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"Kein Wirrwarr, nirgends!"

Ihr Leben böte Stoff für mehrere Romane. Die Rede ist von Vita Sackville-West, der Liebhaberin von Virginia Woolf, die ihr mit "Orlando" einen Roman widmen sollte, der gerne als "der längste Liebesbrief in der Literaturgeschichte" bezeichnet wird.

Von Barbara von Becker | 03.06.2012
    Vita Sackville-West verfasste schon früh Romane. Sie war aber auch eine große Reiseschriftstellerin. Berühmtheit erlangte sie ebenso als Gartenarchitektin des Schlosses von Sissinghurst in der Grafschaft Kent.

    Im folgenden Essay "Kein Wirrwarr, nirgends" erinnert die Literatur-kritikerin Barbara von Becker an Vita Sackville West, über deren Briefwechsel mit Ihrem Mann Harold Nicolson die Autorin auch jüngst bei Hoffmann und Campe ein Buch herausgegeben hat.

    Kein Wirrwarr, nirgends. - Über Vita Sackville-West. Ein Essay von Barbara von Becker.

    "Wäre ich sie, ich würde lediglich schreiten, zwölf Elchhunde im Gefolge, durch meine mir angestammten Wälder".

    So schreibt Virginia Woolf, die Freundin und zwischenzeitliche Geliebte mit ironischer Bewunderung über ihre Freundin.

    Vita Sackville-West: Autorin von sechzehn Romanen, Reiseschriftstellerin, Biografin, Dichterin, Schöpferin des Schlossgartens von Sissinghurst, Mutter zweier Söhne, leidenschaftliche Liebhaberin, für ihre Affären mit Frauen berühmt, hingebungsvolle Gattin in einer Ehe, deren symbiotisch emotionale Verbundenheit seinesgleichen sucht, verewigt in der Titelfigur von Virginia Woolfs weltberühmtem Roman Orlando, den Vitas Sohn, der Verleger und Herausgeber Nigel Nicolson als den "längsten Liebesbrief der Literaturgeschichte" bezeichnet hat.

    Victoria Mary Sackville-West, einziges Kind von Baron Lionel Sackville und seiner Frau Victoria, wurde am 9. März 1892 auf dem Familiensitz Knole House in der südenglischen Grafschaft Kent geboren. Vita wird ein Leben lang dieses Schloss abgöttisch lieben und mit Schicksal und Erbrecht hadern, das ihr als Frau verwehrt, Herrin über die 365 Zimmer und sieben Höfe des Hauses zu werden, das seit 1566 im Besitz der Familie Sackville ist. Dort, zwischen flämischen Tapisserien, Holbein-Gemälden, samtbezogenen Sesseln, holzgetäfelten Kabinetten und langen dunklen Galerien, wächst Vita zu einem frühreifen, eigenbrötlerischen Mädchen heran, das schon mit zwölf Jahren zu schreiben beginnt. Mit vierzehn hat sie schon etliche Balladen, drei Stücke und einen Roman verfasst, und dies in französischer Sprache.

    Fotografien der achtzehn Jahre alten Vita zeigen eine aparte Schönheit: ein Meter zweiundachtzig groß, Augen wie dunkler Samt, geheimnisvoll umschattet, sprichwörtlicher Pfirsich-Teint, sehr lange, schlanke Beine. Auf einer Dinnerparty im Juni 1910 begegnet sie zum ersten Mal dem sechs Jahre älteren Diplomaten Harold Nicolson.

    Vita, beherrscht von ihrer schönen, kapriziös verschwenderischen und
    egozentrischen Mutter, führt das Leben eines reichen Upperclassgirls ihrer Zeit. Man verbringt den Sommer auf Schlössern in Südfrankreich oder in einer Villa in Florenz, tanzt auf Bällen in Paris und besucht Jagdgesellschaften und Gartenpartys. Schon jetzt taucht ein Grundmuster ihres Lebens auf. Denn Vita ist nicht nur von Männern umworben, vielmehr sind es junge Frauen, die für Verwirrung in ihren Gefühlen sorgen. Was sich zunächst wie übliche, schwärmerische Mädchenfreundschaften anlässt, offenbart zunehmend eine Intensität, über deren Ursache sie sich lange Zeit nicht im Klaren ist.

    Zwei Jahre vor ihrem Tod schreibt sie 1960 ihrem Mann Harold, der ebenfalls gleichgeschlechtliche Affären pflegte, er hätte sie nach ihrer Hochzeit aufklären sollen, dass es Homosexualität bei Männern wie Frauen gebe und ihr sagen, wie es um ihn stehe.

    "Du hättest mich warnen sollen, dass das Gleiche wahrscheinlich auch mir passieren wird. Es hätte uns viel Kummer und Missverständnisse erspart. Aber ich wusste einfach nicht Bescheid."


    Im Januar 1912 jedoch scheint Harold Nicolson ausschließlich in Vita verliebt zu sein. Er macht ihr einen Heiratsantrag, und am 1. Oktober 1913 findet die Hochzeit in der Kapelle von Schloss Knole statt.

    Es ist der Beginn einer höchst außergewöhnlichen Ehe, in deren Verlauf das Paar sich Tausende von Briefen schreiben wird. Es ist ein nicht abreißender Gedanken- und Gefühlsstrom, der sich in dieser Korrespondenz spiegelt, die sich mit nie nachlassender Intensität über fünf Jahrzehnte erstreckt. Es sind Zeugnisse größter Offenheit und Verbundenheit, die nur für den jeweils anderen, für den Augenblick bestimmt sind, und nicht im Hinblick auf eine eventuelle spätere Veröffentlichung verfasst wurden. Ein Diskurs, der immer auf gleicher Augenhöhe stattfindet, frei von besitzergreifenden Attitüden.

    Keine noch so heftige Affäre der beiden wird ihre unverbrüchliche Nähe zueinander ernsthaft gefährden. Nach den ersten Ehejahren, in denen Vita drei Söhne zur Welt bringt, von denen einer tot geboren wurde, gestehen sie sich beide volle sexuelle Freiheit zu. Diese carte blanche gilt aber ausschließlich für jeweils gleichgeschlechtliche Beziehungen. Anderweitige heterosexuelle Verbindungen, so empfindet Vita, wären durchaus eine Bedrohung der kunstvollen Balance ihres Miteinanders. Die Wahrung dieser Exklusivität ist, neben ihren Briefen, der zweite Fels in manchen stürmischen Phasen ihrer Ehe. Vita schreibt an Harold:

    "Wenn Du eine andere Frau liebtest und ich einen anderen Mann, würden wir beide oder einer von uns eine natürliche sexuelle Erfüllung finden, die unserer eigenen Beziehung unweigerlich etwas rauben würde. Tatsache ist, dass die Liaisons, auf die Du und ich uns einlassen, von ganz anderer Qualität sind als das natürliche Verhältnis, das wir zueinander haben, und dieses nicht beeinträchtigen. Wir sind einander ganz sicher in diesem sonderbaren, seltsamen, distanzierten, intimen, mystischen Verhältnis, das wir außenstehenden Menschen niemals erklären können."

    Neben einigen Turbulenzen in ihrem Privatleben, Vitas hitzige Affäre mit der Jugendfreundin Violet Keppel-Trefusis steuert auf ihren Höhepunkt zu, findet Vita dennoch Zeit, ihre Karriere als Schriftstellerin zu verfolgen. 1917 erscheint ihr Gedichtband Poems of West and East und 1919 ihr erster Roman Frühe Leidenschaft, der viele lobende Rezensionen erhält.

    Die Veröffentlichung ihres zweiten Roman Challenge, auf deutsch Die Herausforderung, nur ein Jahr später, wird von Vita selber gestoppt. Angehörige und Freunde befürchten einen Skandal. Der Inhalt des Buches, die Geschichte einer amour fou unter griechischer Sonne, hat zu offensichtlich autobiografische Züge. Selbst wenn die Autorin die Liebenden als heterosexuelles Paar agieren lässt, war in Londoner Kreisen bekannt, dass es sich dabei um Vita und Violet Trefusis handelte, die miteinander nach Monte Carlo durchgebrannt waren.

    Die Herausforderung erschien dann erst einmal 1923 in New York.

    Obwohl Vita einen Roman nach dem anderen produziert, richtet sich ihr ganzer Ehrgeiz darauf, als Lyrikerin anerkannt zu werden. Sie arbeitet an einem Groß-Poem von zweitausendfünfhundert Zeilen mit dem Titel The Land: Eine Feier des bäuerlichen Jahres in seinem Kreislauf der Pflichten und Rituale, Dokumentation von jahrhundertealten Bräuchen und Techniken, geschrieben in Jamben, angefüllt von oft nicht mehr gebräuchlichen Worten und Wendungen, zwischen symbolischer Kraft und archaisierendem Gestus.

    Es entspricht ihrer grundsätzlichen Hinwendung zu allem Traditionellen, Antimodernistischen als einer Komponente ihres Wesens. Die andere, dunkle Seite, möglicherweise Erbteil ihrer Großmutter mütterlicherseits, Pepita, einer schönen spanischen Tänzerin mit Zigeunerblut in den Adern, fand kaum Eingang in ihr literarisches Werk. Ihre Lyrik bleibt auch später konventionell, reicht nicht an die Bedeutung eines Auden, Eliot, Spender oder den satirisch-spielerischen Avantgardismus der Geschwister Sitwell heran.

    Dennoch erhielt The Land schmeichelhafte Kritiken und wurde ein lang anhaltender Erfolg. Am meisten schmerzte Vita wohl, dass ausgerechnet Virginia Woolf sich sehr verhalten dazu äußerte.

    "Vitas Buch hallt & hallt wider in der Presse. Ein Preisgedicht – so sag ich mal böse -, denn bei einem kleinen Rest von Eifersucht, oder vielleicht auch Kritikvermögen, kann ich dieses Gerede über Dichtung & sogar große Dichtung nicht ganz ernst nehmen."

    Vita und Virginia hatten sich im Dezember 1922 auf einem literarischen Dinner bei dem Kunstkritiker Clive Bell, dem Mann von Virginias Schwester Vanessa, kennengelernt. Virginia Woolf ist zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alt, eine anerkannte Schriftstellerin und Mittelpunkt des Intellektuellen-und Künstlerkreises Bloomsbury. Die nachhaltigen Eindrücke von diesem Abend hat Virginia Woolf ihrem Tagebuch anvertraut:

    "Mein Kopf ist zu vernebelt, um etwas zustande zu bringen. Dies ist zum Teil auf das Dinner mit der ansprechend begabten aristokratischen Sackville-West gestern Abend bei Clive zurückzuführen. Nicht ganz exakt nach meinem Geschmack – blühend, schnurrbärtig, papageienbunt, mit der ganzen geschmeidigen Ungezwungenheit der Aristokratie, doch ohne den Geist der Künstlerin."

    Nach einem Abendessen, vier Tage später in der Londoner Stadtwohnung der Nicolsons, schreibt Vita an ihren Mann Harold:

    "Ich bete Virginia an, und das würdest Du auch tun. Ihr Charme und ihre Persönlichkeit würden Dich zu Boden strecken. Mrs Woolf ist so einfach: Sie macht unbedingt den Eindruck von etwas Großem. Sie ist völlig ungekünstelt, ganz ohne äußere Verzierungen – sie zieht sich abscheulich an. Anfänglich hält man sie für unscheinbar; dann zwingt sich einem eine Art geistiger Schönheit auf, man entdeckt eine gewisse Faszination darin, sie zu beobachten. Sie ist sowohl distanziert wie menschlich, schweigt, bis sie etwas sagen will, und sagt es dann unübertrefflich gut. Sie ist ziemlich alt. Ich bin selten von jemand so eingenommen gewesen, und ich glaube, sie hat mich gern."

    Es waren wohl die berühmten Gegensätze, die sich hier anzogen! Apollinisches Prinzip versus dionysisches, kühler Intellekt und scheue Zurückgezogenheit gegenüber kreativer Unbekümmertheit und wogender Vitalität? Wie groß die Unterschiede auch gewesen sein mögen, es wird für beide Frauen zu einer der wesentlichen Begegnungen ihres Lebens.

    Virginia Woolf ist gesundheitlich stark gefährdet. Sie hatte schon drei große psychische Zusammenbrüche in ihrem Leben durchlitten. Ihr Selbstvertrauen ist äußerst fragil. Sie lebt nach einem rigiden täglichen Zeitplan, den ihr Mann Leonard eisern überwacht. Ein Glas Wein zu viel, eine Stunde zu lang auf einer Gesellschaft kann schon eine neuerliche Krise heraufbeschwören.

    Vitas Leben dagegen ist voller Aktivitäten. Sie bewirtschaftet in großem Stil erst das Landhaus Long Barn in der Nähe von Knole in der Grafschaft Kent, dann macht sie aus der Ruine und dem Brachland von Sissinghurst ein respektables Schloss und eine Gartenanlage, die heute zu den berühmtesten Englands zählt. Sie empfängt Gäste, widmet sich ihrer exzentrischen Mutter, an die sie eine höchst problematische Bindung fesselt, schreibt ein Buch nach dem anderen, stürzt sich immer wieder in heftige Affären und pendelt zwischen den Auslandsposten, die Harold im Laufe seiner Zeit im Foreign Office bekleidet, und ihrem Landhaus hin und her.

    Die Söhne sind in der Obhut von Kindermädchen oder in exklusiven Colleges und bedürfen nur während der Ferien ein wenig Aufmerksamkeit. Ihr Auftreten ist von aristokratischem Selbstbewusstsein, strahlt männliche Dominanz aus und ist gleichzeitig von größter Fürsorglichkeit gegenüber ihren Geliebten.

    Virginias Gefühle und ihre intellektuelle Neugier sind gleichermaßen angezogen von dem ihr fremden Milieu, in dem sich die Freundin bewegt.

    "Ich mag sie & das Zusammensein mit ihr, & den Glanz – sie verbreitet ein Strahlen wie von brennenden Kerzen, wenn sie beim Krämer von Sevenoacks daherschreitet auf Beinen wie Buchen, rosaglühend, klunker-und perlenbehangen. Was ist die Wirkung von alle dem auf mich? Sehr gemischt."

    Daneben gibt es aber ganz offensichtliche Affinitäten, die recht wenig mit mütterlicher Gefühlen zu tun haben. In ihren Tagebüchern hält Virginia Woolf die emotionalen und erst recht die erotischen Verstrickungen, in die sie diese Freundschaft stürzt, sorgsam geheim. Eine ganz andere Sprache sprechen jedoch ihre werbenden, kokett die eigene Verliebtheit in kleinste literarische Miniaturen fassenden Briefe. Bei aller spielerischen Camouflage gewährt Virginia Woolf dabei Einblicke in ihre Seele, in ihre Zerrissenheit zwischen dem für sie neuen Gefühl sexueller Begierde und der Angst, sich diesem auszuliefern.

    Gegenüber Virginia ist Vita allerdings von ausgesuchter Vorsichtigkeit. Harold, der sich 1926 gerade als Botschaftsrat in Teheran aufhält und der die sich anbahnende Affäre einschätzt "als rauchte man über einem Benzintank", wird von seiner Frau wortreich beruhigt:

    "Liebling, es gibt überhaupt kein Wirrwarr, nirgends! Ich liebe Virginia, und wer täte das nicht? Aber wirklich, mein Liebster, die Liebe, die man für Virginia empfindet, ist etwas sehr anderes: etwas Geistiges, etwas Vergeistigtes, wenn Du willst, etwas Intellektuelles, und sie ruft ein Gefühl der Zärtlichkeit wach. […] Ich fühle mich ihr gegenüber als Beschützerin. Außerdem habe ich eine Todesangst davor, körperliche Gefühle in ihr zu wecken, wegen der Geisteskrankheit. Ich weiß nicht, welche Wirkung es haben würde, und das ist ein Feuer, mit dem ich nicht spielen möchte. Ich habe zu viel echte Zuneigung und Respekt. Außerdem war sie nie mit jemand zusammen außer mit Leonard, was ein schrecklicher Fehlschlag war und sehr bald aufgegeben wurde. Ich will nicht in eine Affäre hineingeraten, die mir außer Kontrolle geraten könnte, ehe ich’s mich versehe."

    Die Freundschaft zu Virginia sollte für Vita immer eine herausgehobene Bedeutung haben, selbst wenn sie gleichzeitig in andere amouröse Abenteuer verstrickt war. Zwar ist sie bemüht, diese vor der Freundin geheim zu halten, aber auf Dauer kann Virginia nicht umhin, zu spüren, wann Vita wieder auf erotischem Beutezug ist. In ihren Tagebüchern behält Virginia Woolf die Enttäuschung über die Treulosigkeit der Freundin meist für sich. Nur einmal mokiert sie sich über Vitas Hang zu, in ihren Augen, "zweitklassigen Geliebten".

    Aber Virginia Woolf hat die optimale Lösung gefunden, die untreue Geliebte mittels eines genialen schöpferischen Aktes in Besitz zu nehmen. Sie schreibt ihren Roman Orlando, alias Vita, die Biografie eines jungen Edelmanns, beginnend zur Zeit Königin Elizabeth I.. Orlando, bei seinem ersten Auftritt im Jahr 1586 sechzehnjährig, durcheilt die Jahrhunderte. Er verfasst Dramen, verliebt sich in eine schöne russische Prinzessin, die ihn betrügt, wird vom Hof verbannt um darauf als Botschafter König Jakobs II., wir befinden uns mittlerweile im 17. Jahrhundert, nach Konstantinopel zu gehen.

    Während eines Festes sinkt der erst Dreißigjährige in tiefen Schlaf. Nach sieben Tagen erwacht Orlando als junge Frau und kehrt in das England des 18. Jahrhunderts zurück. Im 19. Jahrhundert heiratet der ja nun weibliche Orlando den Seeoffizier und Forschungsreisenden Marmaduke Bonthrop Shelmerdine. Schließlich im Jahr 1928 angelangt, dem Erscheinungsdatum des Romans, ist Orlando zur Autorin gereift, die dank ihres androgynen Wesens die Werke schreiben kann, die ihr wichtig sind.

    In diese furiose literarische Tour d’horizon sind zahlreiche Fakten aus der Familiengeschichte der Sackvilles eingeflossen, vermischt mit Details und Menschen, die in Vitas Biografie eine Rolle gespielt haben. Besonders Vitas geliebtes Knole ist in vielen Einzelheiten und Anspielungen in Orlandos Residenz verewigt. Und natürlich hat die Dichterin die verschiedenen Spielarten von Liebe und Leidenschaft in Vitas Leben eingefangen, voller Ambivalenzen, Abgründen, Posen und Flüchtigkeiten.

    Vita ist nach der ersten Lektüre aufgewühlt. Sie schreibt sofort an Virginia:

    "Ich bin völlig geblendet, verhext, bezaubert, unter einem Bann. [...] Ich fühle mich wie eine von diesen Figuren in einem Schaufenster, der Du eine mit Juwelen bestickte Robe umgehängt hast. [...] Liebling, ich weiß es nicht und mag es auch kaum schreiben, so überwältigt bin ich, wie Du ein so herrliches Gewand über einen so dürftigen Aufhänger werfen konntest. Virginia, meine Liebste, ich kann Dir nur danken für den Reichtum, den du verströmt hast. – V.Du hast mich zum Weinen gebracht mit Deinen Passagen über Knole, Du Schurkin."

    Orlando wird ein großer, auch wirtschaftlicher Erfolg für die Autorin und den von Leonard Woolf geführten kleinen Verlag Hogarth Press. Vitas Name sollte auf Dauer mit dieser geistvollen fantasmagorischen Fiktion einer Biografie verknüpft bleiben. Die enge seelische Beziehung der beiden Frauen bekommt bald darauf jedoch feine Risse. Zu verschieden sind ihrer beider Erwartungen aneinander, ihre erotisch-sexuellen Bedürfnisse und Veranlagungen. Vita, die sich selbst einmal als "herzlose Hedonistin" bezeichnet hatte, ist ein Jäger, ein weiblicher Don Juan, der begehrt, aber selten wirklich liebt.

    Trotz einer Abkühlung der Beziehung wird in den gegenseitigen Briefen bis hin zu Virginias Selbstmord im März 1941 immer wieder eine große Nähe zueinander spürbar. In den emphatischen Beteuerungen und anspielungsreichen Andeutungen liest man weiter die Beschwörung einer großen Liebe, auch wenn diese nur mehr auf dem Papier gelebt wurde.

    In Ihren Beziehungen spielte Vita immer den männlichen Part, so auch in ihrer Ehe mit Harold Nicolson, wie es in Orlando elegant beschrieben wird. Als dieser, nun als Frau, sich in den Seefahrer Marmaduke Bonthrop Shelmerdine verliebt, der natürlich niemand anderes ist als Harold, stellt das Paar unmittelbar nach dem ersten Liebesschwur fest:

    "‘Du bist eine Frau, Shel!’ rief sie.
    ‘Du bist ein Mann, Orlando!’ rief er."

    Harold kreuzt zwar nicht wie Marmaduke mit seinem Schiff vor Kap Horn, dafür war er jahrelang für das Foreign Office in Konstantinopel, Teheran und von 1927 an für drei Jahre in Berlin.

    Vita hasst den diplomatischen Dienst. Sie weigert sich, ihren Mann auf diese Posten zu begleiten. Obwohl sie, genauso wie er, extrem unter den ständigen Trennungen leidet, taucht sie lediglich besuchsweise bei ihm in der Botschaft auf. Sie hat keinerlei Verständnis für Harolds Faszination durch die Politik, fände es entschieden besser, wenn er mehr seine Talente als Schriftsteller pflegen würde.

    Mit Erfolg. Harold quittiert den diplomatischen Dienst. Er wird Abgeordneter im Unterhaus und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bekleidet er den Posten eines Staatssekretärs im Informationsministerium. Er schreibt für diverse Zeitungen und verfasst daneben an die vierzig Bücher. Neben Biografien über Dichter wie Verlaine, Tennyson, Byron, Swinburne oder essayistischer Prosa sind es Bücher zu politischen Themen, wie Betrachtungen über den Diplomatischen Dienst, Berichte über den Wiener Kongress oder die Pariser Friedenskonferenz von 1919, an der Harold als blutjunger Diplomat in der englischen Delegation teilgenommen hatte.

    In seinen Briefen an Vita aus den Jahren als Botschaftsrat in Berlin finden sich bemerkenswerte Porträts von Begegnungen mit Reichspräsident von Hindenburg und dem damaligen Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer. Als Auszeichnung gilt, dass ihm vom Hof die offizielle Biografie von König George V. angetragen wurde. Vita ist bei all diesen Projekten seine erste Leserin. Sie ermuntert, rät und bringt vorsichtige Kritik an. Nach der ersten Lektüre von George V. schreibt sie 1950 :

    "Liebster, ich finde wirklich, dass Du Dein Buch sehr gut machst. Weißt du, manche Teile liegen mir forcément nicht sehr, aber Deine Darstellung ist so klar, dass ich Anteil nehme und weiterlesen möchte. Natürlich stürze ich mich voller Entzücken auf die Hadji-Stellen und wünsche nur, dass es derer mehr gäbe. Es ist nicht etwa mein Wunsch, dass Du, wie Du es nennst, frivol schreibst, aber es gibt nur einen Hadji und hundert Historiker. Du hast eine unvergleichliche Art, und ich finde, dass Du diese etwas zu sehr unterdrückst. So würde es etwa der Ernsthaftigkeit des Buches keinen Abbruch tun, wenn Du über Leute wie Balfour, Lloyd George oder Asquith ein paar beschreibende oder kommentierende Worte einfügtest. Ich finde die Zurückhaltung, die Du Dir auferlegst, ein wenig übertrieben."

    "Hadji", auf arabisch "Pilger" ist Vitas Kosename für Harold.

    Vitas selbst veröffentlicht im Jahrestakt Romane, Biografien, Erzählungen, Lyrik. Sie produziert schnell, schreibt "zu flüssig", wie Virginia Woolf bemängelt:

    "Sie pflügt nie neuen Boden um. Sie sammelt ein, was die Flut ihr vor die Füße schwemmt. Zum Beispiel folgt sie, mit reinem Instinkt, allen überlieferten Traditionen in Sachen Einrichtung, sodass ihr Haus geschmackvoll ist, strahlend, imposant, doch ohne etwas Neues oder Abenteuerliches. Ebenso ihre Dichtung, wage ich zu behaupten."

    Trotz dieser kritischen Haltung publiziert die anspruchsvolle Hogarth Press insgesamt dreizehn Bücher von Vita Sackville-West, darunter ihren wohl erfolgreichsten Roman The Edwardians, auf deutsch Schloss Chevron aus dem Jahr 1930. Darin setzt die Autorin nun ihrerseits dem Schloss ihrer Väter ein literarisches Denkmal. Es ist das Porträt der feudalen englischen Oberschicht in ihrem verschwenderischen Lebensstil, der intellektuellen Ignoranz und Gewissenlosigkeit gegenüber sozialen Missständen.

    Vita lässt die Zeit ihrer Jugend, die Jahre von 1905 bis 1910 wieder aufleben, und so durchweht ihre literarische Darstellung mehr ein nostalgisches Bewahren als der Versuch einer gesellschaftskritischen Aufarbeitung. Das Buch jedenfalls wurde ein Bestseller. Ebenso wie der im darauf folgenden Jahr, ebenfalls in der Hogarth Press erschienene Roman All Passion Spent auf deutsch Erloschenes Feuer, ihr, wie schon Vitas Verleger Leonard Woolf befand, sicher bestes Buch.

    Es werden noch acht Romane, vier Biografien und einige Gedichtbände von Vita erscheinen. Aber immer mehr fließen ihre Energien in das eigentliche Hauptwerk: die Verwirklichung ihrer Idee eines Landschaftsgarten.

    1930 kauft Vita Sackville-West in der Grafschaft Kent die verfallenen Reste einer ehemals großen Schlossanlage, etwa 30 Kilometer von Knole entfernt. Sissinghurst ist eine romantische Ruine, inmitten von Brachland. Es gibt kein einziges bewohnbares Zimmer, besteht aus verschiedenen Gebäudeteilen: dem Southcottage, wo später Vitas und Harolds Schlaf-und Wohnzimmer sein werden, dem Priesthouse, mit den Schlafzimmern der Söhne und dem Esszimmer der Familie; der quer gestreckte Gebäudekomplex, auf den der Sissinghurstbesucher als erstes stößt, wird einmal die Long Library enthalten, und in einem der beiden, auch heute von weitem sichtbaren sechseckigen elisabethanischen Türme aus rotem Backstein richtet sich Vita ihr Arbeitszimmer ein.

    Es war, nur über eine Wendeltreppe im Turm erreichbar, immer ihr Privatissimum. Nur wenigen Menschen war der Zutritt gestattet, und sogar ihr Sohn Nigel berichtet, dass auch er und sein Bruder nie zu ihr hinaufstiegen. Auch heute, inzwischen aus konservatorischen Gründen, darf der Besucher nur von der Türschwelle aus einen Blick hineinwerfen. Der Raum sieht aus, als hätte Vita ihn erst gestern verlassen, alle Dinge sind so angeordnet, wie man sie von dem Ende der 50er-Jahre aufgenommenen Foto kennt, das Vita an ihrem Schreibtisch zeigt.

    Es ist ein schrundiger alter Holztisch, auf ihm steht rechts die Fotografie von Virginia Woolf aus dem Jahr 1929, links eine ebenso große von Harold. Vitas Stuhl mit den fragilen Armlehnen davor und hinten der hochgestellte Eckschrank, den Vita eigenhändig türkis angemalt hatte. Ihre Bücher im Regal, der Gobelin an der Wand – alles ist unverändert.

    Vita liebte von jeher Pflanzen. Keine Reise, von der sie nicht mit Samentütchen, Stecklingen, Ablegern zurückkehrte. In Harold Nicolson hatte sie den richtigen Partner für ihr Projekt. In einem Artikel in der Zeitschrift der Royal Horticultural Society schrieb Vita 1953:

    "Allein hätte ich es nie geschafft. Zum Glück hatte ich den idealen Mitstreiter geheiratet. Harold Nicolson muss in einem früheren Leben Gartenarchitekt gewesen sein. Er hat einen natürlichen Sinn für Symmetrie und ein Genie für die Schaffung von Blickpunkten oder Fernsichten, ein Talent, das mir völlig abgeht. Völlig einig waren wir uns jedoch über das Grundprinzip des Gartens: eine Kombination von langen axialen Gängen und der intimeren Überraschung kleiner geometrischer Gärten, die ungefähr so davon abgehen sollten wie die Zimmer eines riesigen Hauses von den Hauptkorridoren. Höchste Strenge der Gestaltung sollte verbunden sein mit maximaler Zwanglosigkeit der Bepflanzung."

    Die Anlage von Sissinghurst will nicht mit Pracht und Dominanz auftrumpfen. Leichtigkeit und die Illusion eines frei gewachsenen, zufälligen Zusammenspiels der Pflanzen sind das Ziel. Vitas Gärtner müssen mit ihr über jeden Rückschnitt von Hecken und Sträuchern kämpfen, oder den Einsatz von Unkrautvertilgungsmittel, damit die Wege nicht überwuchert werden. Auch Harold ergeht es manchmal nicht besser, wie er in seinem Tagebuch notiert:

    "Versuche die Perspektive des Gemüsegartens durch Verlängerung der gepflasterten Pfade zu erweitern, stoße aber auf Artischocken und Vitas Entrüstung. Danach betrübt auf dem Rasen Unkraut gejätet. Wir haben eine Diskussion über die Rechte der Frauen."

    Vita war Zeit ihres Lebens eine leidenschaftlich besessene Schriftstellerin, die unglücklich war, solange sie nicht an einem neuen Buch arbeitete. Sie war nie eitel. Bezüglich der Qualität ihrer Bücher war sie immer von Selbstzweifeln geplagt, beklagte selber ihre bloße "Geschicklichkeit" beim Schreiben. Sie war klug und belesen genug, um zu akzeptieren, dass sie nicht in der ersten Liga der zeitgenössischen englischen Literatur mitspielte. Leonard Woolf schrieb über sie:

    "In Vita steckte eine ehrliche, einfache, sentimentale, romantische, naive, kompetente Schriftstellerin."

    Nach Vitas Tod 1962 werden Schloss und Garten von Sissinghurst an den National Trust übergehen. Heute strömen Zehntausende von Gästen jährlich aus aller Welt herbei, decken sich im Geschenkeshop mit Souvenirs ein und erstehen im Pflanzen-Laden eine Sissinghurst-Rose fürs eigene Blumenbeet.

    Vitas künstlerischer Geist lebt in ihrem Garten fort: in den Eiben-und Lindengängen, den majestätischen Nussbäumen, dem überbordenden Bauern-und dem betörenden Rosengarten, den magischen Durchblicken zwischen hohen Buchsbaumhecken und in den Türmen von Sissinghurst mit dem weiten Blick über die sanften Hügel der Grafschaft Kent.