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Kazuo Ishiguro: "Der begrabene Riese"
Kollektiv verdrängte Schuld

Der englische Schriftsteller Kazuo Ishiguro hat sich schon an so manchem Thema versucht und ist bislang nie gescheitert - egal ob historischer Roman, Science Fiction oder moderne Erzählung. Jetzt hat er sich an einen Fantasy-Roman gewagt und auch diesmal ist ihm das Kunststück gelungen, die Grenzen des Genres zugleich zu wahren und zu sprengen.

Von Johannes Kaiser | 05.10.2017
    Der britisch-japanische Schriftsteller Kazuo Ishiguro, aufgenommen am 17.3.2015 bei einem Interview in Toronto, Kanada.
    Kazuo Ishiguro, britischer Schriftsteller japanischer Herkunft (imago / ZUMA Press)
    Wer die Romane des japanischstämmigen, englischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro kennt, insbesondere seine Butlergeschichte 'Was vom Tage übrigblieb', die ihn berühmt machte, ist erst einmal einige Dutzend Seiten lang perplex: Wir werden diesmal in eine Welt entführt, in der Drachen, Elfen und Ritter leben – eine Fantasy-Welt. Doch schon bald wird klar, dass der Schriftsteller mehr im Sinn hatte, als einen fantastischen Abenteuerroman zu schreiben:
    "In diesem Fall wollte ich eine Geschichte darüber schreiben, wie Leute sich erinnern und was sie vergessen und wie sie mit der Frage kämpfen: Wann ist es besser zu vergessen und wann ist es besser, sich zu erinnern. Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, sie in einer zeitgenössischen Umgebung anzusiedeln. Die schrecklichen Sachen, die in Bosnien und im Kosovo passiert sind, haben mich interessiert. In Ruanda ebenso. Fast jedes Land scheint so eine dunkle Vergangenheit zu besitzen. Die Leute erinnern sich nur sehr ungern daran und sie zögern bei der Frage, wie viel soll man erinnern und wie viel soll man vergessen. Ich entschloss mich schließlich gegen ein Buch in einem ganz besonderen historischen Umfeld. Ich wollte so etwas wie ein Volksmärchen erzählen, das sich auf viele unterschiedliche Situationen anwenden lässt. Ich wollte damit andeuten, dass es etwas ist, mit dem die Menschen schon immer in ihrer Geschichte gekämpft haben. Darum hat mich diese alte Fantasiewelt gereizt. Den Menschen wird dadurch klar, dass die Oberfläche der Geschichte nicht so wichtig ist. Ich fand es sehr verführerisch, so etwas wie ein Volksmärchen über aktuelle Verhältnisse zu schaffen."
    Südengland ist damals eine wüste Landschaft
    Der Roman spielt im fünften Jahrhundert in Südengland. In dieser Zeit entsteht England: Die Römer sind abgezogen, angelsächsische Einwanderer drängen ins Land, vertreiben die einheimische britannische Bevölkerung. Die Menschen glauben noch an Fabelwesen und Geister, schreiben Naturereignisse den Kräften von Dämonen zu. In ihren Köpfen vermischen sich christlicher Glauben und keltische Götterwelt. Die meisten können weder lesen noch schreiben. Es gibt kaum historische Dokumente über diese Epoche und die Historiker sind sich auch nicht einig darüber, was damals wirklich geschah. Also ein perfekter Hintergrund für einen Schriftsteller, der nun mit seiner Fantasie die Lücken schließen kann.
    Südengland ist damals eine wüste Landschaft, noch nicht kultiviert. Wilde Tiere streifen herum, ängstigen die Menschen. Axl und Beatrice, ein altes Ehepaar, in ihrem Dorf eher geduldete Außenseiter denn akzeptierte Mitbewohner brechen auf, ihren vor Ewigkeiten ausgezogenen Sohn zu suchen. Sie begeben sich auf eine mühsame und gefährliche Reise. Misstrauen schlägt ihnen in den Dörfern entgegen, in denen sie übernachten wollen. Die Menschen sind allem Fremden gegenüber feindselig eingestellt. Nur mit Mühe entkommen sie zum Beispiel einem aufgeregten Mob, als ein Untier das Dorf bedroht, in dem sie gerade Unterschlupf gefunden haben.
    Kazuo Ishiguro stellt das alte Ehepaar und seine Erlebnisse in den Mittelpunkt des Buches. Auch ihre Geschichte ist eine Variante seines Leitmotivs:
    "Es ist letztlich eine Liebesgeschichte, aber keine im üblichen Sinne. Wenn wir von einer Liebesgeschichte reden, dann sprechen wir meistens von der Geschichte des Werbens und die Geschichte endet, wenn die beiden sich entschließen, zu heiraten. Für mich sollte eine Liebesgeschichte da beginnen, wo die Liebesgeschichten normalerweise enden. Sie sollte den langen Kampf und all die Veränderungen und Belastungen, all die Steine, die einer Liebe während all der Jahre im Wege standen, zeigen und das, was die Liebe lebendig gehalten hat. Ich habe mir dieselbe Frage bei den Nationen gestellt: Wann ist besser für eine Nation, die dunklen Episoden der Vergangenheit zu vergessen, um den Frieden zu erhalten und damit eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten, und wann ist es besser, einen klaren Blick auf die Vergangenheit zu werfen? In diesem Fall wollte ich mir ein altes Paar anschauen, das sich selbst eben diese Fragen stellt. Die Erinnerungen eines Paares, das schon seit sehr vielen Jahren zusammenlebt, sind oftmals das Fundament dieser Beziehung und sie zu vergessen, ist ganz schrecklich. Die beiden gehen auf die Reise, um die verlorenen Erinnerungen wiederzufinden. Wenn sie weiterhin manches nicht mehr sehen und so ihr Leben beenden, bedeutet das dann, dass ihre Liebe nicht wahrhaftig war? Beruht ihre Liebe vielleicht auf einer Lüge? All dies beunruhigt das Paar immer stärker, je weiter wir in der Geschichte vordringen."

    Axl und Beatrice können sich anfangs nicht einmal mehr daran erinnern, wie alt ihr Sohn ist, wie er heißt und wann er sie verließ. Alles ist in einem grauen Erinnerungsnebel verschwunden, der sich allmählich im Fortgang des Romans lichtet. Wie sich herausschält, war Axl keineswegs schon immer ein friedlicher Bauer und Beatrice auch nicht die treuliebende Ehefrau.
    Wann ist es gut zu vergessen und zu verdrängen?
    "Er hat eine Vergangenheit, wie sie viele Figuren meiner vorherigen Romane auch haben. Er hatte ein guter Mensch sein wollen, strebte danach, Gutes für die Gesellschaft zu machen, aber er war als Individuum nur ein Rädchen im System. Er ist in der Vergangenheit der Diener eines mächtigen Militärkönigs gewesen. Ihm missfällt, was früher geschehen ist und er hat das Gefühl, dass seine Fähigkeiten damals auf eine Art und Weise ausgenutzt wurden, die er nicht gebilligt hat. Er versucht, eben diese Vergangenheit zu vergessen, und hat ein neues, ein bescheideneres Leben angefangen. Doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Das verbindet ihn mit den anderen Figuren aus meiner Vergangenheit. Sie sind alle in gewisser Weise naiv, idealistische Menschen, die ihr Vertrauen und ihre Energie einsetzten, um die falschen Geister zu jagen."
    Auf seinem Weg trifft das alte Ehepaar auf den Krieger Wistan, der fortan mit ihnen zieht und sie schützt. In seiner Begleitung ein junger Mann, der gerade einem Menschenfresser entkommen ist. Wistan erzählt ihnen, dass er im Auftrag seines Königs unterwegs ist, um eine Drachin zu töten, weil sie die gesamte Gegend unsicher macht und die Bewohner bedroht. Wie sich herausstellt, ist es ihr Atem, der bei den Menschen das Gedächtnis löscht. Wenig später stoßen sie auf einen alten Ritter, klapprig und hager unter seiner Rüstung. Es ist Gawein, einstmals der Jüngste an König Arturs Ritterrunde, jetzt der letzte Überlebende. Auch er sucht nach der Drachin. Doch aus einem ganz anderen Motiv.
    "Der angelsächsische Krieger Wistan ist die Stimme derjenigen, die sagen, schreckliche Ungerechtigkeiten haben stattgefunden und wir sind gezwungen worden, sie zu vergessen. Schreckliche Verbrechen sind ungestraft geblieben und mein Stamm hat diese schrecklichen Dinge erlitten. Ich werde also diesen Drachen töten, damit Gerechtigkeit und Rache ausgeübt werden können. Und dann entdecken wir dort einen alten britischen Ritter, der zur anderen ethnischen Gemeinschaft gehört. Er repräsentiert die derzeitige Macht, die militärisch gesiegt hatte und so eine Generation lang Frieden schuf, diesen Kreis von Rache und Gewalt unterbrach, wenn auch durch unbarmherzige Aktionen. Diese Seite möchte, dass das Vergessen weiterhin anhält. Sie argumentiert, sobald die Leute anfangen sich zu erinnern, beginnt die Gewalt aufs Neue, dann werden in diesem Land wieder schreckliche Dinge geschehen. Wenn wir das Vergessen weiterhin behalten, wenn auch nur für ein paar Jahre, dann werden sich die Wunden vielleicht für immer schließen."

    Erst als sie alle am Schlupfwinkel der Drachin stehen, stellt sie heraus, dass der Krieger und der Ritter gänzlich andere Absichten hegen. Es kommt zu einem finalen Kampf. Vorher hat die kleine Reisegruppe allerdings ein anderes Abenteuer zu bewältigen. Als sie in einem Kloster übernachten, werden sie verraten und eine Schar Soldaten dringt in die Gebäude ein und sucht nach ihnen, will sie töten. Sie können mit Mühe und Not entkommen. Es kommt zu den dramatischsten Szenen des Romans. Sie lagen Kazuo Ishiguro besonders am Herzen, weil er hier die blutige Vergangenheit erstmals ausführlich erwähnt. Außerdem rechnet er mit dem Christentum ab:
    "Die Passagen mit den Mönchen sind für mich durchaus wichtig. Die religiöse Gemeinschaft hofft irgendwie, weil sie zu der Seite gehört, die diese Grausamkeiten vor einer Generation begangen hat, dass es in Ordnung ist, weiterhin den schrecklichen Genozid und die anderen Dinge, die geschehen sind, zu vergessen. Es ist o. k., dass sie straflos geblieben sind, weil Gott durch Buße um Vergebung bitten konnten. So kann man die moralische Verantwortung wieder auf Null zurückdrehen. Das ist sozusagen die religiöse Methode."

    Kazuo Ishiguros Roman ist natürlich eine Parabel. Bei all der Spannung, die er aufbaut, bei all den aufregenden Abenteuern, die das alte Ehepaar bestehen muss, bleibt doch stets die Frage: Wann ist es gut zu vergessen und zu verdrängen, wann ist es besser, sich zu erinnern und zu vergeben? Das gilt sogar für das letzte Kapitel, in dem Axl und Beatrice an jenes mythologische Ufer kommen, an dem sie ein Fährmann auf die Insel des Todes übersetzen soll, auf wenn dies alles nur angedeutet wird.
    Feier einer großen, intensiven, tief berührenden Liebe
    "Das Paar akzeptiert den Tod, es fürchtet sich nicht vor ihm, aber es fürchtet sich vor der Trennung, davor dass jeder, der in den Tod übergeht, komplett isoliert ist. Die Toten leben auf einer Insel, auf der sie ganz allein sind. Sie wissen, dass da wahrscheinlich auch andere tote Menschen leben, aber sie können sie weder hören noch sehen. Jeder ist allein und das ist etwas, das dem Paar Angst macht und die beiden hoffen irgendwie ganz verzweifelt, dass die Liebe etwas so Mächtiges ist, dass dies von wem auch immer gewissermaßen anerkannt wird, um ihnen einen speziellen Dispens zu geben. Das ist der rote Faden, der sich durch den ganzen Roman zieht. Das ist auch der Grund, warum das Paar sich davor fürchtet, die gemeinsamen Erinnerungen nicht mehr wiederzufinden. Sie haben Angst, nicht beweisen zu können, dass sie sich ihr ganzes Leben lang so geliebt haben. Der Roman kümmert sich insbesondere um das Altwerden und den Tod und welche Rolle dabei die Erinnerung spielt. Das Paar seht vor der Frage, woran sollen wir uns erinnern, sollen wir etwas im Vergessen lassen. Das ist am Ende eine dringliche Frage, denn sie wissen, dass die Zeit ausläuft. Man kann nicht einfach sagen, dass lassen wir noch einen Moment ruhen und gehen das später noch einmal an, denn es gibt kein Später."

    So wird das letzte Kapitel, das anders als der übrigen Roman aus der Sicht des Totenfährmanns erzählt wird, zu einer Feier einer großen, intensiven, tief berührenden Liebe. Ob ihnen ein gemeinsames Leben im Tod gewährt wird, bleibt offen.
    Kazuo Ishiguro hat es geschickt verstanden, mit den Elementen eines Fantasy-Romans zu spielen. Die Sprache ist altertümlich und damit ungewohnt. Ein vielschichtiger, verblüffender Roman, der unter seiner abenteuerlichen Oberfläche grundsätzliche Fragen aufwirft. Eine gelungene Leseüberraschung.
    Kazuo Ishiguro: "Der begrabene Riese". Übersetzung Barbara Schaden, Blessing Verlag 2015, 414 Seiten, 22,99 Euro.