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Keine glückliche Familie

Die Familie hat sich noch einmal versammelt. Es wird wahrscheinlich der letzte Geburtstag des 80-jährigen Vaters sein, eines Mannes, der keine Kontrolle mehr über seine Muskeln hat und nur noch den Kopf bewegen kann. Doch das Fest gerät außer Kontrolle, die Fassade der glücklichen Familie lässt sich nicht lange aufrechterhalten.

Von Simone Hamm | 13.09.2005
    Tessa de Loo beschreibt diesen Geburtstag aus den verschiedensten Perspektiven, etwa der des Vaters, der stumme Zwiesprache mit seiner verstorbenen Frau hält, oder der der sich gegenseitig beargwöhnenden Kinder.

    Doch es gibt eine Person, die Tesa de Loo nicht zu Wort kommen lässt: Bardo, den verlorenen Sohn. Dennoch dominiert er alle anderen. Ihn hatte der Vater mit 19 aus dem Haus geworfen, weil er nur Mädchen und Drogen im Kopf hatte.

    Er ist zuletzt gekommen, "der Sohn aus Spanien", der dem Roman den Titel gab. Etwas Besonderes geht von Bardo aus, etwas Wildes, Animalisches, Leidenschaftliches, das die Frauen betört, den älteren Bruder zur Weißglut bringt und den Vater bezwingt. Er wird ihm vergeben. Fasziniert hört er zu, als Bardo erzählt, dass er eine Freundin und zwei Söhne hat, zwei Enkel, die er niemals kennen lernen wird.
    "Bardo schüttelt mit entschlossener Miene den Kopf. "Diese ganze Verantwortung, das wollte ich nicht mehr. Ein Haus instand halten, anstreichen, Fugen dichten, verstopfte Abflüsse reinigen. Und dann die Dorfgemeinschaft. Der Spielraum wurde mir zu eng. Ich wurde unruhig, ich sehnte mich nach neuen Erfahrungen, neuem Wissen, anderen Farben. Ich wusste: ich musste weiterziehen."
    "Also hast Du deine kleine spanische Königin und deine Kinder im Stich gelassen", folgert Edwin."

    Tessa de Loos lässt kein Klischee aus. Ihre Personen wären eine Bereicherung für jede Vorabendsoap, jeden Loreroman. Der älteste Sohn Edwin ist ein sehr erfolgreicher Manager, der seiner Frau jeglichen Luxus bieten kann, aber natürlich keine Wärme und erst recht keine Zärtlichkeit. Er ist eiskalt. Weil er Farbe vulgär findet, sind die abstrakten Gemälde in seinem Haus alle schwarz-weiß und heben auch nicht gerade die Stimmung.

    Floor, seine Ehefrau, ist scheu und nimmt Antidepressiva, um über den Tag zu kommen und eigentlich hat sie immer nur Bardo geliebt. Die einzige Tochter, die erfahrene Psychologin Hilde, die ein Ohr für jeden noch so perversen Fremden hat, versagt bei den Problemen innerhalb der Familie. Letztlich ist sie nichts als eine einsame, überarbeitete Frau.

    Der jüngste Sohn Frank ist schwul, hypersensibel und Ästhet. Er ist Fotograf, aber natürlich kein Kriegsreporter, sondern Modefotograf, er ekelt sich vor dem sabbernden Vater. Der sabbernde Vater hat kein Verständnis dafür, dass Frank in ferne Länder reist um attraktive braune Frauen in Burnussen zu fotografieren. Er hat überhaupt kein Verständnis für seine Kinder.

    Er will nicht tolerant sein, nur weil er alt und todkrank ist. In seinen Augen haben seine Söhne und die Tochter versagt: der eine macht Fotos von nackten Frauen, die andere unterhält sich mit Verrückten, dem Ältesten blitzen die Dollarzeichen in den Augen und Bardo, der Zweitälteste vagabundiert durch Gottes schöne Welt. Dieser Bardo scheint aus dem Tagebuch eines Pubertierenden entsprungen. Frei will er sein, keine Verantwortung übernehmen, von der Liebe leben und der Luft. Ständig sagt er Sätze wie:

    "Es ist einfach zum Heulen, wenn man sieht, wie die meisten Menschen das kurze Leben damit vergeuden, unsinnigen Zielen nachzulaufen, Geld, Karriere , Ruhm, Ansehen … oder ständig über Büchern hocken. Es ist ein Jammer. Warum sollten sie sich nicht hin und wieder einander erfreuen dürfen? Ein bisschen Liebe, ein bisschen Ekstase? Ganz kurz miteinander verschmelzen? Wozu sonst hat uns der große Manitu die Fähigkeit verliehen, die Liebe zu genießen?"

    Und schon sinkt die Frau seines Bruders nieder, um das bisschen Liebe, das bisschen Ekstase zu erleben. Das alles ist todernst gemeint, bar jeder Spur von Humor. Natürlich kommt der edle Wilde aus Spanien, dem Land der glühenden Sonne, des Stierkampfs, der so stolzen Frauen und Männer.
    Der ganze Roman ist durchdrungen von Bardos penetranter Kultur- und Zivilisationskritik.

    "Geschöpfe werden geboren, leben und sterben. Du, ich, die Bäume. Das wollen wir heutzutage nicht mehr wissen, wir ignorieren es. Mit unserer Zivilisation haben wir den Tod verbannt."

    Außer Tessa de Loo natürlich, die den Tod, den Sterbenden und dessen schonungslose Rückschau auf ein langes Familienleben zum Thema ihres neuen Romans gemacht hat. Und außer ihrem Protagonisten Bardo. Denn natürlich ist er der einzige, der sich bereit erklärt, den hilflosen Vater zu pflegen. Aber selbstverständlich plädiert der coole Manager Edwin für ein richtig teures Pflegeheim und setzt sich durch.

    Alle Protagonisten verhalten sich genauso, wie der Leser es erwartet. Edwin guckt im Fernsehen Börsennachrichten, während der Vater leidet, Bardo verführt seine Schwägerin, die schon rote Flecken im Gesicht bekam, als sie ihn nur sah. Und der schwulen Modefotografen graust Bardos Aufzug.

    "Hätte dieser Mann, der offensichtlich mein Bruder ist, sich für diesen einen, außergewöhnlichen Anlass nicht rasieren, sich die Haare schneiden lassen und einen ordentlichen Anzug anziehen können. Was für eine vertane Chance! Schade um dieses markante Gesicht und die hochgewachsene, sportliche Gestalt, die geradezu nach einem edlen, gutgeschnittenen Anzug aus geschmeidigem Stoff schreit, einem Armani, und dazu ein Hemd von Calvin Klein. Unterwäsche von Karl Lagerfeld, einen schönen weißen Slip und ein enganliegendes weißes Hemd. Nein, nur einen Slip."

    Das alles ist schwer erträglich. Weder der freiheitsliebende Sohn, noch seine spießbürgerlichen Geschwister, noch der reglose Alte vermögen es, den Leser zu überzeugen. Und da der ganze Plot so voraussehbar ist, ist Tessa de Loos "Sohn aus Spanien" auch noch ziemlich langweilig.

    Tessa de Loo: Der Sohn aus Spanien.
    Bertelsmann