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Kein Entkommen

Michal Zamir, Tochter eines ehemaligen Armeegenerals und Mossad-Agenten, hat wie fast alle israelischen Frauen im Alter von 18 bis 20 Jahren ihren Armeedienst abgeleistet. 20 Jahre später hat sie die Erfahrungen jener Jahre in einem Roman festgehalten, und das Resümee ist niederschmetternd: "Das Mädchenschiff" ist eine drastische Anklage

Von Sigrid Brinkmann | 22.11.2007
    "Das Boot ist eher ein Narrenschiff. Man kann den Titel auch als eine Anspielung auf die Sklaverei verstehen. Es gibt kein Entkommen aus dem dunklen Bauch des Schiffes. Und diese permanenten Affären zwischen den vorgesetzten Offizieren und den Soldatinnen, die sorgen dafür, dass der Boden unter den Füßen zu schwanken beginnt."

    24 Monate lang leben gerade volljährig gewordene Mädchen wie auf einer Galeere. Sie kochen Kaffee, langweilen sich in Schreibstuben oder im Materiallager eines militärischen Stützpunktes. Sie warten auf den Nachmittag, an dem sie duschen und die grobe Armeekleidung gegen schlabbrige Jogginghosen und nabelfreie Tops austauschen. Abends kehren sie heimlich in Büroräume zurück, um Sex mit verheirateten Offizieren und Brigadegenerälen zu haben. Und gleichmütig nehmen sie es hin, dabei ein ums andere Mal geschwängert zu werden. Drei Abtreibungen zahlt die Armee. Die Formalitäten sind umso schneller erledigt, wenn die Frauen sich bereit finden, in die Rubrik "Vater des Kindes" "Araber" zu schreiben.

    Die Heldin der 43-jährigen Autorin ist eine Rekrutin, die zum fünften Mal schwanger ist. Zamirs Ton ist abgeklärt, manchmal derb und obszön. Das ist der Panzer, hinter dem die Verzweiflung über das ganze zwischengeschlechtliche Elend lauert. Zamirs Heldin ist keine Identifikationsfigur. Dennoch wird der Leser schnell vertraut mit ihr und ihrem richtungslosen Leben. Ist die geschlossene Welt hinter den Kasernenmauern nichts weiter als ein großes Bordell?

    "Ich habe einen spezifischen Blick auf die Armee geworfen: Sie befindet sich nicht im Krieg. Sie ist eine aufgeblasene, schwerfällige Organisation, in der Leute ihre Zeit vertrödeln. Man sollte den Roman aber nicht als realistische Beschreibung der Zustände lesen. Dass die jungen Frauen animiert werden, als Kindsväter Araber anzugeben, ist ein ironischer Seitenhieb auf den israelischen Rassismus. Dass die Armee ein einziges Bordell ist, würde ich nicht sagen - dann wäre die Welt auch eins. Was mich interessiert, ist die heterosexuelle Tragödie, die Tatsache, dass Frauen so ganz anders ins Leben gestellt sind als Männer. Ich klage niemanden an. In dem Stützpunkt, in dem mein Roman spielt, geht es um den Kampf zwischen Natur und Zivilisation. Es ist die Natur, die siegt."

    Ein einziges Mädchen lässt es sich nicht abkaufen, Verantwortung für eine Laune zu tragen. Sie ist nicht einmal gewillt, ihren Wehrdienst wegen der Schwangerschaft abzubrechen.

    "Selbst eine Unterredung mit der Frauenkorpsleiterin konnte sie nicht umstimmen, da halfen auch keine Empfehlung und keine Rente und kein Mietzuschuss für 20 Jahre. Ihrerseits bestand auch kein Grund zur vorzeitigen Entlassung. Schließlich verlangte sie von der Armee keine besonderen Vergünstigungen, nur ein wenig Entgegenkommen hinsichtlich ihrer Übernahme als Zeitsoldatin und ein paar Extras für das Kind, zumindest Spielzeug und Kleidung. Aus ihrer Sicht ist die Armee der Vater."

    Keine Rekrutin kommt in Michal Zamirs Roman auf die Idee, den Namen eines Kindsvaters preiszugeben. Die Frauen also haben ihren Anteil am Zementieren der Lüge. Yitzhak Laor hat in seinen Romanen "Steine, Gitter, Stimmen" und "Ecce homo" das grotesk überhebliche Gebaren und die Mentalität militärischer Führungskräfte grandios bloß gestellt. Michal Zamir ist die erste israelische Autorin, die den Finger auf diese Wunde legt. Warum war sie erst 20 Jahre nach dem Ende ihres Militärdienstes imstande, das Ausmaß männlicher Selbstüberhebung und die seelische Verkümmerung der Frauen zu beschreiben?

    "Es hat 20 Jahre gebraucht, weil ich mich lange dagegen gewehrt habe. Am Anfang versuchst Du Dich zu verstecken, Du willst sein wie alle - und bitte lesen Sie den Roman nicht als Autobiografie! Ich war nie ein Opfer. Ich war sehr neugierig, ich mag Leute. Ich habe immer an die Möglichkeit geglaubt, dass man Schönheit inmitten erniedrigender Zustände entdecken kann. In diesem Punkt identifiziere ich mich mit meiner Heldin, die nach etwas Schönem verlangt. Sie denkt über Großzügigkeit nach, während ein Brigadegeneral sie zu einer privaten Abtreibungsklinik fährt. Es brauchte Zeit, um die Bedeutung der Ereignisse zu verstehen. Inmitten von Hässlichkeit, von Zwang und Missbrauch, unter dem Druck existenzieller Ausbeutung noch Spuren von Schönheit zu entdecken, dafür habe ich 20 Jahre gebraucht."

    Natürlich erscheint die Armee als Institution in diesem Roman moralisch restlos diskreditiert. Dennoch behagt es der Autorin nicht, dass man sie darauf festlegen könnte, sie habe eine Rechnung zu begleichen oder sie stelle die Armee grundsätzlich in Frage. Eher versteht sie ihren Roman als eine Allegorie auf gesellschaftliche Verhältnisse und lenkt das Gespräch auf die unmerklichen Anstrengungen der Frauen.

    "Ich sehe ihre unendlich große Bemühung, zu verstehen, was Mutterschaft und was weibliches Leben unter diesen extremen Bedingungen in der Kaserne bedeutet. Ich verstehe die Frauen, ich weiß, wonach sie sich sehnen, welch gemischte Gefühle sie haben, und ich werfe ihnen absolut gar nichts vor. Ich will auch selber von niemandem genötigt werden, puritanisch aufzutreten, naiv und verständnislos. Ich will das Leben nicht hinter einer Fassade der Unschuld durchschreiten."

    Es ist ein Soldat, der gegen Ende des Romans kryptische Visionen eines "neuen Lebens" nach dem Militärdienst entwickelt.

    "Alle sind hier Sklaven, gleich welche Dienstgrade sie auf den Schultern tragen. All diese Rangzeichen sind nur ein Spiel der Welt von gestern. Wer klug ist, stellt sich auf die neue Welt ein, in der nur die Starken überleben. Sonst, und er fixierte mich durch seine Brillengläser, dass mir das Herz flattert, sonst verhungert man. Die neue Welt ist in Wirklichkeit ein Dschungel. Du bist hier geboren, Du verstehst das nicht, aber wenn man aus Russland kommt, weiß man Bescheid."

    Und damit eröffnet Michal Zamir nebenbei eine neue Partie. Russische Einwanderer also sind besser gerüstet für das Überleben im Nahen Osten. In ihrem nächsten Roman, der 2008 erscheint, wird sie die Verwandlung der einst kollektivistisch ausgerichteten israelischen Gesellschaft in einen pluralistischen, kapitalistischen und korrupten Dschungel nachzeichnen.

    "Beweglich ist diese Gesellschaft überhaupt nicht. Wir durchleben gerade eine Phase, in der wir lernen den Ballast nationalistischer Klischees abzuwerfen und zu verstehen, wie eine normale Wirklichkeit in einem normalen Land aussehen könnte. Ich hoffe, dass die Leute für eine bessere Gesellschaft kämpfen werden, denn sie wird immer gewaltsamer und erschreckender."

    Michal Zamir: Das Mädchenschiff. Roman
    Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
    Marebuchverlag, Hamburg 2007
    220 Seiten, gebunden. 22 Euro