Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Katharina Hartwell: "Der Dieb in der Nacht"
Kein Interesse am realistischen Erzählen

Schon mit ihrem ersten Roman zeigte die Autorin Katharina Hartwell ihr Interesse für dunkle Gegenwelten, für das Unergründliche und Gespenstische, das abseits des Kontrollierbaren in unseren Alltag hineinsickert. Ihr zweiter Roman "Der Dieb in der Nacht" erzählt eine Horrorgeschichte aus der Gegenwart. Elegant und doppelbödig inszeniert sie ein Spiel von Täuschung und Selbsttäuschung.

Von Christoph Schröder | 09.12.2015
    Prag mit Blick auf die Burg und die Mánes-Brücke im Februar 2010.
    Düsterer Prager Winter: In dieser Atmosphäre spielt der Roman von Katharina Hartwell. (PHOTO AFP / Michal Cizek)
    Felix Heller ist verschwunden. Zehn Jahre ist das nun her. Damals war er 19 Jahre alt, hatte soeben das Abitur hinter sich gebracht und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Eine Flasche Cola wollte er kaufen, vorne an der Tankstelle in dem brandenburgischen Dorf, in dem seine Familie ein Sommerhaus besaß. Die Cola hat er gekauft. Danach hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen.
    Das ist die Ausgangssituation von Katharina Hartwells neuem Roman, ihrem zweiten. Es wäre der Stoff für einen Kriminalroman. Katharina Hartwell dagegen, Jahrgang 1984 und Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, macht daraus eine moderne Gespenstergeschichte. "Der Dieb in der Nacht" ist ein Gruselstück aus der Gegenwart, in dem Angst, Verunsicherung und Erschrecken durch die dünne Membran von Gewissheiten hindurchsickern.
    Zehn Jahre nach Felix' Verschwinden glaubt dessen bester Freund Paul, Felix wiedergefunden zu haben. In einer Kellerbar in Prag trifft er einen Mann, der Felix, mit Ausnahme eines Muttermals am Handgelenk, nicht im Geringsten ähnlich sieht. Und trotzdem ist Paul überzeugt davon, dass es sich dabei um niemand anderen als Felix handeln kann. In einem düsteren, unwirtlichen Prag heftet Paul sich an die Fersen des Fremden. Ein bedrückendes Szenario, bei dem Katharina Hartwell allerdings weniger an Kafka dachte als an persönliche Erfahrungen.
    "Ich habe Prag als schrecklichen Ort empfunden. Ich war einen Monat da im November; es war grau, es war dunkel, es ging mir gesundheitlich nicht so gut, und ich habe mich sehr unwohl gefühlt. Und ich hatte das Gefühl, diese Geschichte muss an einem so schrecklichen Ort anfangen, mit jemandem, der diesen Ort als ganz furchtbar empfindet. Prag hat ja etwas Surreales; für mich war diese Stadt bevölkert von schrecklichen Sachen. Man ging zu einem Friedhof oder zum Kafka-Museum, und auch das ist ein ganz gruseliger Ort."
    Gegenwartspassagen wechseln ab mit Rückblenden
    Blixen nennt sich der Mann, der angeblich Felix sein soll. Ein Pseudonym, versteht sich. Seinen wahren Namen, behauptet er, kenne er nicht; man habe ihn vor fünf Jahren aus der Moldau gefischt, ohne Papiere und ohne Erinnerung. Eine Identitätsleerstelle. Niemand überprüft seine Geschichte, niemand zweifelt sie an. Blixen wird zur Projektionsfläche und zu einem Mysterium. Wie ein Dieb schleicht er sich in das Leben der Hinterbliebenen ein. Als Paul nach Berlin zurückkehrt, steht Blixen eines Tages ohne Ankündigung vor Pauls Wohnungstür. Paul und Felix' Schwester Louise geraten zunehmend in den Bann eines Gespenstes. Der Dämon Blixen ist ein dunkler Spiegel, in dem Paul, Louise und später sogar deren grundrationale Mutter Agnes ihre verdrängten und verleugneten Lebensprobleme vorgehalten bekommen.
    "Die Ausgangssituation der Figuren ist ja die, dass ihnen etwas widerfahren ist, ein Unglück, etwas Schreckliches; jemand ist verschwunden, den sie geliebt haben, und das hat sie irgendwie aus der Bahn geworfen. Und ich glaube, wenn man aus der Bahn geworfen wird durch irgendetwas, dass man dann so eine Figur oder so eine Kraft anzieht, dass man schneller damit konfrontiert wird, dass die quasi auf so jemanden warten."
    Die Gegenwartspassagen wechseln ab mit Rückblenden, in denen Katharina Hartwell von den Anfängen der durchaus auch erotisch aufgeladenen Freundschaft zwischen Paul und Felix erzählt. Rätselhaft war es schon immer, was die beiden verbunden hat. Etwas Untergründiges, Unausgesprochenes hat sie zusammen gehalten seit dem Tag, an dem Felix Paul in der 6. Klasse mit einem Fußball die Nase blutig geschossen hat. Der Mensch, der Felix vor seinem Verschwinden gewesen ist, war nicht weniger opak als jener Blixen, der nun seine vampirhafte Existenz in Pauls Wohnung führt. Energien hat er gebündelt, Wünsche geweckt und manchmal erfüllt, manchmal enttäuscht. "Der Dieb in der Nacht" ist auch ein Buch der Grenzüberschreitungen: So wie Felix' Elternhaus zu Jugendzeiten zu Pauls Heimat wurde, reißt Blixen nun wie selbstverständlich fremde Leben an sich. Aber wer oder was ist Blixen überhaupt? Und glaubt die Autorin an Geister?
    "Ich glaube an sehr viel. Ich bin sehr offen, aber ich zweifele leider dann auch wieder sehr viel. Ich möchte immer an ganz viel glauben. Ich möchte auch an Geister glauben, aber es gelingt mir nicht so richtig. Und klar, natürlich glaube ich auch an die Seele und an Seelenverwandtschaft, und ich denke, dass diese mystischen Elemente das sind, was mich am Schreiben interessiert. Es geht viel mehr um diese Unsicherheiten und was ist die Identität. Wer taucht da eigentlich auf? Ist das ein tatsächlicher Mensch, der da auftaucht? Oder ist das vielleicht nicht etwas anderes, was da an die Tür klopft?"
    Inspiration durch einen Dokumentarfilm
    Katharina Hartwell ist eine Autorin, die sich elementar von Kollegen ihrer Generation unterscheidet. Das rein realistische Erzählen interessiert sie nicht. Schon ihr Debütroman "Das fremde Meer" war ein motivisch fein gesponnenes Netz von Erzählungen; ein Reigen um Liebe, Verlust und Tod. Für "Der Dieb in der Nacht" hat Hartwell einen eigenwilligen, märchenhaften, aber zu keinem Zeitpunkt manierierten Ton gefunden, der ihre Figuren in der Schwebe und den Leser in einem Spannungsfeld zwischen real begründeter Unsicherheit und einer schwer fassbaren Unruhe festhält. Nicht zufällig ist Blixen ein Künstler, der in Knochenskulpturen nach der menschlichen Seele sucht. Und nicht zufällig hat Katharina Hartwell sowohl ein Faible für Horrorfilme als auch für die klassischen Märchen:
    "Ich habe mir für ein anderes Projekt tatsächlich einmal die Märchen der Brüder Grimm noch einmal angeguckt, zum Beispiel "Allerleirauh", wo es um Inzest geht, oder es werden aus der Haut von Verstorbenen Mäntel genäht oder Türen werden mit abgehackten Fingerchen aufgeschlossen. Es liegt ein großer Horror in den Märchen, die man Kindern erzählt."
    Die Idee zu "Der Dieb in der Nacht" kam Katharina Hartwell beim Betrachten des Dokumentarfilms "Der Blender". Der Film erzählt von einem Jungen, der im Alter von 13 Jahren aus Texas verschwindet und dessen Eltern drei Jahre später einen jungen Mann als ihren wieder gekehrten Sohn akzeptieren, obwohl dieser nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Verschwundenen aufweist. Der Film löst das Rätsel auf: Der Mann war ein Betrüger. Diesen Ausweg gestattet Katharina Hartwell sich und uns nicht. Das macht ihren Roman, der um Täuschung und Selbsttäuschung kreist, umso beunruhigender.
    Katharina Hartwell: Der Dieb in der Nacht, Roman. Berlin Verlag, Berlin 2015. 320 Seiten, 20 Euro.