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Kein Reich des Bösen

Meinungsfreudig, unbequem, provokant - so beschreibt die Edition Körberstiftung ihre Reihe unter dem Titel "Standpunkte". Auf Georg Blumes Essay zum Thema China trifft diese Beschreibung zu: Trotz Diktatur und eklatanter Menschenrechtsverletzungen vertritt der Journalist mit Zivilcourage und Sachkenntnis die Meinung, China sei "Kein Reich des Bösen". Eine Rezension von Karl Feldmeyer.

09.06.2008
    Durch die blutigen Unruhen in Tibet hat der Essay eine Bedeutung erlangt, die ihm eine sonst eher unwahrscheinliche Beachtung sichern dürfte. Blumes Motiv ist es aber nicht, das Regime in Peking an den Pranger zu stellen, sondern Veränderungen und Entwicklungen sichtbar zu machen. Vor allem aber will er das Meinungsbild korrigieren, das in Deutschland von China vorherrscht und das dem von Frau Merkel vollzogenen Kurswechsel in der deutschen Chinapolitik breite Zustimmung sichert. Es läuft auf die Kurzformel hinaus, Tibet ist gut, China ist böse. Blume gibt aber nicht nur der Politik Schuld:

    "Für die Verzerrung des deutschen China-Bildes trägt aber auch mein eigenes Fach eine entscheidende Mitverantwortung. Der deutsche politische Journalismus ergötzt sich seit Jahren daran, Chinas regierende Kommunisten als Übeltäter der schlimmsten Sorte vorzuführen. Nichts ist einfacher als das. Chinesischer Kommunist gleich Menschenverächter, diese Formel ist ein publizistischer Selbstläufer, das weiß ich aus zehn Jahren journalistischer Erfahrung in China. Nur diese Formel ist falsch. Aber wenn auch die Bundeskanzlerin noch mitspielt, kommt eben die Wirklichkeit in China bei uns nicht mehr vor."

    Blume bemüht sich mit aktuellen Fakten und historischen Kenntnissen dieses falsche und für Deutschlands Interessen gefährliche China-Bild zu korrigieren. Er verweist dabei auf die Kontinuität guter deutsch-chinesischer Beziehungen unter wechselnden Kanzlern von Schmidt bis Schröder, die durch Frau Merkels Verhalten ohne jede Not schweren Schaden erlitten haben – mutmaßlich aus wahltaktischen Überlegungen.

    "Höhepunkt von Merkels China-Strategie war der Empfang des Dalai Lama in Berlin. Der Dalai Lama wird von seinen tibetischen Anhängern als Gott verehrt, wir Deutsche aber betreiben um ihn den Kult eines Popstars. Wir sehen in ihm nicht den politischen Führer der tibetischen Exilbewegung mit eigenen Machtansprüchen gegenüber China. Was er macht, ist gut. Was die Kommunisten in Peking machen, ist böse. Genauer wollen wir es nicht wissen. Genau dieses Schwarz-Weiß-Bild aber bediente die Bundeskanzlerin, als sie das religiöse und politische Oberhaupt der Tibeter vergangenes Jahr im Bundeskanzleramt empfing. 80 Prozent der Deutschen fanden das laut Umfragen gut. Ich nicht. Merkels Geste fehlte jedes Gefühl für denkbare Lösungen im Tibet-Konflikt. (...)

    Nach dem Empfang des Dalai Lama im Kanzleramt zeigte Peking Berlin lange die kalte Schulter. (...) Zwar haben die Außenminister Deutschlands und Chinas nach diesem Streit erneut Professionalität und eine gute Zusammenarbeit gelobt. Doch das politische Vertrauen der Regierungsspitzen ist und bleibt gebrochen. Merkel hat Deutschlands politischen Kredit in Peking erst einmal verspielt."


    Um das Zerrbild von China zu berichtigen, breitet Blume einen Teppich voller Details aus und beschreibt den atemberaubenden Veränderungsprozess des in wenigen Jahren zur drittgrößten Wirtschaftsmacht herangewachsenen Staates. Der Leser erkennt, dass die bereits weit fortgeschrittene Entwicklung Chinas auch im deutschen Interesse liegt - politisch ebenso wie wirtschaftlich. Zur chinesischen Wirklichkeit gehört, dass das Land von einer einzigen Partei gelenkt wird, die sich kommunistisch nennt, tatsächlich aber in den eigenen Reihen einen höchst unkommunistischen Pluralismus an Meinungen zulässt, der in demokratischen Staaten von mehreren Parteien repräsentiert wird.

    Die Partei so weit zu disziplinieren, dass der Meinungsbildungsprozess innerhalb der Führung nach festgelegten Regeln abläuft, würdigt Blume zurecht als einen Fortschritt bei der Verrechtlichung der Machtausübung. Ohne sie wäre die für den Aufstieg Chinas notwendige Stabilität nicht möglich.

    Blume verweist auf die Veränderungen im Innern, die dieses Ergebnis ermöglichten: Da ist vor allem die seit 1992 gestattete Gründung privater Unternehmen und die dadurch bedingte Herausbildung einer Unternehmerschicht. Der Anteil, den junge Privatunternehmen am Bruttosozialprodukt erwirtschaften, ist von 7,3 im Jahr 1992 auf 65 Prozent im Jahr 2006 angewachsen. Die starke Konjunktur hat dazu geführt, dass nicht nur in Chinas Küstenprovinzen bereits die Arbeitskräfte knapp werden. Sie hat auch für die Weltwirtschaft inzwischen eine hohe Bedeutung und federt die Folgen ab, die der Einbruch des amerikanischen Immobilienmarkts und die Bankenkrise weltweit ausgelöst haben.

    Das ist ein Wandel, der aber auch für die sozialen Beziehungen zwischen Partei, Unternehmertum und Arbeiterschaft Folgen hat. Zu Jahresbeginn ist ein Arbeitsvertragsgesetz in Kraft getreten, das 800 Millionen chinesischen Arbeitern erstmals seit Maos Zeiten das Recht auf einen Arbeitsvertrag und auf die darin enthaltenen sozialen Rechte gibt. Verbessert haben sich auch die Einkommensverhältnisse: Seit 1993 hat sich das Pro-Kopf-Einkommen in China verdreifacht. "Die Zeit der unbeschränkten Versorgung mit Arbeitskräften ist vorbei", zitiert Blume den Leiter des Instituts für Arbeitsökonomie in Peking.

    All diese Veränderungen bei der Beurteilung Chinas außer acht zu lassen oder nur unter dem Aspekt einer "chinesischen Gefahr" zu sehen, bewertet Blume als töricht und disqualifizierend, weil dies die deutsche Interessenlage verkenne - ihr sogar zuwiderlaufe.

    "Merkels Vorgänger im Bundeskanzleramt sahen in China ein Land, das mühsam versuchte, eine Marktwirtschaft aufzubauen und sich dabei westlichen Regeln und Standards anzunähern. In diesem Sinne bezeichnete Altbundeskanzler Helmut Schmidt die KP-Regierung immer wieder als tüchtigste Regierung der Welt. Merkel traut den Chinesen nicht. Ihr käme ein solcher Gedanke nicht in den Sinn. (...) Klar ist jedenfalls, dass den Deutschen Angst gemacht werden soll vor China. Chinas Aufstieg sei unsere Abstieg, schreibt Spiegel-Autor Gabor Steingart.

    Ähnlich einfältig und aggressiv klingt es im neuen asienpolitischen Strategiepapier der CDU/CSU – Bundestagsfraktion: 'China stellt dem Westen in zunehmendem Maße die Systemfrage und sieht sich als alternatives politisches Ordnungsmodell, das die wirtschaftlichen und politischen Interessen Deutschlands herausfordert'. Gegen diese Angstmache will ich hier argumentieren. Sie verkennt die Win-win-Dynamik der Globalisierung. Vor allem aber ignoriert sie den gesellschaftlichen Fortschritt Chinas und die Verwestlichung der chinesischen Kultur."


    So ist Blumes Essay vor allem zur Kritik an denen geworden, die China allein mit westlichen Maßstäben messen und kritisieren - sei es, weil sie seine Entwicklung nicht begleiten oder aber weil sie als Politiker wissen, dass sich die Einbeziehung von Dissidenten in einen Peking-Besuch ebenso wie der Empfang des Dalai Lama im Bundeskanzleramt bei der nächsten Bundestagswahl in Stimmgewinnen auszahlen kann.

    Blume ist ein Journalist, wie ihn sich Leser und Hörer nur wünschen können: Er hat Zivilcourage und Sachkenntnis und er nutzt beides dazu, Erwartungen jedweder politischen Rücksichtnahme zu enttäuschen. Was für ihn zählt ist die Durchdringung und das Verstehen einer komplexen Wirklichkeit.
    Chapeau Herr Kollege!

    Georg Blume: China ist kein Reich des Bösen. Trotz Tibet muss Berlin auf Peking setzen
    Edition Körber Stiftung, 100 Seiten, 10 Euro