehmen.
    "Karneval ist ein Fest der Gestirn-Religion. Ihr Neujahr-Fest: An dem der neue Kalender herauskam und die Konstellation für ein Jahr sich veränderte. Diese Veränderung der Stellung der himmlischen Mächte ist's, die sich widerspiegelt in einer Veränderung der irdischen: im karnevalistischen Rollen-Tausch."
    So erklärt Florens Christian Rang in seiner Historischen Psychologie des Karnevals das Ur-Moment des Phänomens karnevalistischer Umtriebe. Der Theologe und Schriftsteller hatte diese Untersuchung zunächst 1909 fertiggestellt, sie dann aber nach den Gewaltexzessen des Ersten Weltkrieges für den Druck erweitert. Es sollte sein wichtigstes Werk in dem schmalen Oeuvre werden, das er hinterlassen hat. Rang hatte zunächst Jura studiert; in Lausanne, Leipzig, Berlin und Bonn; nach seiner Dissertation bekleidete er den Posten eines Regierungsassessors in Posen, kehrte an die Universität zurück, um protestantische Theologie zu studieren, und wurde Pfarrer. 1904 gab er das Amt wieder auf, verbrachte die folgenden Jahren in verschiedenen Städten und trat schließlich wieder in den Staatsdienst ein: als Regierungsrat in Koblenz. Nach dem Krieg wird er Vorstandsmitglied des Raiffeisen-Verbandes in Berlin.
    Rangs unsteter Charakter, der sich in seinem Lebensweg offenbart, zeichnet auch sein Denken, das sich keiner bestimmten Ideologie verschrieben hatte. Vielmehr konzentrierte er sich auf die Analyse von Einzel-Phänomenen, aus deren historischer Bedeutung er ihre Aktualität ableitete. Welche Berechtigung aber - und diese Frage stellt er selbst zu Beginn seiner Untersuchung - hätte just in dieser Zeit nach dem Ende des bis dato verheerendsten Krieges ausgerechnet eine Untersuchung des Lachens, des Karnevals?
    "Sie mag uns weisen, auf welch vulkanischem Boden wir stehn. In diesen fast erloschenen Krater können wir einsehen. Und Mut fassen, dass der drohende Erd-Einsturz auch Erd-Aufsturz werde!"
    Das heißt, jene Schicht, die der Prozess der Zivilisation scheinbar über die archaischen Triebe und die Neigung zu Gewaltausbrüchen über das soziale und individuelle Leben gelegt hat, ist dünn. Ist brüchig. Jederzeit ist ein Rückfall in vor-zivilisatorisches Handeln und Denken möglich.
    Rang führt den Leser zunächst zurück in die Zeit der babylonischen Kultur; an jenen - wie er es nannte - einzigen "Kultur-Herd zu seiner Zeit". Anlässlich der Jahreswendzeit, schreibt er, kam es zu einem sozialen Rollentausch, zu einer Verkehrung der Hierarchie.
    Abbild eines himmlischen Prozesses
    "Karneval ist eine Pause, das Interregnum zwischen einer Thron‑Entsagung und Thronbesteigung; das Abbild eines himmlischen Prozesses: Der Prozession der Sterne, bis das Herrscher-Gestirn des Altjahrs völlig untergegangen ist und das Herrscher-Gestirn des neuen Jahres auf die Thron-Höhe geklommen."
    Diese Jahreswendzeit bedeutet also eine Leerstelle in der sozialen und psychologischen Ordnung: Hier sind die Regeln aufgehoben, in ihr Gegenteil verkehrt. Dieser Karneval bedeutet die erste Blasphemie: Ausdruck einer Auflehnung gegen die Götter ...
    "...eine gesetzliche Gesetzlosigkeit."
    Eine Befreiung von den Gesetzen, die im griechischen Dionysos-Kult schließlich in kollektive Raserei umschlagen wird: In ein allgemeines Delirium der Ich‑Entgrenzung, das für die Zeit der Feste in eine völlige Auflösung der Strukturen und Bindungen führt, in eine zeitweilige Zerstörung der gewohnten Ordnung.
    "Durch das Kalender-Loch der Unordnung brach der Triumphzug des Dramas der Außerordentlichkeit. Humanität schlägt zurück in kannibalischen Blutdurst."
    Florens Christian Rang stützt seine Karnevals-Deutung auf Dokumente, auf Überlieferungen - er schärft seine Ideen und Schlussfolgerungen an Friedrich Nietzsches Reflexionen über den Dionysos-Kult, denkt ihn radikal zu Ende. In letzter Konsequenz heißt das: Freiheit entsteht aus dem Geist des Rausches, aus der Blasphemie des Lachens. Im Karneval des beginnenden 20. Jahrhunderts aber findet Florens Christian Rang nur mehr einen vagen Nachhall jenes entgrenzenden, befreienden Lachens. Er, der Mystiker und Philosoph der Ekstase, blickt entsprechend gelangweilt auf die Tollheiten seiner Zeitgenossen. Gerade mal ein wenig Maskerade, ein etwas zu viel an Alkohol, ein kollektiver Gröl-Anfall. Doch bereits dem Spott des mittelalterlichen Karnevals spricht Rang die ursprüngliche, delirante Macht des Rausches und des Aufbegehrens ab.
    "Auch in den Zeiten stärkster Wehr gegen die Kirche der Askese, etwa nach den Kreuzzügen, blieb die karnevalistische Opposition ein stummer Hund; nur die Priesterschaft hat als Blitzableiter ein wenig Spott dulden müssen. Der moderne Mensch schlägt weder gegen Gott noch gegen Teufel. Er hat eine neue noch abziehendere Askese sich erfunden: die Pflicht zur Arbeit."
    Lachkultur
    Wann immer es um die Beziehung von Literatur und Karneval geht, stehen seine Ideen zunächst im Zentrum: Michail Michailowitsch Bachtin. Der 1895 geborene russische Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker hatte mit seinem Buch Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur eine grundlegende Untersuchung zur sogenannten "Lachkultur" verfasst. Der Text, zunächst 1940 als Dissertation eingereicht, erschien allerdings erst 1965. Bachtin wurde 1929 unter dem Sowjet-Regime Stalins inhaftiert und in die Verbannung geschickt. In der Sowjetrepublik Kasachstan arbeitete er als Buchhalter und Lehrer - und schrieb nebenbei einige seiner wichtigsten Essays. Wie etwa jenen über die Grundzüge der Lachkultur oder Die groteske Gestalt des Leibes.
    "Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat."
    Das Groteske, das im Karneval des Mittelalters gepflegt wurde, und das sich bis heute in den Masken wiederfindet, folgt dem Prinzip, den Schrecken, das Unheimliche und Bedrohliche zu inszenieren, um es auf diese Weise zu bannen. Doch das Moment des Schreckens ist nur eines von vielen Phänomenen jener mittelalterlichen Karnevalskultur. So fließt hier Gegensätzliches ineinander: das Heilige und das Profane, das Hohe und das Niedere.
    "Man kann das so ausdrücken: Die Gegensätze begegnen sich, blicken sich an, spiegeln einander, kennen und verstehen einander."
    Bachtins Theorie scheint einleuchtend: Der Karneval als eine Weiterführung des Satyrspiels, in dessen Zentrum der Körper steht - oft grotesk maskiert und überzeichnet. Hier stehen sie einander gegenüber: Welt und Leib, die im Karneval des Mittelalters ihr Drama inszenieren; ein Drama der Abgrenzung und der gegenseitigen Durchdringung.
    "Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes, sozusagen die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen, Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen anderen Leib - all das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt. In allen diesen Vorgängen sind Lebensanfang und Lebensende untrennbar ineinander verflochten."
    Das Leben scheint sich für Bachtin in ein offizielles und ein inoffizielles zu scheiden, in eine herrschende und eine widerständige Kultur. In ihr, die sich nur im Karneval äußern kann, erkennt er den Ausdruck eines legitimen Freiheitsanspruches.
    "Bei aller Verschiedenheit ihrer Phänomene hat die karnevalesk-groteske Form eine ähnliche Funktion: Sie sanktioniert die Zwanglosigkeit der Fantasiegebilde, erlaubt, Unterschiedliches zu kombinieren und Entferntes anzunähern, verhilft zur Loslösung vom herrschenden Weltbild, von Konventionen und Binsenweisheiten, überhaupt von allem Alltäglichen, Gewohnten, als wahr Unterstelltem. Sie erlaubt einen anderen Blick auf die Welt, die Erkenntnis der Relativität alles Seienden und der Möglichkeit einer grundsätzlich anderen Weltordnung."
    Dieser utopische Charakter, den Bachtin aus der karnevalistischen Umkehrung der Hierarchien ableitet, wurde in den letzten Jahren zunehmend in Zweifel gezogen. Gerade die Vorstellung einer mittelalterlichen Volkskultur wird immer wieder in Frage gestellt. Denn es ist fraglich, bis zu welchem Grad die Trennung des Profanen vom Heiligen überhaupt vollzogen wurde. Zudem vernachlässigt er jenen entscheidenden Aspekt, dass eine Herrschaftsstruktur auch und gerade in ihrer Travestie, in ihrer parodistischen Umkehrung ständig neu legitimiert wird.
    Masken und ihr Eigenleben
    Einen seltsam prüfenden Blick wirft uns dieser Mann entgegen, der von zahllosen Masken umringt, ja von ihnen fast eingepfercht ist. Nichts an der Perspektive des Gemäldes scheint realistisch: Es wirkt, als habe der belgische Maler James Ensor 1899 das Porträt seiner selbst - einem Fremdkörper gleich - zwischen die Masken einmontiert. Verzerrte Gesichter blicken uns an, im Vordergrund noch in kräftigen, teils abgedunkelten Farben gemalt. Doch je weiter die Masken in den Hintergrund rücken, desto pastoser ist der Farbauftrag. Die Gesichter, darunter auch einige Todes-Masken, wirken durchscheinend, geisterhaft. Und doch scheint die Mimik der Masken auf seltsame, verstörende Weise lebendig: In ihnen spiegeln sich die Gefühle, die ihre Träger just empfinden mögen: Überschwang, Drohung, Sarkasmus, Erstaunen, Spott. Doch da ist niemand hinter den Masken, kein Körper, keine Identität. Sie haben ihr eigenes Leben - losgelöst von der Idee des Verbergens und der Repräsentation. Einen Karneval der Seelen also hat James Ensor hier dargestellt, ein Spektakel, bei dem aus Verkleidung Wahrheit wird.
    Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen."
    Schrieb Oskar Wilde. Und tatsächlich verändert sich die Identität einer Person hinter der Maske. Besonders offensichtlich wird es in den kultischen Handlungen der Naturvölker: etwa bei Initiationsriten und Ahnen-Beschwörungen. "Werkzeuge der Metamorphose" nannte der Dichter Roger Caillois diese Masken, die die Identität des Trägers verändern, ihn glauben machen, er sei das, was die Verkleidung repräsentiert. Er verwandelt sich in ein Phantom.
    "Der Einbruch der Phantome gleicht dem Einbruch der Mächte, die der Mensch fürchtet und auf die er, wie er fühlt, keinen Einfluss nehmen kann. Er verkörpert also zeitweilig die erschreckenden Gewalten, er mimt sie, er identifiziert sich mit ihnen und alsbald sich selbst entfremdet, eine Beute des Deliriums, hält er sich wirklich für den Gott, dessen Erscheinung er sich anzunehmen bemühte. Jetzt ist er es, der Furcht einflößt, er selbst ist die schreckliche und unmenschliche Macht."
    Ritualisierte Abläufe
    Dieses Ritual eines afrikanischen Stammes, das Caillois hier beschreibt, mündet in eine Raserei. Am Ende, nach der Ernüchtung, der Rückkehr aus der Trance wird der Maskenträger nur mehr eine vage Erinnerung an diesen Zustand des Außer-sich-Seins besitzen. Das hat nichts Karnevaleskes an sich - zu mächtig ist die religiöse Dimension, zu radikal sind Delirium und Trance in diesen Beschwörungsritualen. Aber ganz so fern von den Gepflogenheiten des Karnevals ist dieses Spiel mit der Maske nicht. Denn auch hier wird man für kurze Zeit ein Anderer: in der Verkleidung, in den ritualisierten Abläufen. Etwas von einem selbst wird in der Maskerade zum Verschwinden gebracht. Etwas anderes beginnt zu leben: Eine Person.
    "Das gängige lateinische Wort für Maske war ‚persona‘. Daneben wurde auch ‚Larva‘ in diesem Sinne verwendet, meinte aber primär Geist und wurde folglich eher mit Geistererscheinungen assoziiert."
    Und im Griechischen bedeutet prósopon sowohl Maske als auch Gesicht. Das heißt, es gibt keine Unterscheidung - die Grenzen sind fließend, so wie der Maskierte in seiner neuen Rolle aufgeht, sich mit ihr identifiziert.
    Im Karneval von Venedig dominierten die Halbmasken, die nur einen Teil des Gesichts verbargen. Das hatte den Vorteil, dass der Träger zwar anonym blieb, aber bei Gesprächen und Diners nicht eingeschränkt wurde. Für Roger Caillois war diese Halbmaske das Attribut des galanten Festes - und der Verschwörung. Ihr stellt er die Vollverkleidung gegenüber und erkennt darin Derbheit, possenreißerische Mimik, ständige Aufreizung zum Gelächter. Kurz: einen anhaltenden Moment wilder Ausgelassenheit.
    "Die Masken nehmen auf kurze Zeit Rache für das Wohlverhalten und die Zurückhaltung, welche sie während des übrigen Jahres beobachten müssen. Sie, die Maske, war dazu bestimmt, zu verbergen und zu erschrecken. Sie bedeutet den Einbruch einer furchtbaren, unberechenbaren, jählings auftauchenden und gewaltsamen Macht, die sich erhebt, um der profanen Menge einen frommen Schauder einzuflößen und ihren Leichtsinn und ihre Fehltritte zu bestrafen."
    Normen des Alltags außer Kraft setzen
    Und doch ist es ein Spiel. Und wie jedes Spiel folgt auch dieses bestimmten Regeln: Es ist zeitlich begrenzt, es findet nur an dafür bestimmten Orten statt. Die Normen des Alltags mögen dabei zwar außer Kraft gesetzt sein, doch das illustre Treiben der Masken - ob erschreckend oder belustigend - bedeutet nicht, dass ein anarchischer Freiraum entsteht. Hier wird einfach eine soziale Konvention durch eine andere ersetzt.
    Was aber, wenn die Maske keine Larve ist? Wenn sich enthüllt, dass Maske und Erscheinung eins sind? Edgar Allen Poe schildert in einer Erzählung einen höfischen Maskenball, der mit Prunk und Ausgelassenheit der Pest zu trotzen versucht, die ringsum im Land wütet. Aus der Schar der Maskierten ragt eine Gestalt heraus.
    "Sie war hoch und hager und war von Kopf bis Fuß in die Laken des Grabs gehüllt. Die Maske, welche das Gesicht verbarg, war in allen Zügen so ähnlich einem starren Leichenantlitz nachgebildet, dass die gründlichste Prüfung hätte Schwierigkeit haben müssen, den Betrug zu entdecken. Und doch hätte all dies bei den tollen Schwelgern in der Runde wohl noch Duldung gefunden, wenn nicht gar Beifall. Doch der Vermummte war so weit gegangen, die Urgestalt des Roten Todes anzunehmen. Seine Gewandung war von Blut bespritzt - und seine breite Stirn, mit allen Zügen des Gesichts, sprenkelte der scharlachene Schrecken."
    Solcherart als sich selbst verkleidend, suchte der Rote Tod diesen Maskenball heim - und enthüllt, dass es nichts zu enthüllen gibt.
    "Es befiel ein unaussprechlich Grauen sie, da sie die Grabeslaken und die leichengleiche Maske unbewohnt fanden von jeglicher greifbaren Gestalt."