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Kein einfacher Weg zur Gelassenheit

Der Begriff Gelassenheit teilt sich in eine passive und aktive Seite, definiert sich sehr stark über die Abwesenheiten von etwas, etwa von Unruhe, Überforderung, Stress. Entsprechend gibt es auch keine einfachen Rat für den Weg zur Gelassenheit, findet der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle.

Thomas Strässle im Gespräch mit Dina Netz | 09.05.2013
    Dina Netz: Christi Himmelfahrt – Feiertag. Für die meisten eine Gelegenheit, durchzuatmen im Stress der Arbeitswoche, sofern man sich denn entziehen kann. Das Smartphone will unablässig beachtet werden, Mails und Anrufe kommen auch am Feiertag an. Und sobald man das Wüten der ganzen Welt hereinlässt, ist es mit der Ruhe auch vorbei. Da stören Eurokrise, Anschläge in den USA oder Krieg in Syrien den feiertäglichen Frieden. Wir sind irgendwie immer angespannt und rastlos, und deshalb ist ein Wort in aller Munde, Gelassenheit – wer würde von sich nicht sagen, dass er sich mehr Gelassenheit wünschte? Gelassenheit gegenüber der Nachrichtenflut, dem ständigen Kommunikationsbedarf oder auch einfach nur gegenüber dem Chef.

    - Thomas Strässle, Literaturwissenschaftler an der Universität Zürich, hat der Gelassenheit jetzt ein ganzes Buch gewidmet: "Gelassenheit – eine andere Haltung zur Welt" heißt es. Ich habe ihn gefragt: Herr Strässle, jetzt liegt ja der Verdacht nahe, dass Sie den 185. Ratgeber zum Thema Gelassenheit schreiben wollten, der hätte sich sicher auch gut verkauft. Das war aber gar nicht ihr Anliegen, sondern welches?

    Thomas Strässle: Nein, es war nicht mein Anliegen, einen Ratgeber zu schreiben, sondern es war mein Anliegen, diesen Begriff mal so ein bisschen zu schärfen. Nicht, Sie haben selber gesagt, es besteht eine große Sehnsucht nach Gelassenheit. Und es gibt auch unzählige Ratgeber zum Thema Gelassenheit. Und das beweist ja eigentlich, dass es eben ein Zustand ist, der nicht so ganz klar ist, nicht? Es gibt keine Ratgeber, die einem erklären, wie man eine Treppe hochsteigen soll, das ist relativ einfach. Aber es gibt sehr viele Ratgeber, die einem zeigen wollen, wie man zur Gelassenheit findet. Und ich habe eben das Gefühl oder habe den Eindruck, dass der Begriff eigentlich unklar ist. Und gerade deshalb eben mit so großer Sehnsucht belastet ist oder zu sehen ist in der Gegenwart. Und mein Anliegen war es da, man diesen Begriff so ein bisschen zu klären als Literaturwissenschaftler. Und habe deshalb Ausflüge unternommen in die Literaturgeschichte und in die Philosophie und mich mal gefragt: Wo kommt eigentlich dieses Wort her und in welchen Bildern, in welchen Metaphern, in welchen Gleichnissen wird es gedacht? Das ist die Stoßrichtung meines Buches.

    Netz: Herr Strässle, nun lassen Sie uns, bevor wir Ihre Ausflüge nachvollziehen, die Sie gemacht haben, doch vielleicht noch kurz bei der Frage bleiben: Was vermuten Sie, warum dieser Begriff so unklar konturiert ist, obwohl er doch in aller Munde ist?

    Strässle: Ja, es ist ein Begriff, der sich nicht einfach verbildlichen lässt. Es ist ein Begriff, den man nicht einfach so in Bilder übersetzen kann. Und es ist auch ein Begriff, den man nicht einfach so auffüllen kann, weil er sich zunächst einmal eben durch diverse Abwesenheiten auszeichnet, Abwesenheit von Unruhe, Abwesenheit von Erregung, Abwesenheit von Überforderung, Abwesenheit von Stress. Also es ist ein Begriff, der zunächst einmal negativ definiert ist. Und um ihn zu kennen, und auch, um zu wissen, worin er denn eigentlich besteht, müsste man an die Stelle all dieser negativen Merkmale oder all dieser Abwesenheiten etwas Positives setzen können. Und das ist gar nicht so einfach.

    Netz: Interessanterweise finden Sie ja in Ihrem Buch auch heraus, dass es keinen identischen Begriff in anderen Sprachen gibt. Wie erklären Sie sich denn das, sind wir Deutschen Gelassenheitsprofis, oder im Gegenteil, besonders bedürftig?

    Strässle: Ja, ich will mich jetzt nicht auf irgendwelche nationale Psychologien einstellen, aber es ist ein Wort, das eben im Deutschen eine ganz besondere Struktur hat, die sich in anderen Sprachen vielleicht nicht abbilden lässt. Es ist ein Wort, das gleichzeitig eine aktive und eine passive Seite hat. Man kann lassen und man kann gelassen werden. Und das ist eigentlich auch schon, ja, eine entscheidende Denkfigur, die in diesem Wort drinsteckt, nämlich Gelassenheit im Sinne von lassen und gelassen werden: Was lassen wir, was lässt uns im Zustand der Gelassenheit, und diese am Wort orientierten Denkbewegungen lassen sich, glaube ich, nur am deutschen Wort ausführen. Es gibt natürlich in anderen Sprachen Begriffe, die Ähnliches in den Blick nehmen, sérénité zum Beispiel im Französischen, oder coolness, calmness im Englischen, oder tranquilité. Es gibt auch schon Vorläufer, es gibt natürlich im Griechischen und im Lateinischen tranquillitas animi und so weiter, atraxia im Griechischen. Es gibt schon Begriffe, die in diese Richtung deuten, aber ich glaube, keiner von denen umfasst wirklich das Bedeutungsspektrum, das das Wort Gelassenheit im Deutschen besetzt.

    Netz: Jetzt sind Sie gerade schon in die Begriffsgeschichte zurückgegangen, Herr Strässle, dann fangen wir doch mal an mit Ihrem Streifzug durch die Literatur- und Philosophiegeschichte, den Sie in Ihrem Buch machen, wo taucht denn das Wort Gelassenheit zum ersten Mal auf?

    Strässle: Das ist ein Glücksfall, weil man das relativ eindeutig sagen kann, was ja mit vielen Wörtern nicht so einfach ist, bei der Gelassenheit ist es ja nicht einfach. Man kann das auf Meister Eckhart zurückführen um 1300, der hat volkssprachliche Predigten gehalten, die nicht ganz der theologischen Doktrin entsprachen. Und der hat in diesen volkssprachlichen Predigten, hat er das Wort Gelassenheit eingeführt. Und in seinen Schriften ist er immer und immer und immer wieder auf diesen Begriff zurückgekommen und hat ihn eben schon in diese aktive, passive Struktur dann aufgeteilt, die ich vorhin schon so ein bisschen angetönt habe. Das läuft bei ihm immer über das Begriffspaar gelassen sîn und gelassen han, also gelassen sein und gehaben haben. Das ist quasi diese doppelte Struktur der Gelassenheit. .Und es müssen immer weitere Elemente erfüllt sein, um wirklich gelassen genannt zu werden. Das heißt, man muss sich selbst gelassen haben, seien eigenen Willen, seine eigene Liebe, seine Vorstellungen, seine Wünsche, erst recht Rum und Ehre, solche Dinge muss man alles hinter sich gelassen haben, aber man muss auch die Welt gelassen haben. Und man muss in letzter Konsequenz sogar Gott gelassen haben. Das ist so ein Gedanke, der bei Meister Eckhart schon auftaucht, theologisch ein bisschen heikel, aber es ist eine umfassende Form des Lassens, die dann umschlägt in ein gelassen Werden.

    Netz: Die Gelassenheit kann ja aber auch, und darauf kommen Sie dann in ihrem Buch auch bald zu sprechen, negative Seiten haben. Zum Beispiel ist bei Karl Philipp Moritz von der kalten Gelassenheit die Rede. Was ist damit gemeint?

    Strässle: Das ist ganz wichtig, dass Sie diesen Punkt anführen, dass sich auch die Schattenseiten oder die Kritikpunkte, die man gegenüber der Gelassenheit vorbringen kann, erwähne, denn ich bin alles andere als ein Gelassenheitsprophet oder Guru oder so etwas, sondern es ging mir in dieser Studie oder in diesem Essay auch darum, die Schattenseiten so ein bisschen auszuleuchten. Es gibt eigentlich zwei grundsätzliche Gefahren: Die eine ist die Antriebslosigkeit, indem der Gelassene oder die Gelassene in eine Lethargie versinkt und sich dann langsam selber abhanden kommt. Und die andere Gefahr ist die Teilnahmslosigkeit, nämlich dass man in einen Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber der Welt versinkt. Das sind beides quasi Verfallserscheinungen der Gelassenheit, die sicher nicht wünschbar sind. Und das ist dann im 18. Jahrhundert eine Riesendebatte, das kommt bei Karl Philipp Moritz vor, den sicher viele kennen, einer der ersten theologischen Autoren der deutschsprachigen Literatur, das kommt auch bei Goethe vor in "Werther", da wird eine sehr schöne Gelassenheitsdebatte geführt zwischen Werther, dem erhitzten Gemüt, und seinem Gegenspieler Albert, dem trägen, behäbigen, eben in einem negativen Sinn gelassenen Menschen.

    Netz: Interessant fand ich auch, dass man bei Ihnen schon etwas findet, was uns eigentlich heute beschäftigt. Ich habe am Anfang schon vom Smartphone gesprochen – Martin Heidegger zitieren Sie auch, der sich in den 50er-Jahren schon zu technischen Neuerungen und der Überforderung, die der Mensch dem gegenüber empfindet, geäußert hat, das ist also offenbar gar kein so neues Phänomen. Was empfahl denn Heidegger da?

    Strässle: Das muss man ein bisschen vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund sehen. In den 50er-Jahren kam schon diese Skepsis gegenüber der Technik auf. Wenn Sie an Günther Anders denken, "Die Antiquiertheit des Menschen", wenn Sie an Jünger denken und so weiter, also da gab es schon diese eminente Skepsis gegenüber der Technik und gegenüber der Überforderung, die die Technik für den Menschen darstellt. Und Heidegger hat dann empfohlen, der hat eine Rede gehalten zum Thema Gelassenheit - und die mündet dann letztlich in dem Satz: Die Gelassenheit ist das gleichzeitige Ja und Nein zu den Dingen der technischen Welt, also eine Haltung, die die Dinge der Technik oder der technischen Welt verwendet, wenn sie sie braucht, aber gleichzeitig von ihr lassen kann, wenn sie sie nicht benötigt. Das ist eine Haltung, die noch in den 50er-Jahren propagiert wurde. Heute kann man sich sagen, ob das noch möglich ist, oder ob wir als Individuen überhaupt noch diese Autonomie zu besitzen, zu den technischen Dingen ja oder nein zu sagen. Oder ob wir nicht vielmehr schon so in die Technik eingebunden sind, dass wir diese Freiheit eigentlich gar nicht mehr besitzen.

    Netz: Wie könnte denn dann Gelassenheit heute gegenüber diesen technischen Dingen aussehen?

    Strässle: Ja, ich habe am Ende dann den Essay von Sloterdijk angeführt, der erstaunlicherweise von einer Gelassenheitskultur spricht, in der wir schon leben, nämlich, dass wir bestimmte Passivitätskompetenzen entwickeln. Ich glaube, Gelassenheit heute müsste am ehesten so aussehen, dass man ständig die Balance sucht zwischen Involviertheit und Distanznahme. Dass man also ständig versucht, quasi diese Spanne zwischen Aktivität und Passivität auszuhalten auch gegenüber den Dingen der technischen Welt.

    Netz: Interessant finde ich ja, Herr Strässle, dass alles, worüber wir jetzt gesprochen haben, ja Dinge sind, die uns heute auch wieder oder eigentlich eher immer noch bekannt sind. Was würden Sie denn als Bilanz sagen? Gelassenheit war immer schon ein menschliches großes Bedürfnis, und das ist heute gar nicht so besonders groß. Oder leben wir doch in einer besonderen Zeit in Bezug auf den Wunsch nach Gelassenheit?

    Strässle: Ich glaube, dass das Wort selbst in der Gegenwart schon eine sehr hohe Konjunktur hat, aber dass es gleichzeitig natürlich ein Wort ist, das schon immer eine große Faszinationskraft ausgeübt hat. Wenn man schon nur den Ursprungskontext anschaut, bei den Mystikern, das geht dann durch die Jahrhunderte hindurch, die reden eigentlich ununterbrochen von Gelassenheit, Jahrhunderte übergreifend. Es gibt nur dann eben im 18. Jahrhundert so eine kleine, eine polemische Debatte gegen die Gelassenheit, aber ansonsten war und ist die Gelassenheit immer ein Wunschzustand des Menschen.

    Netz: Nun wollten Sie ja, Herr Strässle, explizit keinen Ratgeber schreiben, trotzdem bleibt so eine Beschäftigung mit der Gelassenheit ja wahrscheinlich nicht folgenlos. Gibt es denn irgendwelche allgemeinen Rezepte für Gelassenheit, die Sie aus den Erkenntnissen der Philosophen und Literaten ableiten können?

    Strässle: Ja, ich glaube nicht, dass es Rezepte gibt im Sinne von Kochbüchern, dass man dann sagen kann, ja, machen Sie das und das, und dann werden Sie gelassen. Aber es ergeben sich aus der Beschäftigung mit der philosophischen und literarischen Tradition schon auch Hinweise, was Gelassenheit denn eigentlich bedeuten könnte. Etwas am praktikabelsten, worauf ich gestoßen bin, stammt eigentlich von Friedrich Nietzsche, der nämlich sagt, Gelassenheit setzt voraus, dass man sich selber Werte setzen kann. Werte, die man nicht von anderen übernimmt, sondern die man selber gesetzt hat. Und das ist, glaube ich, wenn man sich das mal überlegt, eine der wesentlichen Voraussetzungen der Gelassenheit, sich selber Werte setzen zu können.

    Netz: Was genau ist denn damit gemeint?

    Strässle: Dass man sich selber bewusst ist, was einem wichtig ist und was nicht, wozu man bereit ist und wozu nicht, welche Prioritäten man setzt, worauf man seine Energien verwendet, welche Interessen man ausbilden will und welche nicht, und so weiter. Also dass man sich selber überlegt, was bedeutet mir eigentlich was, worin investiere ich was, worauf verwende ich welche Energien und Interessen.

    Netz: Doch noch ein Tipp also vom Züricher Literaturwissenschaftler Thomas Strässle. Sein Buch heißt "Gelassenheit – über eine andere Haltung zur Welt" und ist in der Edition Akzente beim Hanser Verlag erschienen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.