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Kate Tempests Debütroman
Einsamkeit und Selbsthass

Bekannt ist Kate Tempest eigentlich für ihre Rap-Musik und vielleicht auch noch für ihre Lyrik. Nun hat die junge Britin ihr Prosadebüt vorgelegt. "Worauf du dich verlassen kannst" ist ein Stück Literatur, das zeigt, wie einstige Ideale und Ambitionen von Menschen an der harten Wirklichkeit zerbrechen können.

Von Maik Brüggemeyer | 25.07.2016
    Das britische Multitalent Kate Tempest bei einem Konzert in Barcelona 2015
    Das britische Multitalent Kate Tempest (imago/ZUMA Press)
    "Überall sind Monster – Titten raus, wässriger Mund, Köpfe zurück, schreiend und kreischend, nur um zu zeigen, dass sie existieren." Das sind die ersten Zeilen eines britischen Hip-Hop-Albums von 2014. Es heißt "Everybody Down". Geschrieben und gerappt hat es die 1985 in Brockley, im Südosten Londons, geborene Kate Tempest, die mit bürgerlichem Namen Kate Esther Calvert heißt. In ihren Songtexten zeichnet sie das Bild einer Gesellschaft im Leerlauf. Von Menschen gefangen im Jetzt. Langsam fokussiert sie sich auf eine kleine Gruppe von Leuten: die Tänzerin Becky etwa, Mitte 20, die ihren Lebensunterhalt mit Kellnern und erotischen Massagen verdienen muss, den Dealer Harry, der mit seinem besten Freund Leon ein florierendes Drogengeschäft im Londoner Nachtleben betreibt, und Harrys meist arbeitslosen Bruder Pete.
    In ihrem Debütroman "The Bricks That Built The Houses" , der nun in der deutschen Übersetzung von Karl und Stella Umlaut mit dem Titel "Worauf du dich verlassen kannst" im Rowohlt Verlag erschienen ist, zeigt Kate Tempest uns nun die biografischen und lebensweltlichen Hintergründe dieser Figuren. Eröffnet wird "Worauf du dich verlassen kannst" allerdings von einer furiosen Flucht mit einem Koffer voll Geld in einem alten Ford Cortina. "Abhauen" heißt das Kapitel, das den letzten Track von "Everybody Down" literarisch spiegelt. Am Steuer sitzt Leon, neben ihm Becky, auf der Rückbank nervös wippend Harry.
    "Hinter ihnen ist die Straße dunkler als vor ihnen, von Erinnerungen deformiert. Die tägliche Routine, zur Arbeit gehen, sich in Geduld üben, neben Leuten rumsitzen und kein Wort miteinander reden. Das Vortanzen, die Bühnenlichter, das Ziehen in ihren Muskeln. Ich Gesicht, das sie aus den Kameraobjektiven heraus anstarrt. Das Make-up und Puder. Die Übelkeit, die sich aushöhlt zum endlosen Korridor, hinter der Bühne, die Hände auf den Knien, das tiefe Atmen. Die Haare stylen, auf den Bus warten, Tische abräumen. Erklingender Applaus. Unendliche Erschöpfung. Das alles sieht sie, draußen auf der Straße, sieht wie es immer kleiner wird, je weiter sie fahren. Sie öffnet das Fenster, atmet den Geruch des Sturms, der vom Asphalt aufsteigt, du muss albern, atemlos kichern."
    Schmuckloser, kühler Tonfall, der eher an einen Unfallbericht erinnert
    Tempests Protagonisten stammen aus zerrütteten Familien. Beckys Vater, ein politischer Visionär mit dem an eine französische Freiheitskämpferin erinnernden Namen, John Darke, sitzt nach einer Verschwörung im Knast, ihre Mutter ist der Religion verfallen, und hat ihre Tochter bei einem Onkel zurückgelassen, der ein Restaurant und einige dunkle Geschäfte betreibt, von denen Becky aber nichts weiß. Graham, der Vater von Pete und Harry, begann sein Erwachsenenleben als Anwalt mit sozialem Gewissen und endete als Alkoholiker. Er lebt getrennt von seiner Frau Miriam, die ihr Fernweh einst für die Familie hintanstellte, und mittlerweile einen neuen, etwas biederen Freund namens David hat. Aus langen Rückblenden erfahren wir viel über die Ideale und Ambitionen, die diese Elterngeneration einst hatte und die schließlich an der harten Wirklichkeit zerbrachen. Nur noch in alten Songs, die im Radio laufen, wie Billy Braggs "New England", scheinen sie aufgehoben.
    Die mit Verweisen gespickten elterlichen Lebensläufe führen in die multikulturelle Metropole London, die Zadie Smith bereits in ihrem 2000 erschienen Roman "Zähne zeigen" beschrieb. Doch Tempest schildert die Vergangenheit nicht mit der Virtuosität und Komik von Smiths Debüt, sondern in einem schmucklosen, kühlen Tonfall, der eher an einen Unfallbericht erinnert. Doch sobald sie ins Präsenz wechselt, erzählt sie mit dem rhythmischen Flow und der sprachlichen Originalität ihrer Rap-Texte. Sie erzählt von Einsamkeit und Selbsthass, Verzweiflung und der Sehnsucht, auszubrechen aus der Enge der Stadt und des eigenen Lebens.
    "Hunderte Körper schieben sich im Obergeschoss einer schicken Bar umeinander herum. Alle reden über sich. Jeder sagt: Ich mache das und das. Es läuft super. Hast du schon von diesem Projekt gehört, das ich mache, und von jenem, hast du davon gehört? Fragende Gesten und empathische Reaktionen. Die Luft ist schwer von Kokainschweiß, versteckter Labilität und der Aussicht auf gute PR."
    Im Mittelpunkt steht zunächst die Liebesgeschichte zwischen Pete und Becky, der pragmatisch-ambitionierten Tänzerin und dem perspektivlosen Gelegenheitsarbeiter, der verbotene Bücher über den gesellschaftlichen Umsturz liest – der Autor: John Darke. Pete scheint für Becky ein Schlüssel zur Gedankenwelt ihres Vaters zu sein, sie für ihn ein Hoffnungsschimmer am dunkelgrauen Horizont der Stadt. Ihre Beziehung ist nicht ohne Spannungen, vor allem ihr Nebenjob als erotische Masseuse macht ihm zu schaffen. Doch schließlich stellt er seine neue Freundin der Familie vor. Harry, in den Rapsongs von "Everybody Down" und im Prolog von "Worauf du dich verlassen kannst" noch Petes Bruder, ist im weiteren Verlauf des Romans plötzlich seine Schwester, heißt eigentlich Harriet, kleidet und gibt sich allerdings wie ein Junge und verliebt sich ebenfalls in Becky, mit der sie nach einer Zufallsbegegnung in einem Club ein Geheimnis teilt.
    Diese Verwirrung der Geschlechter gibt dem Roman einen interessanten Twist, zu dem Tempest vielleicht von der Arbeit an ihrem zweiten Lyrikband, "Hold Your Own", inspiriert wurde, der dieser Tage in einer zweisprachigen Ausgabe beim Suhrkamp Verlag erscheint. Dort gibt die Autorin nämlich ein Update des antiken Mythos von Teiresias. Der ist von der Göttin Hera in eine Frau verwandelt worden, nachdem er eine weibliche Schlange während des Geschlechtsaktes getötet hatte. Tempest beschreibt die Verwandlung in ihrer Version so:
    "Als seine Gestalt sich bewegt,
    Sein Körper gehorcht einem Willen von außen.
    Schwillt an, wo vorher Mulden waren.
    Muskeln knirschen, seine Hüften
    Brechen auf, die Knochen krachen,
    Unten schrumpft, was Junge war, fällt inwärts.
    Kein Denken.
    Das Gefühl neuen Blutes, das fließt"
    Die Arbeiten von Kate Tempest scheinen sich quer durch alle Medien zu überlagern und vervollständigen, bilden Kreise und Strukturen. Und so findet schließlich auch "Worauf du dich verlassen kannst" kurz vor Ende über ein aus dem Ruder gelaufenes Drogengeschäft, bei dem Harry und Dean jede Menge Geld, Stoff und Ärger mitnehmen, wieder zur Flucht am Anfang zurück. Die Geschichte geht zu Ende, aber der Beat geht immer weiter.
    Kate Tempest: "Worauf du dich verlassen kannst"
    Rowohlt Verlag 2016, 400 Seiten, 14,99 Euro