Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Kein Schutz vor Hunger

Der Stoffwechsel untergewichtiger Babys hält später jede Kalorie fest, so lautet die gängige Meinung. Eine Studie in der Zeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" zieht dieses Modell für die Prägung des Stoffwechsels nun aber in Zweifel.

Von Volkart Wildermuth | 07.08.2013
    Im Winter 1944/45 verhungerten etwa 20.000 Niederländer. Die wenigen Neugeborenen jener Zeit kamen mit deutlichem Untergewicht zur Welt. Nach dem Krieg konnten sich diese Kinder satt essen, doch als Erwachsene wurden sie oft besonders dick, entwickelten überdurchschnittlich häufig Diabetes und Herz-Kreislaufleiden. Dieser Befund lässt sich erklären, wenn man annimmt, dass rund um die Geburt dauerhafte Weichenstellungen stattfinden.

    "”Die Hypothese lautet: Wenn wir rund um die Geburt Mangel leiden, stellt sich der Stoffwechsel dauerhaft auf diese Situation ein. Das ist eine Anpassung der Evolution, die aber schrecklich fehlschlägt, wenn sich die Situation ändert.""

    Gibt es später Fast Food ohne Grenzen, sind Krankheiten vorprogrammiert, erläutert die Evolutionsbiologin Dr. Virpi Lummaa von der Universität Sheffield. Die Theorie der frühkindlichen Weichenstellung erklärt nicht nur die Spätfolgen des niederländischen Hungerwinters, sondern auch die Welle von Zivilisationskrankheiten, die sich in vielen Schwellenländern, wie etwa in Indien ausbreitet, sobald sie den schlimmsten Mangel überwunden haben. Wenn die Hypothese von der evolutionär vorgegebenen Weichenstellung stimmt, dann sollten unterernährte Babys später besonders gut mit Nahrungsmangel zurechtkommen können. Ob das wirklich so ist, untersuchte Virpi Lummaa jetzt an einem historischen Beispiel.

    "Wir mussten bis ins Finnland des 19. Jahrhunderts zurückgehen, um passende Daten zu finden. In Finnland gibt es außerordentlich detaillierte Kirchenbücher. Mit deren Hilfe können wir das Leben der Menschen von der Geburt bis zum Tod verfolgen."

    Aus den Bezirken Ikaalinen und Tyrvää in Südwest-Finnland existieren zusätzlich noch ausführliche Register zur Roggen- und Gerstenernte, damals die wichtigsten Nahrungsmittel. 1866 bis 68 kam es in Finnland zu einer schweren Hungersnot, die Sterblichkeit vervierfachte sich in diesen Jahren. Über den Abgleich der Kirchen- und der Ernteaufzeichnungen konnte Virpi Lummaa nachverfolgen, welchen Einfluss der frühkindliche Ernährungszustand auf die Überlebenschancen während der Hungersnot hatte.

    "”Das Ergebnis hat uns überrascht. Es widersprach der Hypothese der angepassten Weichenstellung. Leute, die in Jahren mit schlechten Ernten geboren wurden, starben dreißig, vierzig Jahre später während der Hungersnot auffällig häufig.""

    Zusätzlich lag in dieser Gruppe auch die Geburtenrate während der Hungerjahre besonders niedrig. Die Erfahrung des Mangels rund um die eigene Geburt bereitet also keineswegs auf spätere Probleme vor, ganz im Gegenteil. Der besondere Stoffwechsel untergewichtiger Babys ist keine von der Evolution geplante Vorbereitung auf schlechte Zeiten, sondern wahrscheinlich einfach eine direkte Folge des Mangels.

    "”Wenn es nicht genug Ressourcen zum Aufbau eines kräftigen Körpers gibt, dann wird dieser Körper nicht so gut funktionieren, ganz egal, wie die Umwelt im späteren Leben aussieht. Wir sollten diese Theorie der Zivilisationskrankheiten überdenken.""

    Entscheidend ist vor allem, dass werdende Mütter und ihre Babys ausreichend versorgt sind, nur dann sind die Kinder für alle Situationen später im Leben gewappnet. Die Idee der evolutionär vorgegebenen Weichenstellung klingt nach den Ergebnissen von Vipri Lummaa jedenfalls längst nicht mehr so überzeugend. Für die Schwellenländer bedeutet das, dass die Welle der Zivilisationskrankheiten nicht mit dem Übergang vom Hunger zu guter Nahrungsversorgung beendet sein wird. Denn eines ist klar: Auch wenn es vielleicht keine besonderen Weichenstellungen gibt, die Evolution hat den menschlichen Stoffwechsel nicht für Schreibtischarbeit und Fast Food ausgelegt.