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Katholische Kirche
Barmherzigkeit auf Befehl?

Das Heilige Jahr ist vorbei, barmherziger sollte die Kirche nach dem Willen des Papstes durch dieses Ereignis werden. Doch das ist nicht so leicht, es gibt Widerspruch von besorgten Kardinälen. Viele Hierarchen hätten katholische Kommandostrukturen verinnerlicht, so die Ansicht des Theologe Hans-Joachim Höhn im Deutschlandfunk.

Hans-Joachim Höhn im Gespräch mit Christiane Florin | 08.12.2016
    Papst Franziskus schließt die Heilige Pforte des Petersdom und beendet damit das Heilige Jahr der Barmherzigkeit
    Mit dem Schließen der Heiligen Pforte beendet Papst Franziskus das Heilige Jahr der Barmherzigkeit (imago stock&people)
    Christiane Florin: Herr Professor Höhn, Ihre Barmherzigkeits-Bilanz, bitte: Ist die Welt barmherziger geworden?
    Hans-Joachim Höhn: Die Welt ist wahrscheinlich nicht barmherziger geworden, aber vielleicht die Kirche. Es hat eine neues Bewusstsein dafür gegeben, dass Barmherzigkeit nicht nur eine Eigenschaft Gottes ist, die er dem reumütigen Sünder zeigt, der zu ihm zurückkehrt, sondern dass es auch eine Vorgabe ist für das Verhalten der Kirche und sie eine neue Umgangsform mit manchen Einrichtungen in ihren eigenen Zirkeln praktizieren muss, die eher legalistisch gekennzeichnet waren mit einem moralischen Rigorismus begleitet wurden. Hier ist doch, denke ich, ein anderes Bewusstsein eingetreten. Und insofern hat das Jahr der Barmherzigkeit Wirkung gezeigt.
    Florin: Welche Bereiche meinen Sie?
    Höhn: Nun in der Sakramentenpastoral, in dem Umgang mit auch den wiederverheiratet Geschiedenen - ein ewig wunder Punkt - zeigt sich doch auch in den Debatten der letzten Wochen, dass hier ein Akzent gesetzt wurde, der nicht mehr rückgängig zu machen ist.
    Florin: Welcher Akzent?
    Höhn: Das Werben des Papstes dafür, dass es Situationen in der Biographie eines Menschen gibt, denen man nicht mit der Anwendung von Recht und Gesetz, nicht mit der Anwendung von Dogma und Moral gerecht werden kann, sondern in der eine neue Abwägung, ein neues diskretes Einlassen auf die Situation des Einzelnen, auf seine Besonderheiten, auf seine besondere Geschichte, auch die Brüche und Verweiflungen, die es in dieser Geschichte gibt, ein Verständnis für tragische Situationen. Und das hat es bisher so in der Kirche nicht gegeben. Das ist eigentlich mit Franziskus neu wieder erinnert worden.
    "Ein Kompass für das eigene Handeln"
    Florin: Aber an wen richtet sich ein solches Jahr der Barmherzigkeit, an die Welt oder an die Kirche?
    Höhn: Zunächst einmal an die, die sich zur Gemeinschaft der Glaubenden zählen und die gerne wieder mit sich und Gott ins Reine kommen wollen. Das Jahr der Barmherzigkeit gehört ja in die Reihe der sogenannten Heiligen Jahre, eine Einladung alle 25 Jahre, die von der Kirche ausgesprochen wird, nach Rom zu pilgern ans Grab der Apostel, dort traditionell Bußleistungen zu absolvieren und dann eine Absolution zu erlangen, vielleicht sogar einen Ablass, der einem einen Neustart, einen Neuanfang im Leben, im Glaubensleben, aber auch im säkularen Leben ermöglichen soll. Der neue Gedanke in diesem Jahr war, dass man Barmherzigkeit als Kompass für das eigene kirchliche Handeln entdeckt.
    Misericordia, das lateinische Wort für Barmherzigkeit, sein Herz bei denen haben, die in einer Misere stecken, sich denen zuwenden und ihnen neue Türe öffnen, neue Zugänge öffnen ins Leben, aber auch ins Leben mit Gott oder in der Kirche.
    Hans-Joachim Höhn, Theologe und Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosphie
    Hans-Joachim Höhn, Theologe und Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosphie (Heinrich Klauke)
    Florin: Der Klassiker zum Thema ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der zusammengeschlagen am Wegesrand, bekommt Hilfe von einem Mann, der auch nicht zu einer besonders angesehenen Gruppe gehört. Hat nicht Barmherzigkeit einen Zug der Herablassung?
    Höhn: Das ist ein Verdachtsmoment, den man immer gegenüber diesem Gestus der Barmherzigkeit äußern kann. Barmherzigkeit ist missverstanden, wenn man es auf die Formel bringt, wir lassen mal Gnade vor Recht ergehen oder wir zeigen einen huldvollen Gnadenerweis von oben nach unten, das ist dann eine paternalistische Geste. Barmherzigkeit braucht man dann, wenn die Anwendung des Gesetzes nicht gnadenlos werden soll.
    Florin: Also soll jetzt Barmherzigkeit in der katholischen Kirche die Regel werden oder die Ausnahme bleiben?
    Höhn: Es ist eine Regel, wie man Ausnahmen von Regeln machen soll. Klingt ein bisschen vertrackt, aber ich denke, das ist der gute Sinn von Barmherzigkeit. Wenn es zu viele Fälle gäbe, in denen diese Ausnahmeregeln greifen sollte, dann müsste man sich Gedanken machen, ob es nicht bessere und neuere Regeln schafft.
    "Das Einmalige des Menschen wahrnehmen"
    Florin: Hat der Papst die Normen geändert?
    Höhn: Nein, er hat einen anderen Umgang mit den Normen vorgeschlagen bzw. er hat die Augen dafür geöffnet, dass es Situationen gibt, in denen Normen nicht einfachhin applizierbar sind, das berühmte Wort vom Einzelfall ist ja auch missdeutbar, ich muss auf den Einzelnen schauen, aber wenn ich ihn wiederum nur als einen Fall betrachte, der unter die Anwendung einer bestimmten Regel fällt, habe ich das Einzigartige, das Einmalige eines Menschen und seiner Biographie wieder nicht wahrgenommen.
    Florin: Sie sagen also, der Papst wendet immer noch die Normen an, die auch früher gegolten haben. Was er zum Beispiel zum Thema Ehe geschrieben hat, das ist keine Änderung der Lehre? Habe ich das richtig verstanden?
    Höhn: Er hat, das war auch das Ergebnis der beiden Bischofsynoden, doch eine andere Sprache gefunden, was die Sinnofferte des Ehesakraments ausmacht. Es ist ja fast schon irritierend zu beobachten, dass dort die großen Wünsche des Menschen - auch des modernen Menschen - ausgesprochen werden, einen anderen zu finden, eine andere zu finden, die es mit mir aushält und zwar ein Leben lang, die mich nicht verlässt, wenn es schlecht um mich steht, das sind große Wünsche, die auch Menschen heute haben. Es gehört zu den größten Missverständnissen, dass man dieses Deutungsangebot eines Lebensglücks legalistisch, rigoristisch missverstanden hat und missinterpretiert hat in der dogmatischen und moraltheologischen Tradition der Kirche.
    Florin: Und wie versteht Franziskus das?
    Höhn: Eher als ein Versprechen, das sich zwei Menschen geben, was nicht in eine Ehevertrag hineinpasst.
    "Ein Platz in der Kirche auch für die, die sich eine neue Liebe versprechen"
    Florin: Und wenn es nicht gelingt, das Versprechen zu halten, was passiert dann, wie geht er dann mit diesen Menschen um?
    Höhn: Da bietet er ja einen langen, vielleicht für die Betroffenen auch zu langen Weg an, der Selbstergründung, der Selbstbefragung, wie kam es dazu, dass ich im Wollen des Guten das Negative erlebt habe oder ausgelöst habe, dass ich einen anderen verlassen musste oder von einem anderen verlassen wurde, wie konnte es dazu kommen, dass mir eine solches Glück unter den eigenen Händen zerbrochen ist. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, zu dem er einlädt, darüber nachzudenken. Insofern wird hier denjenigen, die sich darüber freuen im Leben nochmal einen anderen Menschen gefunden zu haben, mit dem ein neues Glück und eine neue Liebe versprochen wird, dass die auch in der Kirche einen Platz haben, indem das Wertschätzung erfährt, was sie da an Glück und Gnade erleben. Aber er macht es ihnen nicht leicht bei diesem Angebot ungeteilt wieder an alldem partizipieren zu können, was das Leben der Kirche ausmacht inklusive der Sakramente.
    Florin: Ihre kompliziertere Antwort lässt darauf schließen, dass es nicht so leicht ist zu sagen: "Barmherzigkeit bedeutet für das katholische Eheverständnis, für die Möglichkeit wieder die Sakramente zu empfangen, wenn ich wiederverheiratet geschieden bin, bedeutet konkret das und das." Das habe ich jetzt aus Ihrer Antwort herausgehört. Also ganz so eindeutig beantwortet Franziskus nicht, was Barmherzigkeit in diesem konkreten Fall heißen soll.
    Vor einigen Wochen haben besorgte Kardinäle, darunter der frühere Erzbischof von Köln, Meisner, den Papst darum gebeten, eine klare Ansage zu machen, die Gläubigen seien verwirrt, haben diese Kardinäle behauptet. Ist nicht tatsächlich Barmherzigkeit eine Zumutung vor allem für diejenigen, die sich immer brav an die Regeln gehalten haben und die jetzt sagen, warum soll den der, der zweimal geschieden ist, jetzt auch neben mir an der Kommunionbank stehen? Haben nicht diese Kardinäle ein bisschen Recht?
    Höhn: Menschen, die mit Regeln gut gefahren sind und die darin etwas Haltgebendes, etwas Sicherndes erlebt haben, werden auch keine Gründe sehen sich zu beschweren, sondern es geht ja um Konstellationen, um Situationen in einem Leben, die - und da finde ich das Wort sehr verräterisch - auch von den Kritikern des Papstes immer wieder als irregulär beschrieben werden.
    Ich übersetze das Wort irregulär so, dass es mit keiner Regel reguliert werden kann, mit keiner passenden Norm erfasst werden kann, mit keinem passenden Gebot oder Verbot gerichtet, abgerichtet oder verurteilt werden könnte. Und genau darauf wurde ja im Jahr der Barmherzigkeit immer und immer wieder hingewiesen, schaut auf die Situationen im Leben eines Menschen, zweier Menschen, die so sind, dass sie mit den herkömmlichen Regeln einfach nicht bewältigt werden können. Das haben diese vier Kardinäle nicht verstanden, dass es solche Situationen gibt, mit denen man anders umgehen muss und das war ja auch die gute Antwort des Papstes, dass er ihnen signalisiert: Ihr habt nichts verstanden, rein gar nichts. Ihr meint immer noch, alles was wir Verhalten Glück und Missglück des Menschen zu tun haben, sei zu pressen in das Schema Norm, Normerwartung, Normerfüllung, Normverstoß und das zieht dann entsprechende Sanktionen nach sich. Solange ihr nur darauf fixiert seid, werdet ihr für vieles blind sein, was das Leben der Menschen so dramatisch macht.
    "Umgang mit dem Papst wie mit einem Häretiker"
    Florin: Es ist aber auch nicht gerade barmherzig, die Kardinäle derart abzubürsten, oder?
    Höhn: Ja, aber was soll man tun, wenn sozusagen man einen Text erhält, der mit dem Papst so umgeht wie früher das Heilige Offizium mit Theologen, die unter den Verdacht geraten sind, sie seien Häretiker oder Dissidenten.
    Florin: Ist das eine einflussreiche Truppe, die den Papst nicht für katholisch oder nicht für katholisch genug hält?
    Höhn: Ja, es sind zwar mit einem Kurienkardinal, der sogar im Kardinalsrat sitzt durchaus prominente Vertreter dabei, aber wir haben mit Kardinal Meisner einen emeritierten Erzbischof, wir haben mit Kardinal Brandmüller einen Mann, der doch eher sein Leben lang im theologischen Rückspiegel verbracht hat, er ist von seiner Profession her Kirchenhistoriker, da verwundert es nicht, dass solche Texte dann entstehen.
    Florin: Also nicht einflussreich.
    Höhn: Denke ich nicht. Die Beobachtung zeigt ja auch, dass es keine große Solidarisierung mit dieser Gruppe gegeben hat. Der Applaus aus den Kulissen ist doch sehr spärlich geblieben.
    Florin: Aber auffallend ist auch, dass es keine große Solidarisierung mit diesem Papst gibt. Er hat Anfang des Jahres ein Buch veröffentlicht "Der Name Gottes ist Barmherzigkeit", Gott ist barmherzig war auch das Thema seiner allerersten Predigt vor fast vier Jahren, es scheint doch so, als müsse er das immer wiederholen, weil ihn niemand ernstnimmt oder niemand seinen Vorgaben gehorcht. Warum ist es so schwer, das er das dauernd sagen muss mit der Barmherzigkeit?
    Höhn: Ist auch für mich ein Rätsel, dass es so wenige gibt, die ungeteilgt dieser neuen Kursbestimmung folgen und immer noch auf eine normative Vorgabe warten, jetzt barmherzig zu sein. Auf ein "Ihr könnt!" reagieren sie nicht, sie würden wahrscheinlich erst reagieren, wenn von Rom ein "Ihr müsst jetzt aber!" kommen würde.
    Florin: Sind katholische Hierarchen nicht gemacht für die Barmherzigkeit?
    Höhn: Sie sind wahrscheinlich noch selbst sozialisiert worden in ein Kirchenverständnis, das mit Kommandostrukturen arbeitet, wo es eine Von-oben-nach-unten-Kommunikation gibt, wo es ein enormes Misstrauen gibt gegenüber Handlundspielräumen, die man eigenen Gewissens und guten Gewissens selber füllen darf.
    Florin: Sie lehren an der Universität Köln, haben viel mit Studentinnen und Studenten zu tun. Interessieren die sich eigentlich für das, was der Papst so macht und speziell für Barmherzigkeit?
    Höhn: Speziell für das Thema Barmherzigkeit, unter diesem Label, meine ich, ist das Interesse sehr wenig ausgeprägt, wie man generell feststellen kann, dass bei den Studierenden innerkirchliche Konflikte auch dieses Ereignis von den vier Kardinälen kaum wahrgenommen wird, kaum zum Gegenstand von Diskussionen oder Debatten genommen wird.
    Florin: Interessant ist ja auch, dass das Wort Barmherzigkeit im weltlichen Sprachgebrauch kaum vorkommt. Man spricht von großzügig, von hilfsbereit, neuerdings auch sehr häufig von empathisch, das ist ja alles so ungefähr das Wortfeld, aber das Wort Barmherzigkeit scheint irgendwie veraltet. Ist das ein Hinweis darauf, dass sich die katholische Kirche ins Abseits begeben hat, dass die als katholische Sonderwelt empfunden wird.
    Höhn: Ja es gibt in der Tat solche Begriffe, die Patina angesetzt haben und wo der Versuch groß ist sie aus dem Vokabelheft, aus dem Vokabelheft der Kirche vielleicht zu streichen, weil man Sorge hat, damit nicht mehr verstanden zu werden.
    Florin: Aber auch aus dem Vokabelheft der Welt.
    Höhn: Ja und umso dringlicher scheint mir, dass wir dieses Wort brauchen um auch die Herzlosigkeit, die Gnadenlosigkeit unserer Gesellschaft oder bestimmter Strukturen in unserer Gesellschaft benennen zu können. Verzichte ich auf ein Wort, verzichte ich auch auf Gelegenheiten, in denen dieses Wort sehr gut eingesetzt werden könnte, indem es etwas hervorkehren könnte, was ansonsten mit anderen Begriffen so nicht deutlich gemacht werden kann.
    Florin: Bald wird Franziskus 80 Jahre, glauben Sie, dass er dann zurücktritt?
    Höhn: Ich denke es nicht und ich hoffe es nicht, denn die franziskanische Wende in der katholischen Kirche ist nach wie vor ein unvollendetes Projekt und es wäre ein fatales Zeichen und ein fatales Ereignis, wenn es tatsächlich zu einem vorzeitigen Rücktritt des Papstes käme.
    Hans-Joachim Höhn ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Köln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.