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Kein Interesse am Interesse

Welche Rolle spielen eigentlich die Interessen der Kinder, wenn sie als sogenannte "ABC-Schützen" in die Schule kommen? Eine Studie an der Uni Hannover beurteilt den Wechsel kritisch: Im Kindergarten lernen die Kleinen noch interessengesteuert. In der Schule hingegen sitzen sie in Reih und Glied und müssen Curricula abarbeiten; für die Pädagogen ein Rückschritt.

Von Michael Engel | 24.07.2012
    "Guten Morgen, liebe vierte Klasse."

    "Grundschule Harenberg" bei Hannover. Eine Dorfschule wie aus dem Bilderbuch. 80 Kinder, vier Klassen, einzügig. Die Kooperation mit den Kindergärten ist eng, sagt Tim Nielsen. Der Grundschullehrer geht im sogenannten "Brückenjahr" in die Kindergärten, um die Erstklässler in spe schon vor der Einschulung kennen zu lernen.

    "Wir versuchen im ersten Schuljahr natürlich Interessen von Kindern aufzugreifen, also nicht unbedingt dieses Lernen im Gleichschritt. Das heißt, ich habe beispielhaft jetzt ein bestimmtes Gebiet wie jetzt Pferde oder Dinosaurier oder Baumaschinen. Und anhand dieses Themenkomplexes, für was sich das Kind jetzt interessiert, kann man jetzt bestimmte Methoden erarbeiten mit dem Kind zusammen. Beispielsweise das Lesen oder Informationen zusammenführen, da denke ich schon, dass wir da bemüht sind, auch auf die Interessen der Kinder einzugehen."

    Tim Nielsen weiß heute genau, was wichtig ist, um die Erstklässler optimal zu betreuen. Seine Schule hat an einer Studie der Universität Hannover mitgewirkt. Das Institut für Sonderpädagogik wollte wissen, welche Rolle die Interessen der Kinder spielen, wenn sie von dem sogenannten "Elementarbereich" in den "Primärbereich" der Grundschule wechseln. Dabei wurden 15 Kinder aus sogenannten "soziokulturell benachteiligten Familien" drei Jahre lang begleitet – mit Interviews, die auch auf Eltern, Kindergärtnerinnen und Lehrer ausdehnt wurden. Mehrere Kindergärten und Schulen waren beteiligt. Für Michael Lichtblau vom Institut für Sonderpädagogik war es Bestandteil seiner Doktorarbeit

    "Von unserer Seite ist es dann das Interesse herauszufinden, wie diese verschiedenen Interessen gesehen werden, also wie beschreibt das Kind seine Interessen, wie werden aber auch von den Pädagogen diese Interessen gesehen. Und, natürlich ganz wichtig, wie sehen die Eltern die Interessen der Kinder. Und wie wird in den unterschiedlichen Systemen darauf eingegangen. Und wie werden die dort aktualisiert und entwickelt. Und es gibt eine Reihe von Studien, die belegen, dass die Berücksichtigung der Interessen in Unterrichtssettings sehr positive Auswirkungen auf die Lernmotivation und auf die Ergebnisse haben kann."

    "Bei mir haben schon die schwierigsten Kinder lesen gelernt, nur weil sie sich für die Feuerwehr entbrannt haben", sagt der langjährige Sonderschulpädagoge Rolf Werning, der heute als Professor für Sonderpädagogik an der Uni Hannover lehrt und die Studie leitete. Interessen basierter Unterricht sei entscheidend für den Lernerfolg – aller Kinder. Doch leider, so der Experte für Lernbeeinträchtigungen, habe die Studie viele Defizite aufdecken können. So spielen Berichte über die "Interessen" der Kinder beim Wechsel in die Schule praktisch keine Rolle.

    "Die aktive, konkrete Bezugnahme der Lehrkräfte auf die Interessen haben wir eigentlich fast überhaupt nicht wahrgenommen. Interessen bieten ja auch so etwas wie ein Kompetenzerleben, das Kinder mitbringen in die Schule. Und wenn darauf gar nicht eingegangen wird, ist es eigentlich eine Missachtung der Ressourcen, und man hätte einen anderen Schulstart bei diesen Kindern, wenn sie mit ihren Interessen sozusagen 'punkten' könnten und daran auch die Lerninhalte der Grundschule anknüpfen würden."

    Die Experten schlagen unter anderem "Protokolle" vor, in denen die Interessen der Kinder dokumentiert sind, und an denen die Kinder auch selber mitwirken. Mit diesem Wissen könnten die Lehrer gezielter auf die Kinder eingehen. Wer die Stärken der Kinder kennt, so das Urteil der wissenschaftlich arbeitenden Pädagogen, könne sie besser fördern.

    Tim Nielsen, der Grundschullehrer in Harenberg, investiert im sogenannten "Brückenjahr" mehr als 20 Stunden, um die Kinder im Kindergarten schon mal vorab kennenzulernen. Seiner Meinung nach ist das immer noch viel zu wenig.

    "Die Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule muss intensiviert werden durch mehr Zeitkontingente. Also wir brauchen eigentlich mehr Zeit, um uns abzugleichen. Und das hört ja auch in der Grundschule nicht auf. Sondern es geht ja dann auch in die weiterführenden Schulen. Auch da ist die Passung noch nicht so ideal."