Freitag, 19. April 2024

Archiv


Karussell voller Szenen und Bilder

In seinem Roman "Anmut und Gnade" widmet sich Wolfgang Schlüter der französischen Oper. Das Buch ist voll zeitgeschichtlicher Korrespondenzen, geistreicher Referenzen und schauerlicher Surprisen. Für Musikfreunde ist das erhebend, für den einfachen Leser schwer zugänglich.

Von Richard Schroetter | 02.05.2007
    Wolfgang Schlüters Romane beginnen stets mit einer furiosen Ouvertüre, mit Donner und Blitz, ohrenbetäubenden Fortissimoschlägen. In seinem letzten Roman "Dufays Requiem" wurden auf den ersten Seiten mit großem Knalleffekt zwei englische Soldaten heimtückisch ermordet. In seinem neuen Buch über das Wunder der französischen Oper hebt er mit einem Flugzeugabsturz ab, bei dem gleich ein ganzes Orchester ums Leben kommt. Wer sind die Opfer dieser Katastrophe, möchte der Leser gerne wissen, wer die Angehörigen.

    "Das Unglück habe 95 Menschenleben gefordert. Überlebende habe es nicht gegeben; nach der Black-Box der Air-France-Maschine, die bereits auf dem Landeanflug nach Genf sich befunden [...] werde noch gesucht","

    heißt es lapidar. Und damit hat sich der Fall. Stattdessen versetzt uns der Autor ins 18. Jahrhundert, in das Haus eines vermögenden Parisers, der sich gerade zum Ausgehen präpariert. Wir werden Zeuge einer detailliert beschriebenen Puderzeremonie.

    ""Voila. Leichthin-souverän, tagtäglich geübt, aus zurückgeschlagenen Spitzenärmeln die Schleuderbewegung der Hände, zur Zimmerdecke empor, auf dass der weiße Puder in der Luft sich gleichmäßig verteile und niedersenke aufs Haupt wie schwerelos flockender Schnee. [...] Unter Myriaden aufblitzender Punkte und glühnder Partikel im Lichtpfeil des Sonnenbalkens der Laterne : ein Sternentanz, [...] ein feu d‘artifice. [...] so fängt die schöne Morgenfrühe an in Paris."

    Ehe wir uns in diesem Rokoko-Idyll zurechtfinden können, sind wir schon wieder ins 21. Jahrhundert katapultiert, in den Nachtexpress von München nach Paris. Hier in einem "Separatcoupé zweiter Klasse" begegnen wir Walter Mardtner, dem Protagonisten und nicht mehr ganz jungen Erzähler des Romans, ein exzessiver "Ohrenmensch" und Musikliebhaber.

    Mardtner ist Pressereferent, Notenwart und Mädchen für alles eines renommierten Kammerorchesters, das sich anspielungsreich "Ensemble Les Encyclopédistes" nennt. Dieser bunt zusammengewürfelte Haufen, aus

    "gut dreißig Musikern, mehr Frauen als Männern, alle jung, gutaussehend, erfolgreich, ehrgeizig, hochmotiviert und spezialisiert"

    ist ebenso wie Mardtner nach Paris, allerdings mit dem Flugzeug, unterwegs, um dort

    ""in historischer Spielpraxis Rameau's Opéra-Ballet Les Indes Galantes auf CD zu bannen und anschließend in der Bastille-Oper aufzuführen"."

    "Les Indes Galantes" ist eine berühmte, lange unterschätzte Oper des großen französischen Komponisten Jean-Philippe Rameau, den man in seiner Zeit als den "Newton der Musik" bezeichnete, der nach Monteverdi, Händel und Vivaldi auf den internationalen Bühnen heute eine große Renaissance erlebt. Um ihn und um Rameaus heutige Verehrer drehen sich wie ein Karussell Szenen und Bilder. Offensichtlich handelt es sich bei den Musikern, die im Salle Olympique in der Bastille-Oper auftreten werden, um das abgestürzte Orchester. Und schon befinden wir wieder in einem anderen Bild, wo ebenso fachkundig wie pedantisch eine heiße Schokolade zubereitet wird.

    Dieser hurtige Szenenwechsel soll unsere heutige Welt mit der Rameaus verbinden. Während draußen im Jahr 2003 auf den Straßen von Paris randaliert wird und in den Banlieus Autos angezündet werden, erteilt drinnen bei den Proben der Dirigent Erlmayr den Musikern und Walter Mardtner eine Lektion über alte Musik und Ästhetik. Die Ähnlichkeiten zwischen Erlmayr und dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, er ist bekanntlich einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis, ist dabei beabsichtigt, und als kleine Huldigung zu verstehen.

    ""Wir sind keine Historisten. Im Gegenteil: Wir wollen den Staub von den Werken blasen und sie in ihrer Modernität wiederbeleben","

    heißt es programmatisch. Schlüter erzählt nun die Geschichte eines Paradigmenwechsels und dessen Folgen. Rameaus geniale Opern galten schon wenige Jahre nach ihrer Entstehung, "am Vorabend der französischen Revolution" als veraltet, als höfische Kunst. Eine neue bürgerliche Generation kündigte ihre ästhetischen Bedürfnisse an, für die stellvertretend der Verfasser des "contrat social", Jean Jacques Rousseau, steht. Rousseau, der Philosoph und gescheiterte Komponist, suchte in der Musik Natürlichkeit und Einfachheit, sein wesentlich älterer Kontrahent Rameau die ehernen Gesetze der Harmonie, aus denen sich seiner Theorie nach alles ableiten und erklären lässt. Die alte Frage, die bis heute unsere Feuilletons bewegt, was ist Kunst, große Musik, und wie hat sie auszusehen, wie sich anzuhören, und wer besitzt die Deutungshoheit, wird am Beispiel des so genannten Buffonistenstreits, der zu Rameaus Zeiten die Köpfe bewegte, mit viel Aufwand erörtert.

    Viel Argumente, viele Bonmots und preziöse Bemerkungen fallen zwischen den Kontrahenten, viel wird kommentiert, aber aus dem "wahren" Leben wird nur wenig erzählt. Zum Beispiel hätten wir doch gerne etwas mehr über Walter Mardtner erfahren. Besteht er denn nur aus Harnoncourt, Rameau und historischer Aufführungspraxis? Hat er kein eigenes erzählenswertes Leben? Hier schweigt der Dichter.

    In liebevoller Detailarbeit hat Schlüter diesen ambitionierten Roman gleichsam wie ein Rameau'sches Opera-Ballet ausstaffiert. Er ist voll zeitgeschichtlicher Korrespondenzen, geistreicher Referenzen und schauerlicher Surprisen, die wie hinter den Kulissen aufgehängte Vogelattrappen plötzlich vom Himmel fallen. Für Alte-Musik-Freunde und zukünftige Doktoranden ein fetter Brocken, für den "gewöhnlichen Leser" vielleicht doch etwas zu sophisticated.