Samstag, 20. April 2024

Archiv


Keine Angst vor der Kunst

Der Gerstenberg Verlag bewies seit jeher verlegerischen Spürsinn. 1792 in St. Petersburg gegründet, nutzte er die damals westliche Orientierung und den wirtschaftlichen Aufschwung des Zarenreichs. Momentan wagt sich der Verlag auf dem schwierigen Kunstbuchmarkt. Sein themenorientiertes Konzept der neuen Reihe "Art Works" scheint aufzugehen.

Von Martina Wehlte-Höschele | 14.03.2005
    "Performance" nennt der Börsianer die Entwicklung eines Wertpapiers. Der Sportreporter bezeichnet damit Wettkampfleistungen, ein Politiker das Erscheinungsbild seiner Partei und der Feuilletonist schließlich eine Opernaufführung. Sogar Kochen oder Witze-Erzählen kann unter dieses Allerweltswort fallen. Im Bereich der bildenden Kunst bezieht sich der Terminus Performance vor allem auf Arbeiten der späten sechziger, frühen siebziger Jahre. Performance ist hier der Gattungsbegriff für Aktionen, die von einem Einzelnen oder einer Gruppe von Künstlern an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit vor Publikum ausgeführt werden und nicht, wie im Theater, die Illusion eines Geschehens erzeugen sondern reale Ereignisse als Kunst präsentieren.

    Das alles weiß ich nicht aus einem Lexikon sondern aus der Einleitung zu dem Buch "Aktion" von Jens Hoffmann und Joan Jonas. Es ist der neueste Band der Reihe "ART WORKS. Zeitgenössische Kunst", die der Gerstenberg Verlag von Thames and Hudson, dem renommiertesten britischen Kunstbuchverlag, übernommen hat. Keine Angst: Es handelt sich nicht um hochgelehrt trockene Studienbücher. Das würde zum Profil des Gerstenberg Verlages gar nicht passen! Nein, das theoretische Fundament wird auf den ersten paar Seiten gelegt. Danach geht es durch die Räume einer imaginären Ausstellung von Werken der bedeutendsten jungen und jüngeren Gegenwartskünstler: originell und provokativ, schrill, witzig oder kritisch. Was an ästhetischem Reiz, an Skurrilität und Lebendigkeit die Titelbilder der drei bisher in deutscher Ausgabe erschienenen "ART WORKS"-Bände versprechen, das wird von Seite zu Seite mit einer Fülle von Abbildungen eingelöst. Kurze, schlaglichtartige Texte zu den Arbeiten werden von Selbstaussagen der Künstler oder Zitaten von Cicero, Baudrillard, Tolstoi flankiert. Die jeweils zweihundert Seiten starken Bände sind von unterschiedlichen Autorenteams verfasst und schließen mit einem Künstlergespräch und biografischem Anhang.

    Edmund Jacoby steuert als Verlagsleiter bei Gerstenberg seit 1995 einen Erfolgskurs mit jährlichen Umsatzsteigerungen von 10 Prozent und er ist von dem ambitionierten neuen Projekt überzeugt:

    "Dieses ist eine Reihe, vor der uns andere Leute auch gewarnt haben. Die haben gesagt, "ihr seid verrückt! Es gibt einen Kunstbuchmarkt, der ziemlich danieder liegt, es gibt eine weitverbreitete Abwehr gerade gegen zeitgenössische Kunst, und ihr kauft ein …" Wir haben aber gesagt, "Leute wir brauchen mal eine Vermittlung, eine Diskussion über die Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst, mit der sich auch ein größeres Publikum beschäftigen kann. Die Idee, die dahinter steckt, ist: Wie machen moderne Ausstellungsmacher eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst? Sie sagen, es gibt Themen; Themen, die die Menschen heute bewegen, die deshalb auch die Künstler bewegen, zumindest zu bewegen haben und zu diesen Themen machen wir Themenausstellungen; und sie führen auf diese Weise verschiedene Künstler mit verschiedenen Ansätzen zusammen."

    Der Trend zu griffigen Themenausstellungen statt der Präsentation von Künstlern und ihren "Schulen" bzw. Einflusssphären wird aufs Buch übertragen, mit dem entscheidenden Vorteil, die Crème de la crème der internationalen Kunstszene versammeln zu können. Die Rechnung dürfte aufgehen!

    Seine lange Erfolgsgeschichte hat der Gerstenberg Verlag denn auch von jeher einem guten verlegerischen Spürsinn zu danken. Als der in Hildesheim aufgewachsene Johann Daniel Gerstenberg 1792 in St. Petersburg einen Verlag sowie eine Buch- und Musikalienhandlung gründete, nutzte er die damals westliche Orientierung und den wirtschaftlichen Aufschwung des Zarenreichs. Fünf Jahre später eröffnete er dann in Hildesheim eine Buchhandlung, gewann bald darauf eine Druckerei hinzu und kaufte 1807 schließlich noch eine Tageszeitung auf. Es sind dies auch heute die drei Geschäftszweige des Familienunternehmens. Dabei ist die Hildesheimer Allgemeine Zeitung, die älteste bestehende deutsche Tageszeitung, seit langem der größte Bereich. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute Gerstenberg ein umfangreiches Programm an Reprints wissenschaftlicher Werke auf, um die entstandenen Verluste an Universitäten und den Bedarf an Fachliteratur bei neuen Einrichtungen zu decken. Als dieser Markt Anfang der achtziger Jahre weitgehend gesättigt war und zudem die öffentlichen Ankaufsetats schrumpften, wurde eine Neuorientierung erforderlich.

    "Der Gerstenberg Verlag steht - was wirtschaftlich auch nicht unvernünftig ist - auf zwei Beinen, ganz grob gesagt, und das eine Bein ist das Kinder- und Jugendbuch und das andere Bein ist, na sagen wir mal: das Erwachsenenbuch. Und dieses Erwachsenenbuch ist bei uns jetzt nicht schwerpunktmäßig Belletristik sondern sowohl Sachbücher als auch besonders schön gemachte Bildbände, also Bilderbücher für Erwachsene, wenn Sie so wollen."

    Diese so genannten coffeetable-Bücher sind eine große Herausforderung an das ästhetische Vermögen des Verlags, denn sie sind technisch sehr aufwändig: von der Fotografie oder Illustration bis zum Layout, der Typografie und natürlich dem Text. Den preisgekrönten Band "Nomaden der Lüfte" oder einen exquisiten Reise-Bildband wie "Plätze Europas", sicher auch die "Mythischen Orte" aus dem aktuellen Frühjahrsprogramm, solche hochwertigen Bücher lässt man doch gerne mal auf dem Kaffeetisch liegen, um Besuchern des Hauses zu zeigen, "so das ist mein kulturelles Niveau, jetzt blättert mal drin rum und seht, das ist von erlesenem Geschmack."

    Aus der Backlist, dem soliden Fundament des Verlagsprogramms, sind rund dreihundert Kinder- und Jugendbücher lieferbar. Es ist ein ausgesprochener Glücksfall, dass Gerstenberg das deutschsprachige Monopol an den Büchern von Eric Carle hat, dessen Kleine Raupe Nimmersatt wohl das weltweit erfolgreichste Bilderbuch ist und seit seinem Erscheinen vor dreieinhalb Jahrzehnten in Deutschland vier Millionen Mal verkauft wurde. Fünfunddreißig Titel des berühmten Autors und Illustrators sind bei Gerstenberg aufgelistet. Was mag der Grund dafür sein, dass Carles Bücher nicht veralten? Es ist ihre ausgeklügelte pädagogische Konzeption sowie Carles unverwechselbarer Zeichenstil – die einfachen, wie von Kinderhand ausgeschnittenen Formen – und die satten warmen Farben, die sich mit den kurzen Texten zu ausdrucksstarken Geschichten verbinden. Ganz anders sind die jahreszeitlichen Wimmelbücher von Rotraut Susanne Berner, einer der zurzeit populärsten deutschen Bilderbuchkünstlerinnen. Sie zeigen eine comédie humaine für Noch-Nicht-Leser, die mit zunehmendem Alter immer mehr Neues entdecken können. Schließlich die Jugendsachbuchreihe Sehen-Staunen-Wissen, die von dem englischen Verlag Dorling Kindersley übernommen ist und von deren hundertzwanzig Titeln in jeder öffentlichen Bibliothek mehrere zu finden sind. Sie bieten zu anspruchsvollen Themen wie Materie, Licht, Evolution oder Raum und Zeit auch für Erwachsene eine kompakte, gut verständliche Darstellung.

    "Wir haben Bände gemacht, die zum Teil mit Material aus diesen Sehen-Staunen-Wissen-Sachen gefüttert worden sind. Wir haben andere Bände wie das vor drei Jahren mit dem Jugendliteratur-Sachbuch-Preis gekrönte Umweltlexikon ganz alleine gemacht, und wir bringen jetzt einen Dreierpack der ganzen Weltgeschichte, wir nennen das Visuelle Weltgeschichte in drei Bänden heraus: Der erste Band ist "Die alten Kulturen", der zweite ist "Das Mittelalter" und der dritte, der schon vorliegt, ist "Die Neuzeit"."

    1999 erschien Die visuelle Geschichte der Kunst, ein über fünfhundert Seiten starkes Lexikon, das aus einer zwanzigbändigen Kunstbuchreihe des englischen Verlages Dorling Kindersley kompiliert und ergänzt wurde. Der englische und deutsche Partnerverlag teilen sich die Rechte an diesem eindrucksvollen Band, der eine echte Koproduktion ist, der aber aufgrund seines relativ hohen Preises nicht ins Ausland verkauft worden ist. Koproduktionen heißt die Erfolgsstrategie, mit der neue Absatzmärkte gewonnen werden. Dabei tritt Gerstenberg nicht nur als Lizenznehmer der genannten britischen Partner auf oder - gerade im Kinderbuch-Bereich - auch als Lizenznehmer französischer Verlage. Sondern er ist auch Lizenzgeber, etwa für "Das visuelle Lexikon der Technik", das in hoher Auflage auf den französischen Markt kam, wo Gerstenberg seit kurzem durch den Schweizer Verlag Edition La Joie de Lire vertreten ist.

    Ein echter Verkaufsschlager nicht nur in Deutschland sondern auch auf dem osteuropäischen und asiatischen Markt ist die selbst produzierte Reihe 50 Klassiker zu verschiedenen Bildungsthemen wie Mythen, Comics oder (von Edmund Jacoby selbst verfasst) Philosophen. Für zwanzig Euro bietet sie eine Mischung aus gut lesbarem Handbuch und bildhaft angelegtem Lexikon mit originellen Bildbezügen und kreativen Denkanstößen.

    "Wir haben Autoren gesucht, die jeweils zu einem Thema, das wir immer in diese fünfzig items aufgeteilt haben, ihre Essays schreiben. Die Konzeption hat sich als sehr tragfähig erwiesen und es ist kein Ende abzusehen. Wenn der Autor fertig geschrieben hat, dann steht schon ein großer Teil des Layouts, und dann wollen wir ihn auch nicht lange auf die Folter spannen, das Buch soll auch veröffentlicht werden."

    Und nach achtzehn Monaten steht ein solcher Band.
    Was ist schließlich das Geheimnis der populären Gedichtanthologie "Dunkel war’s der Mond schien helle?" Es ist vor allem die Idee ihrer Zusammenstellung, mit der an die Erinnerung der Eltern- und Großelterngeneration angeknüpft, aber auch in die Schullektüre-Gedichte eingeführt wird.

    "Das Witzige daran ist, dass es sogar ein internationaler Erfolg geworden ist, was ich nie gedacht hätte, weil es sind deutsche Gedichte. Was haben die Ausländer
    gemacht? Die Holländer, die Franzosen sind jetzt dran, die Italiener haben’s gemacht, - sie haben eigene Gedichte, die vielleicht ein bisschen ähnlich sind wie die deutschen dazugefügt, sie haben andere deutsche Gedichte übersetzt und haben ihre eigenen, in ihrem jeweiligen Land auch wieder erfolgreichen Gedichtbände daraus gemacht.

    So hat der Gerstenberg Verlag durch sein kluges Geben und Nehmen eine feste Position auf dem internationalen Markt bezogen.