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Kassel
Grimm-Welt würdigt das Werk der berühmten Brüder

Mehr als 40 Jahre lang, von 1798 bis 1841 lag der Lebensmittelpunkt der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm –mit einigen Unterbrechungen - in Kassel. Hier begannen sie ihre umfangreiche wissenschaftliche Arbeit am Deutschen Wörterbuch und mit der Sammlung und Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen. 2002 wurde beschlossen den berühmten Söhnen der Stadt eine ganze Welt zu bauen: die Grimm-Welt. Nun wurde sie eröffnet.

Von Eva-Maria Götz | 04.09.2015
    Eine der großen Attraktionen des Neubaus gibt es für die Kassler umsonst: Auch ohne Eintrittskarte kann man das Dach des Museums über eine breite Treppe, die sich an das sandsteinfarbene, quaderförmige Gebäude schmiegt, betreten und von luftiger Höhe aus den Blick über den angrenzenden Park, die Stadt und bis weit in die nordhessische Hügellandschaft genießen.
    "Als wir den Wettbewerb gemacht haben, war für uns sofort die Frage, wie gehen eigentlich Ort und Inhalt zusammen. Wir haben ja von dem Weinberg gehört. Wir waren fasziniert von der Parklandschaft, wenn Sie in die Stadt Kassel reinfahren, dann fahren sie sofort in diese Natur- und Kulturlandschaft. Deswegen haben wir uns schnell entschieden, dass man das einfach fortsetzt", sagt Gerhard Wittfeld, einer der beiden verantwortlichen Bauleiter des Aachener Teams Kadawittfeldarchitektur.
    "Die zweite Dimension war, dass an dem Ort früher eine bürgerliche Villa stand, die sich dann im Laufe der Zeit zu einem Park entwickelt hat, dass das auch ein Ort der Demokratie und der Öffentlichkeit ist. Man nimmt keine Fläche weg, sondern die Fläche, diese Terrasse ist für alle da, für alle Bürger. Es ist höher, also man gibt dem also eine andere Wertigkeit."
    Mit diesem Konzept konnten die Planer auch die Bürger der Stadt überzeugen, die sich anfangs gegen den Neubau wehrten: Es sei ein zu tiefgreifender Eingriff in die historische Parklandschaft, in dem auch die Documenta stattfindet, meinten die einen und befürchteten den Verlust öffentlichen Raumes. Andere Kritiker sorgten sich eher um den Inhalt: Grimm-Welt, was sollte das sein? Eine Art Disney-Land zu Ehren der Märchenonkel?
    "Das kuratorische Konzept, dass wir entwickelt haben, versucht zunächst einmal der Vielschichtigkeit der Brüder Grimm gerecht zu werden. Es war uns ganz wichtig, die Grimms nicht in der Enge dieser Märchenonkels zu belassen, sondern ihr Werk in seiner ganzen Breite vorzustellen, was die Grimms in die Welt gebracht haben, was sie geschrieben haben."
    Beruhigt Kuratorin Nicola Lepp. Auch im Inneren überzeugt der Neubau zunächst durch seine Großzügigkeit, ein Panoramafenster öffnet den Blick zum Park, schafft die Verbindung zur Natur. Ganz anders ist der Eindruck, wenn man, eine halbe Treppe tiefer, die eigentliche Sammlung betritt: Ein enges Labyrinth erwartet die Besucher, transparente Wände aus bedrucktem, milchigen Papier rechts und links des schmalen Ganges, als würde man in das Innere eines Buches steigen.
    "Die Welt der Grimms präsentieren wir in 26 Einträgen aus dem Wörterbuch. Wir haben uns die Struktur sozusagen am Werk der Grimms abgeschaut."
    Große einzelne Buchstaben aus Neonröhren weisen den Weg nach rechts und links, in Räume und Nischen, in denen die Grimms zunächst einmal als Wissenschaftler vorgestellt werden. Das Z gleich zu Beginn etwa, steht für Zettel:
    "Die Grimms haben ja sehr viel nicht nur aus Literatur, sondern auch aus mündlich tradierten Erzählungen aufgeschrieben, die dann auch wieder in die Märchen eingeflossen sind und hier sehen Sie etwa so einen kleinen Zettel, wo Jacob Grimm also Rätsel notiert hat mit den Auflösungen und wenn Sie um die Ecke gehen, sehen Sie Abschriften, die Grimms haben sehr viel mittelalterliche Texte abgeschrieben, wir hatten noch keinen Kopierer und das heißt, wenn man einen mittelalterlichen Text fand in einer Bibliothek, dann musste man ihn sich abschreiben."
    Eine Installation an der Wand aus über 1.000 handbeschriebenen Karteikarten, die das Wort Zettel, seine Herkunft und seine Verwendung in Sprache und Literatur behandeln, geben einen Einblick in die Arbeitsweise der beiden Sprachforscher, die zunächst einmal eines war: Eine schier unglaubliche Sammel- und Fleißarbeit. Museumsdirektorin Susanne Völker:
    "Die Grimms haben das Projekt des Wörterbuches mit Sicherheit unterschätzt. Sie haben geglaubt, sie können das Wörterbuch beginnen und auch vollenden, und das wär's dann. Wobei ihnen schon bewusst war, dass sich Sprache verändert, sie haben ja sehr an der Sprachgeschichte, an der Etymologie geforscht, und das ist ihnen im Laufe der Arbeit immer bewusster geworden, sie hatten über 600.000 Belegzettel, also sie haben einfach gemerkt, das es eine unglaubliche Flut und Fülle ist, die sich auch nicht statisch festhalten lässt, sondern die Veränderungen unterworfen ist."
    Die Geschichte des Wörterbuches bis heute hat der russische Künstler Alexej Tschernyi in einer Bildergeschichte mit 14 Kapiteln erzählt, Szene für Szene aus Papier geschnitten und in Diorama-Kästen wie auf kleinen Theaterbühnen angeordnet und beleuchtet. Das ist nicht der einzige Beitrag zeitgenössischer Kunst in der Grimm-Welt. Auf dem Weg zum Untergeschoss, in dem es dann ganz um die Märchen und die Lebensgeschichte der Brüder geht, passieren die Besucher buntlackierte Holzwurzeln, die der chinesische Künstler Ai Wei Wei, einst auf der Documenta gefeiert, dem Museum geschenkt hat. Nicola Lepp:
    "Ai Wei Wei hat uns Wurzeln aus China gebracht und wir haben diese Wurzeln mit dem Lemma 'Holzwurzel' aus dem Wörterbuch, mit dem Eintrag zur Holzwurzel verbunden, weil die Grimms ihre Sprachforschung immer auch als Wurzelforschung bezeichnet haben und die Wurzel für sie aber etwas ist, was viel komplexer ist, als dass es nur ein einziger Ursprung ist."
    Ein sprechender Wald aus grünen Kunststoffsäulen führt in die Welt der Illusion - wer ihn durchläuft, wird mit einem Blick in einen Zauberspiegel belohnt.
    Im Hexenhaus erinnert ein markerschütternder Schrei der Hexe, deren Hinterteil man zuvor in ein Ofenloch treten kann, daran, dass die Märchen alles andere sind, als die Beschreibung einer heilen Kinderwelt. Dass das ihren Siegeszug rund um den Globus nicht aufgehalten, sondern vielleicht eher befeuert hat, macht man sich klar in dem Raum, in dem das Märchen vom Rumpelstilzchen in 28 Sprachen ertönt.
    Oder in dem Raum, in dem der Künstler Müller aus über 600 Märchenverfilmungen einen neuen Erzählstrom geschaffen hat.
    "Froteufel", ein mittelalterliches Wort für den Daemon, den man nicht in den Griff bekommt, war das letzte Wort, das die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch behandelt hatten. Bis zum F waren sie gekommen. Die Grimm- Welt versucht erst gar nicht, diesen "Daemon", der das Werk der Brüder aus Hanau durchzieht, zu bändigen und hinter Museumsglas zu beerdigen. Zu überbordend, zu vielschichtig, ist das, was Jacob und Wilhelm uns hinterlassen haben und was längst ein Eigenleben hat. Dies herauszustellen, ist den Planern und Machern in Kassel gelungen.