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Keine Entwarnung bei Acrylamid

Im Jahr 2002 wurde bekannt, dass manche Lebensmittel bedenklich viel des krebserregenden Acrylamids enthalten - Pommes frites oder Chips beispielsweise. Auch neun Jahre später gibt die Europäische Lebensmittelbehörde keine Entwarnung - jetzt haben die Nahrungsmittelhersteller den Schwarzen Peter.

Von Ralph Ahrens | 23.05.2011
    Gemessen an der Gefahr ist der Fortschritt gering: Der Acrylamid-Gehalt in Lebensmitteln ist in den letzten Jahren kaum gesunken, bei einigen Lebensmitteln sogar gestiegen. Das zeigt die aktuelle Auswertung der Europäischen Lebensmittelbehörde EFSA. Gefährdet sind immer noch vor allem Kinder, die besonders gerne Kartoffelchips, Kekse und Toastbrot essen. EFSA fordert, die Industrie müsse mehr tun:

    "Das ist genau auch unsere Meinung, dass es da wirklich noch erheblichen Bedarf gibt, Acrylamidgehalte von einzelnen Lebensmittelgruppen zu senken."

    Sagt Nora Dittrich, Ernährungswissenschaftlerin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Ein Problem: Bisher gibt es nur freiwillige Vereinbarungen: In Deutschland hat die Lebensmittelindustrie 2002 der Politik zugesagt, alles zu tun, die Belastung zu senken. Aber:

    "Es gibt Warengruppen wie Lebkuchen, wo eigentlich seit 2002 nicht viel gesenkt wurde. Da ist gar keine Tendenz erkennbar. Oder eben Warengruppen wie Frühstückszerealien, die sogar letztes Jahr wieder ansteigen vom Gehalt her."

    Auch die Lebensmittelindustrie ärgert sich über zu viel Acrylamid, einem unerwünschten Nebenprodukt. Beate Kettlitz, Lebensmittelchemikerin von CIAA, dem europäischen Verband der Lebensmittelindustrie:

    "Es ist eine Substanz, die während eines Produktionsprozesses entsteht, das zu Lebensmitteln führt, die jeder Verbraucher gerne isst, zum Beispiel gebräunte Produkte, frittierte Produkte oder auch gebackene Produkte. Die enthalten diese unerwünschte Substanz. Wir sind zweifelslos alle einer Meinung: Die Substanz ist unerwünscht. Aber sie ist da."

    Die Bildung von Acrylamid lässt sich aber unterdrücken. Jeder Einzelne kann etwa zu Hause darauf achten, dass das Toastbrot nicht dunkel, sondern nur golden wird. Und der Europäische Verband der Lebensmittelindustrie CIAA hat 2006 einen Maßnahmenkatalog erstellt, wie das krebserregende Acrylamid beim Brotbacken oder Rösten von Kartoffeln minimiert werden kann. Doch diese Tipps etwa für Bäcker und Kartoffelchiphersteller haben einen Schönheitsfehler, muss Beate Kettlitz einräumen:

    "Wir sind kritisiert worden. Dieser Maßnahmenkatalog ist vorhanden in einem sehr wissenschaftlichen Format. Er ist nur in Englisch vorhanden – und wenn man jeden erreichen will, kann man das in Europa nicht mit einem englischen-wissenschaftlichen Beitrag. Das geht nicht."

    Immerhin: Der Verband CIAA hat daher zusammen mit der EU-Kommission für Brot, einige Backwaren, Kartoffelchips und Pommes frites verständliche Leitfäden in 20 Sprachen erstellt. Das war 2008. Kleine und auch große Betriebe bräuchten aber Zeit, Herstellungsverfahren umzustellen. Beate Kettlitz bittet daher um Geduld.

    Doch Nora Dittrich ist ungeduldig. Seit neun Jahren wissen Lebensmittelhersteller, dass sie in der Pflicht stehen. Die Verbraucherschützerin will den Druck auf die Hersteller erhöhen. Kontrolleure sollten, so wie es auch die EU-Kommission vorschlägt, Betriebe regelmäßig besuchen und dort prüfen, ob diese auch wirklich etwa Kartoffeln schonend verarbeiten:

    "Ja, sicher. Vor Ort zu gucken und vor Ort Druck auf die Hersteller auszuüben, ist schon mal der richtige Weg, der richtige Anfang."

    Das begrüßt sogar Beate Kettlitz von der Lebensmittelindustrie:

    "Wir haben immer gehofft, dass eben die Inspektoren, die Überwachungsbehörden uns dabei helfen. Sie tun das jetzt. Das ist eine aktive Hilfe, die wir von den Überwachungsbehörden sehen."

    Nämlich dem Industrieverband dabei zu helfen, Lebensmittelhersteller in ganz Europa davon zu überzeugen, freiwillig auf schonende Verfahren umzustellen. Freiwilligkeit bedeutet beim Krebserreger Acrylamid aber auch, die Lösung auf die lange Bank zu schieben: Zu neun Jahren, in denen wenig passiert ist, können noch einmal zehn Jahre hinzukommen. Beate Kettlitz:

    "Ich gehe schon davon aus, wenn wir weiter fortsetzen, was wir jetzt begonnen haben, dass in zehn Jahren doch eine deutliche Reduktion der Acrylamid-Belastung in den einzelnen Lebensmittelgruppen stattfindet."