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Verfolgte in der Türkei
"Die Solidarität muss weitergehen"

In der Türkei sitzen viele Journalisten und Intellektuelle in Haft. Wer öffentlich Kritik am Regime äußere, müsse mit Konsequenzen rechnen, sagte der Turkologe Oliver Kontny im DLF. Kontny hat den Band "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" der Regimekritikerin Asli Erdogan übersetzt. Er fordert Solidarität auch mit weniger bekannten Schriftstellern und Journalisten.

Oliver Kontny im Gespräch mit Angela Gutzeit | 05.05.2017
    Asli Erdogan
    Sie kämpft weiter mit Worten: die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan kurz nach ihrer Haftentlassung am 29.12.2016 (imago/Depo Photos)
    Angela Gutzeit: Wir stellen Ihnen heute die neuen Bücher der türkischen Journalistin und Schriftstellerin Asli Erdogan und des türkisch-kurdischen Schriftstellers und Lehrers Yavuz Ekinci vor.
    Wenn von türkischen bzw. deutsch-türkischen Oppositionellen die Rede ist, dann stehen Namen wie Can Dündar, Deniz Yücel und Asli Erdogan im Vordergrund. Aber wir wissen – kein kritischer Geist ist in der Türkei noch sicher. Zehntausende füllen mittlerweile die Gefängnisse. Schätzungsweise 100.000 Menschen- die genaue Zahl weiß man nicht - sind aus Schulen, Universitäten, Zeitungsredaktionen entlassen worden. Ihre Namen kennen wir nicht. Umso wichtiger ist das Engagement prominenter Autoren und Journalisten – auch wenn sie dafür einen hohen Preis zahlen.
    Die 1967 in Istanbul geborene Schriftstellerin Asli Erdogan wurde zwar schwer krank aus der Haft entlassen, aber ihr droht wegen angeblicher Unterstützung kurdischer Terrororganisationen erneut Gefängnis. Trotzdem hat sie der Veröffentlichung ihrer Essays in deutscher Übersetzung zugestimmt. Der Band trägt den Titel "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch"- ein Buch der Anklage und des Widerstandsgeistes.
    Ich habe vor der Sendung mit dem Übersetzer Oliver Kontny gesprochen. Und meine erste Frage war, ob diese aufrüttelnden Texte in der Türkei schon einmal erschienen sind. Asli Erdogan hatte ja für die pro-kurdische Zeitung "Özgür Gündem" mit Sitz in Istanbul geschrieben bis diese im August 2016 geschlossen wurde.
    Kontny: Asli Erdogan war tatsächlich auch im Beirat der "Özgür Gündem" als türkische Intellektuelle und hat für diese Zeitung dann Kolumnen geschrieben, was in der Türkei ein so wahnsinnig beliebtes Format ist und im Prinzip wöchentlich immer tagespolitische Fragen mit politologischen Überlegungen kombiniert, kann man sagen. Und diese Texte sind alle in der "Özgür Gündem" erschienen, das heißt, der letzte in dem Buch ist tatsächlich eine Reflexion der Erlebnisse in der Nacht des Militärputsches, 15. Juli, und im August wurde ja die Zeitung dann geschlossen.
    Asli Erdogan: Physikerin am CERN, Schriftstellerin, Feministin
    Gutzeit: Asli Erdogan ist ja zunächst, um mal ein bisschen auf die Biografie einzugehen, als Physikerin tätig gewesen. Sie hatte sowohl in Rio de Janeiro einen Forschungsaufenthalt und hatte auch in Genf am europäischen Kernforschungszentrum Cern gearbeitet, und beide Tätigkeiten haben Eingang gefunden in ihre auch bei uns bekannten Romane "Der wundersame Mandarin" und "Die Stadt mit der roten Pelerine". Was wir vielleicht nicht ganz so genau mitbekommen haben, Oliver Kontny, das ist, dass Asli Erdogan eigentlich schon seit 1998, glaube ich, mit Kolumnen hervorgetreten ist, in denen sie über die staatlichen Repressionen gegen die Kurden und die Situation in den türkischen Gefängnissen berichtete. Ist jetzt dieser Essayband eine, kann man so sagen, eine logische Fortsetzung ihres Engagements?
    Kontny: Unbedingt. Also ich persönlich habe Asli Erdogan als Autorin tatsächlich über ihre Kolumnen kennengelernt, als ich in der Türkei gelebt und gearbeitet habe, bevor ich mir dann eben einen Roman von ihr gekauft habe. Ich glaube, es ist wichtig für sie, immer diese Funktion der, auf Englisch sagt man 'public intellectual' innegehabt zu haben, die sich tatsächlich tagespolitisch auch engagiert. Und auf der anderen Seite hat sie es immer sehr schön geschafft, dann eben diese tagespolitischen Sachen aus ihren Romanen fernzuhalten und wirklich zu schauen, dass es einfach literarische Texte bleiben. Und ich finde es deswegen sehr wichtig, dass die deutschen Leserinnen und Leser jetzt auch einen Einblick bekommen in dieses sehr politische und gleichzeitig doch immer auch literarische Schaffen.
    Autorin fordert beharrlich friedliche Lösung der kurdischen Problematik
    Gutzeit: Und wir gucken jetzt mal auf die Essays. Asli Erdogan sagt ja immer, sie sei nur eine Schriftstellerin, aber diese Texte zeigen sie als Menschenrechtsaktivistin und als kämpferische Zeitzeugin und erbitterte Gegnerin von Gewalt und Unterdrückung, wobei sie ein Geschichtsbewusstsein zeigt, das in der heutigen Türkei lebensgefährlich sein kann – also Stichwort Genozid an den Armeniern und Stichwort Krieg gegen die Kurden im eigenen Land. Was hat denn Sie als Übersetzer an diesen Texten besonders fasziniert?
    Kontny: Dass ich im Prinzip auch meine eigene Meinung zu genau diesen beiden Fragen mir vor vielen Jahren auch mithilfe von Kolumnen und Essays von Asli Erdogan gebildet haben als eben Ausländer, Fremder in der Türkei. Und für mich war es wichtig zu sehen, dass diese Perspektive, die sie beharrlich vertritt, einfach zu sagen, egal, was sich tagespolitisch verändert, inwieweit jetzt eben der Kemalismus durch den Islamismus abgelöst wird, dennoch einfach das klare Prinzip sein muss, eine friedliche Lösung der kurdischen Problematik und gleichzeitig auch dieser feministische Fokus, den sie immer schon gehabt hat, eben auch zu sagen, antimilitaristisches Handeln ist eine feministische Tradition. Und ich finde das sehr, sehr wichtig zu sehen, dass ich das tatsächlich über all die Verwerfungen der letzten Jahre einfach als einen sehr wichtigen Ansatz eben retten konnte.
    Überlebende Armenier warnen vor Genozid an den Kurden
    Gutzeit: Asli Erdogan beschreibt die Vernichtung kurdischer Städte und Dörfer in einer von Erdogan befehligten Militäraktion im Südosten der Türkei. Das geschah im Sommer 2015. Sie sagten, glaube ich, im Vorgespräch, es betraf in erster Linie die Städte und dauerte dann an auch bis 2016, und bei denen wurden ja, wie wir alle wissen, weniger die PKK-Aktivisten als die Menschen aus der Zivilbevölkerung niedergemetzelt. Asli Erdogan erzählt von unerträglichen Grausamkeiten und beruft sich auf Augenzeugenberichte. Für mich etwas verstörend war bei der Lektüre, dass sie diesen Krieg gegen die Kurden mit Auschwitz vergleicht. Wie bewerten Sie das denn?
    Kontny: Ich kann gut verstehen, dass es verstörend ist, und ich glaube, ich kann nichts anderes sagen, als dass sich Leserinnen und Lesern ein eigenes Bild machen müssen, weil ja eben tatsächlich diese Sache mit der Singularität des Holocaust in Deutschland ein sehr wichtiges Thema ist und gerade vor dem Hintergrund von Erdogans Nazivergleichen wahrscheinlich erst mal eine niedrige Toleranz da ist. Auf der anderen Seite finde ich es sehr wichtig zu sehen, dass sie eben tatsächlich aus der Tradition kommt, die immer schon gesagt hat, es hat Genozide in der Türkei gegeben gegen Armenier und Aramäer und auch Pogrome gegen die jüdische Community, und viele Überlebende dieser Genozide aus der armenischen Community zum Beispiel warnen in den letzten Monaten davor, dass ein Genozid tatsächlich auch an Kurdinnen und Kurden stattfinden kann. Und wenn es aus den Stimmen eben hörbar wird, dass es eine wirklich Gefahr ist, finde ich auch zumindest berechtigt, da eine Analogie zu ziehen und zu warnen. Der direkte Vergleich ist natürlich einfach hierzulande immer eine Sache, wo man sehr vorsichtig sein muss, wobei ich glaube, wichtig ist auch, dass Asli Erdogan ja nicht zuletzt auch Auschwitz als Chiffre benutzt, die sie eher von Paul Celan kennt als jetzt aus irgendwelchen Dokumentarfilmen aus dem Fernsehen.
    "Alle tragen im Prinzip ihren Kopf unterm Arm"
    Gutzeit: Also sie streut es immer wieder ein, diesen Auschwitz-Vergleich, aber Sie meinen, es ist mehr eine Chiffre.
    Kontny: Für mich ist es das, ja. So hab ich das gelesen.
    Gutzeit: Diese Essays sind keine literarischen Texte, das Wichtigste ist, sie sollen Zeugnisse ablegen. Die Autorin will sich nicht mitschuldig machen an der Gewalt in ihrem Land, wie sie schreibt, aber ihre Sprache ist trotzdem außerordentlich bildhaft und emotional, finde ich, und fast beschwörend, vielleicht kann man sagen, ihre Formulierungen haben so etwas wie einen weiten Hallraum. Können Sie damit was anfangen?
    Kontny: Ja, kann ich wirklich. Ich vergleiche das manchmal mit Carolin Emcke, die jetzt zwar sehr viel weniger emotional ist, aber natürlich auch es schafft, einmal mit einer literarisch sehr überzeugenden Sprache moralisch sehr simple Sachverhalte darzustellen, die uns oft in Vergessenheit geraten. Das ist jetzt nicht anders bei Asli Erdogan.
    Gutzeit: Obwohl Asli Erdogan in ihren Texten keine Konfrontation scheut und keine Kompromisse macht, kein Blatt vor den Mund nimmt, lässt sich durchblicken, dass sie das Engagement der türkischen oppositionellen Intellektuellen in der Türkei für nicht ausreichend hält und sich selbst sogar von diesem Vorwurf nicht ausnimmt. Das korrespondiert mit der bitteren Feststellung des Schriftstellers Yavuz Ekinci, dass die türkischen Intellektuellen kaum reagiert hätten, als 2015/2016 die kurdischen Städte im Südosten in ein mörderisches Kriegsgebiet verwandelt wurden. Asli Erdogan nimmt er allerdings von dieser Kritik aus. Meine Frage ist jetzt, stehen diejenigen, die jetzt noch in der Türkei Kritik wagen, auf verlorenem Posten?
    Kontny: Eigentlich doch. Vor drei Monaten hätte auch ich noch was anderes gesagt, aber ich hab mittlerweile auch von Menschenrechtsanwältinnen gehört, dass eben tatsächlich alle, die sich gerade zu diesem Thema Jezreel, also das jetzt eben kurzerhand für die Zerstörung der urbanen Gebiete und Dörfer, die sich zu dem Thema äußern, tatsächlich alle im Prinzip ihren Kopf unterm Arm tragen. Und tatsächlich wurde jetzt zuletzt eine junge Lehrerin zu 15 Monaten Haft verurteilt, weil sie in einer Talkshow im Fernsehen einfach gesagt hat, sie findet, dass keine weiteren Kinder mehr sterben dürften. Dieser Satz hat eben gereicht.
    "Solidarität muss natürlich weitergehen"
    Gutzeit: Es sieht so aus, dass Präsident Erdogan nach dem knapp gewonnenen Referendum seinen Feldzug gegen alle unliebsamen Stimmen fortsetzen wird. Was könnte denn von unserer Seite aus hilfreich sein für bedrohte Intellektuelle wie Asli Erdogan oder auch Deniz Yücel, der ja in Haft sitzt?
    Kontny: Also ich finde die einzelnen Kampagnen natürlich wichtig und beteilige mich da auch, aber ich glaube, wichtiger – und das hat auch Yavuz Ekinci gesagt auf der Leipziger Buchmesse –, wichtiger ist es eben, Kampagnen tatsächlich an Themen wie zum Beispiel Meinungsfreiheit oder eben Solidarität mit verfolgten Schriftstellern und Journalisten aufzuhängen, um eben nicht die vielen Namen zu vergessen, die nicht immer in den Mainstream-Medien vorne sind und eben zu schauen, dass wir einfach ein breiteres Bewusstsein bekommen, weil die großen Namen dann irgendwann hoffentlich schon entlassen werden, aber die Solidarität natürlich weitergehen muss. Da hat Yavuz Ekinci gesagt, wir dürfen ihnen keinen Einzigen von uns überlassen, und ich fand das einfach ein sehr, sehr tollen, überzeugenden Satz. Für mich heißt das, dass die deutschen Medien auch die Chance haben, jetzt eine breitere Vielfalt an verschiedenen Stimmen wahrzunehmen, als das bisher geschehen ist, und nicht zuletzt auch, weil viele Leute herkommen. Aber insgesamt gibt es einfach die Möglichkeit zu sagen, wir schauen einfach mal nach zehn weiteren Namen, was uns das Spannendes geben kann, als eben immer wieder die gleichen Leute einzuladen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Asli Erdogan, "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch". Aus dem Türkischen übersetzt von Oliver Kontny, Sabine Adatepe, Sebnem Bahadir, Angelika Gilitz-Acar, Angelika Hoch-Hettmann und Gerhard Meyer, Knaus, 192 Seiten, 17,99 Euro.