Serhij Zhadan: "Internat"

Poetische Odyssee zwischen den Fronten

Buchcover "Internat" von Serhij Zhadan, im Hintergrund ein Soldat vor einer zerstörten Kirche in einem ukrainischen Dorf
Buchcover "Internat" von Serhij Zhadan, im Hintergrund ein Soldat vor einer zerstörten Kirche in einem ukrainischen Dorf © Suhrkamp Verlag / imago / EST&OST
Von Maike Albath · 28.03.2018
Ein pummeliger Held auf einer bizarren Reise durch die Kampflinien: In packenden Szenen schildert der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in seinem Roman, wie der Mittdreißiger Pascha seinen Neffen inmitten eines surreal anmutenden Krieges nach Hause holt.
Nachrichten aus einem vergessenen Krieg: Serhij Zhadan, Jahrgang 1965, renommierter Lyriker und Prosaautor, erzählt in seinem Roman "Internat" von den zerfaserten Kampfhandlungen im äußersten Osten der Ukraine. Weil er in seiner packenden Geschichte weder der einen, noch der anderen Seite Recht gibt und inmitten der Verheerungen plötzlich Menschlichkeit aufblitzen lässt, hat man den Schriftsteller in seiner Heimat scharf angegriffen.
Es mangle ihm an Patriotismus, lautete der Vorwurf. Dabei ist es gerade die vielschichtige Deutung des Krieges, die seinen Roman so großartig macht.

Bilder von Panzern und Armeen

Pascha ist Lehrer von Beruf, etwas übergewichtig und vom Leben ernüchtert. Für Politik interessiert sich der Mittdreißiger nicht. Er ignoriert seit Wochen die Geschehnisse. Sein Eisenbahnerhäuschen, das er mit seinem betagten Vater und seiner Schwester bewohnt, ist beinahe eingeschneit, als im Fernsehen immer häufiger Bilder von Panzern und Armeen aufflackern.
Er müsse seinen Neffen aus dem Internat abholen, befiehlt sein Vater. Eher unwillig gehorcht Pascha dem alten Mann und macht sich auf den Weg zu dem 13-jährigen Jungen. Wie brenzlig die Lage ist, schwant ihm erst im menschenleeren Bus. An der Straßensperre fuchteln schreiende Soldaten mit Maschinengewehren herum, Milizionäre haben sich in einem Hotel verbarrikadiert.
Die namenlose Stadt, zu der er unterwegs ist, wurde offenkundig von "den Neuen", wie die russischen Besatzer nur genannt werden, eingekesselt und zurückerobert. Aber der Frontverlauf ist unübersichtlich, und Pascha gerät auf seiner Odyssee per Taxi und zu Fuß immer wieder zwischen die Kampflinien.

Geschundene Landschaften

In packenden Szenen schildert Serhij Zhadan in seinem Roman "Internat", wie sein Held geschundene Landschaften durchquert, im Bahnhof Unterschlupf findet, über geborstene Straßen wandert, sich vagabundierenden Menschengruppen anschließt, auf versprengte Truppenteile trifft, sich mit seinem Neffen zurück nach Hause durchschlägt. Die Regeln sind unklar, die Aktionen der Soldaten oft willkürlich und irrational, der Tod ein dummer Zufall.
Der glänzend ins Deutsche übertragene und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnete Roman entfaltet eine eigentümliche, hyperwache Stimmung. Zhadan arbeitet mit Überblendungen, wodurch das Motiv des Krieges einen surrealen Charakter gewinnt und etwas Zeitloses bekommt.

Sprache als Akt des Widerstands

Die Bilder sind abwechselnd grell und gleißend oder dunkel und finster. Ein Auto stürzt in ein Schneeloch "wie ein Hund in das schäumende Meer". Schwarze Rauchschwaden lassen Pascha an "lange Drachenschwänze" denken, es sieht aus, "als würden die Seelen aus der Stadt gepumpt". Während die Verrohung zunimmt, behält Pascha seine poetische Wahrnehmungsfähigkeit. Die Sprache wird zu einem Akt des Widerstands.
Der schwammige Held gewinnt im Verlauf der bizarren Reise an Statur und weiß auf einmal, worauf es ankommt. In einer der eindringlichsten Momente des Romans übergibt ihm ein Soldat einen Fund aus dem Museum: Die Versteinerung eines Farnkrauts. Das Museum ist zerbombt. Die Versteinerung wird bleiben und den Krieg überdauern.

Serhij Zhadan: "Internat"
Roman
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr und Juri Durkot.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
300 Seiten, 20 Euro

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