Samstag, 20. April 2024

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Katharina Döbler: "Dein ist das Reich"
Im Kaiser-Wilhelms-Land

Eine Enkelin erforscht das Leben ihrer Großeltern, die als Laienmissionare im frühen 20. Jahrhundert in die deutsche Südsee-Kolonie Kaiser-Wilhelms-Land gingen. Frohe und schmerzliche Erinnerungen an das Leben mit den Papua prägen das Familienleben im Nachkriegsdeutschland.

Von Paul Stoop | 06.07.2021
Hintergrund: Stockimage / Vordergrund: Buchcover "Dein ist das Reich"
Aus Franken in die Südsee - Katharina Döbler erzählt ein Stück Familiengeschichte (Ullstein Buchverlage)
Auf den ersten Blick ist "Dein ist das Reich" ein Kolonialroman über Katharina Döblers vier mittelfränkische Großeltern. Diese ließen ihr bäuerliches Dasein hinter sich und gingen im frühen 20. Jahrhundert nach Papua-Neuguinea. Die Autorin hat sich in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt auf den Weg zu den Ursprüngen dessen begeben, was sie als Kind wahrgenommen hatte: eine meist rätselhaft schweigende, innerlich zerrissene Familie - "gezaust und irgendwie davongekommen, die Erwachsenen erfüllt von einer tropischen Müdigkeit, die aus der Vergangenheit stammte. Sie versicherten einander, wie froh sie waren, es überstanden zu haben: die Krankheiten, die Soldaten, die Meere. Gleichzeitig verfluchten sie es, sehr leise und tief drinnen, damit ihr Gott es nicht hörte."
Die Autorin Katharina Döbler verbindet eigene Kindheitserinnerungen und Gespräche mit den Großeltern im Erwachsenenalter mit Informationen aus Archiven und aus Briefen, Fotoalben und persönlichen Notizen der Weltreisenden. Alles Weitere ist Fiktion. Dieses disparate Material formt sie zu einer Gesamtgeschichte, ohne erkennbare Unterscheidungen zwischen Fakt und Fiktion zu setzen.

Von fränkischen Dörfern in die Südsee

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen, farb- und detailreich erzählt, Familienleben und missionarisches Wirken. Die christliche Parallelgesellschaft in der Kolonie wird gesteuert von der Missionsschule im bayerischen Neuendettelsau. Ein Großvater, hier mit dem Namen Heiner Mohr, ist Plantagenverwalter, der andere Großvater, Johann Hensolt, herumziehender Laienprediger. Mit ihren Ehefrauen, die aus fränkischen Nachbardörfern stammen, gründen sie ihre Familien und leben ein Luther-Deutschland in Miniaturformat – streng im Wort, froh im Gesang.
Die bescheiden lebenden Familien Hensolt und Mohr sind keine Unterdrücker und Ausbeuter, sie nennen die Eingeborenen "unsere Papua". Aber es gibt Heuchelei, wie in der Geschichte Johann Hensolts, der eine junge Papua-Frau schwängert und allein zurücklässt. Wenn es um Arbeit für die Missionsgesellschaft geht, kennt Johann Hensolt kein Pardon: "Der Faulheit der Leute und ihrer Aufsässigkeit kann man ohne Strafe nicht Herr werden. Ohne Schläge geht es einfach nicht, die Bauten müssen fertig werden."

NS-Anhänger auf Papua-Neuguinea

Den Anstoß zu diesem Roman gab die im Archiv gefundene Bestätigung der NSDAP-Mitgliedschaft von zwei der vier realen Großeltern Katharina Döblers. Sie zeichnet im Roman die in Deutschland zunehmenden Ressentiments nach dem Versailler Vertrag in der Neuguinea-Variante nach: die Wut über den Verlust der Kolonie, den Hass auf England und den Westen. Von 1933 an verbindet sich die Überheblichkeit der sich von Gott auserwählt fühlenden Auswanderer mit dem Gift des Staatsrassismus. Einen führenden Gottesmann der Luther-Gemeinschaft lässt die Autorin noch 1944 dichten:
"Trotz aller Zeitungsschmierer
Schikanen, Lug und Spott:
Wir halten treu zum Führer
Und fest an unserm Gott."
Die Autorin zeichnet ihre Figuren differenziert. In der Großmutterfigur Nette blitzen manchmal Eigenschaften einer Frau auf, die als draufgängerische Jugendliche von einem freien Leben geträumt hat. Zu ihr dringt die Nazi-Propaganda kaum durch, während ihr Mann Johann sein Parteiabzeichen offen zur Schau trägt. Beim anderen Großvater des Romans, Heiner Mohr, funktioniert der Wertekompass noch. Als ihm seine Frau Marie, Bewerberin um die NSDAP-Mitgliedschaft, einen Rasierspiegel mit Hitler-Porträt auf der Rückseite geschenkt hat, nimmt er es wortlos und mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis.
"Marie dreht den Spiegel immer herum, wenn Heiner mit dem Rasieren fertig ist. Obwohl sie noch nicht in die Partei aufgenommen worden ist, trifft sie sich mit Führeranhängern im Finschhafengebiet, es sind inzwischen ziemlich viele, es gibt sogar Australier, die da mitmachen. Ihm kommt es närrisch vor."

Hadern mit der eigenen Geschichte

"Dein ist das Reich" ist weit mehr als ein Kolonialroman. Er bietet erhellende Einblicke in das Leben im Nachkriegsdeutschland. Dorthin kehren drei der vier Großeltern zurück, dort spürt die Enkelin den Nachhall der Kolonialerfahrungen. Die Großeltern, allesamt starke Persönlichkeiten, hadern mit ihrer Geschichte. So quält sich Nette Hensolt mit der Frage, ob es richtig war, ihre beiden Söhne allein nach Deutschland geschickt zu haben, wo sie ihre Jugend im Internat verbrachten und sich von den Eltern entfremdeten.
"Sie hat ihre Kinder verlassen, in diesem schrecklichen Nest zurückgelassen. War es wirklich Gott, der das wollte? Sie hätte auf ihr Herz hören sollen, und ihr Herz hat gesagt, lass die Kinder nicht zurück. Ihr Herz hat auch gesagt, sei bei dem Mann, zu dem du gehörst. Und bei deinen Papua."
Diese mittlere Generation der Kinder erweist sich als seelisch zerrieben: In der Kolonie geboren, kamen die einen als Fremde in die ungewohnt kalte deutsche Heimat, die anderen hatten dort Jahre lang in christlichen Internaten gelitten. Im Nachkriegsdeutschland entstand so eine traumatisierte Elterngeneration.

Die dunkle Seite der Familie

So faszinierend die Darstellung der großelterlichen Lebenswege ist, so wichtig ist "Dein ist das Reich" auch als Zeugnis einer persönlichen Annäherung an eine dunkle Familiengeschichte. Die Fiktionalisierung hat Katharina Döbler einen Weg eröffnet, das aus ihrer Sicht Verabscheuungswürdige in Einklang zu bringen mit der persönlichen Wärme, die sie immer für die Großeltern empfunden hat. Das Ergebnis ist ein lesenswerter und kluger Roman über ein Jahrhundert, das noch nicht vergangen ist.
Katharina Döbler: "Dein ist das Reich"
Claassen Verlag, Berlin.
480 Seiten, 24 Euro.