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Keine Maria Mancini in Danzig

Bevor er auf den "Zauberberg" kam, hatte Hans Castorp in Danzig studiert - so jedenfalls dokumentiert es Thomas Mann in seinem Roman. Mehr ist von der Studienzeit des etwas naiven und schwerfälligen Zeitgenossen der Belle Epoque jedoch nicht "überliefert". In "Castorp" erzählt uns Pawel Huelle zumindest, wie es hätte sein können. In den Spuren von Thomas Mann.

Von Marta Kijowska | 30.05.2005
    Was mag wohl Hans Castorp in Danzig erlebt haben? Wie ist er überhaupt dahin gekommen? Warum nur für die Hälfte seiner Studienzeit? – Es gibt vermutlich nicht viele Leser, die sich bei der Lektüre von Thomas Manns Zauberberg diese Fragen gestellt haben. Die meisten werden sogar den Hinweis, Castorp habe vier Semester in Danzig studiert, glatt übersehen haben. Nicht aber jemand wie Pawel Huelle: ein Danziger Schriftsteller, der die Stadt immer wieder zum Schauplatz seiner Prosa macht, und der in Thomas Mann eines seiner Vorbilder sieht. Kein Wunder also, dass er den kleinen Hinweis aufgegriffen und zu einer Art Bildungsroman ausgebaut hat.

    Er lässt Hans Castorp im Herbst 1904 nach Danzig kommen. Obwohl noch nie da gewesen, spürt der junge Hamburger sofort eine Vertrautheit, die sogar sein skeptischer Onkel, Konsul Tienappel, verstehen könnte, würde er neben ihm am Bord des Schiffes stehen und die hinter der Biegung der Mottlau plötzlich erscheinende Stadt sehen. Die alten Speicher und Patrizierhäuser, und vor allem die Türme der Danziger Kirchen.

    " Sie hatten zwar alle die gleiche dunkle Backsteinstruktur, ihre Formen waren jedoch völlig verschieden. Über den Dächern der Häuser, den Schornsteinen der Dampfer, den Masten der Segelschiffe thronend, wirkten sie keineswegs drückend auf das dichte Panorama – im Gegenteil: Sie schienen es emporzuheben, als würde im nächsten Augenblick die ganze Stadt vom Wasser abheben und zu den Wolken aufsteigen. Dazu kamen die aus Hamburg vertrauten Gerüche – Holzbrücken, Teer, Algen, Kohlenrauch, Fisch –, und so wirkte die erste Berührung mit der fremden Stadt auf Hans Castorp überaus angenehm. "

    Doch ganz so einfach will es Huelle dem angehenden Schiffbau-Studenten nicht machen. Die Stadt kommt Castorp vertraut vor, sonst aber erlebt er eine Reihe von Situationen, die ihn mit Unbehagen erfüllen. Sein Gepäck geht für eine Weile verloren, die Wohngemeinschaft mit einer Offizierswitwe und ihrem kaschubischen Dienstmädchen erweist sich als problematisch, und die geliebte Zigarrenmarke "Maria Mancini" ist auch nirgendwo aufzutreiben. Vielleicht hatte Konsul Tinappel also doch Recht, als er seinen Neffen vor der Eskapade in den Osten warnte?

    Auch Pawel Huelle weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, Danzig zu erkunden und dabei zwiespältige Gefühle zu erleben. Als sein Geburtsort war es ihm naturgemäß von Anfang an vertraut – ein wenig fremd wurde es erst dann, als er anfing, sich mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen:

    " Die Zwiespältigkeit bestand darin, dass ich einerseits von der deutschen Vergangenheit fasziniert war, von der Zivilisation, Kultur, Architektur, von den Biographien verschiedener Menschen, die eine wichtige Rolle gespielt hatten. Andererseits sah ich die dunkle Seite der deutschen Kultur, die in Danzig ihre Spuren hinterlassen hatte: die Verbrechen, die im September 1939 begonnen hatten, den Nazismus, den furchtbaren Chauvinismus, das, was wir heute als ethnische Säuberungen bezeichnen würden – also die Ermordung von Polen und Juden –, die Aussiedlungen. Ich musste selbst die Antwort auf die Frage finden, was unter der deutschen Kultur zu verstehen war. Und was es bedeutete, dass es einerseits Goethe, Schiller, Chodowiecki, Johanna Schopenhauer oder Jan Hewelius gegeben hatte, und auf der anderen Seite all die besagten Verbrechen. "

    Pawel Huelles Kindheit – er ist Jahrgang 1957 – fiel in die sechziger Jahre: eine Zeit, in der die Kommunisten alles taten, um die Spuren der deutschen Anwesenheit in Danzig zu verwischen. Umso faszinierender fand er es, mit Hilfe dieser Spuren Phantasiebilder zu kreieren, sie in die Gegenwart einfließen zu lassen und so eine eigene Vision von Danzig zu schaffen. Irgendwann begann diese Faszination literarische Früchte zu tragen:

    " Die Faktographie oder Geographie einer Stadt ist natürlich wichtig, aber noch wichtiger ist eine Gesamtvision, die uns durch ihr Klima verführt. Ich habe verstanden, dass es sich mit Städten und Schriftstellern so verhält, als ich in Dublin war und dort zum zweiten Mal gleichsam die Lektüre von Ulysses erlebte. Bis dahin hatte ich gedacht, es sei ein modernistischer Roman, der mit der Realität nichts zu tun habe. Als ich aber durch die Straßen Dublins lief und mich dabei auf den Spuren von Dedalus und Bloom bewegte, begriff ich plötzlich, dass dies in Wirklichkeit eine sehr schöne Vision der Stadt ist, die – bei aller poetischen Aura und moderner Stilistik – durchaus reale Züge trägt. Gerade das fasziniert uns ja an der Literatur. Mir jedenfalls erscheint die Fähigkeit, eine solche Vision zu schaffen, viel wichtiger als ein Realismus in diesem veristischen Verständnis des 19. Jahrhunderts. "

    In Castorp allerdings hat Pawel Huelle diese schöpferische Freiheit nur bedingt. Schließlich muss er sich an die inhaltlichen und stilistischen Vorgaben von Thomas Mann halten. Also zeichnet er diesmal doch ein recht realistisches Bild – von Danzig und von dem benachbarten Kurort Zoppot, wohin er Hans Castorp führt, damit er sich in die schöne Polin, Wanda Pilecka, verlieben kann. Diese ist wiederum mit einem geheimnisvollen russischen Offizier liiert, der auf Castorp fast genauso faszinierend wirkt. In beiden zusammen sieht er die Verkörperung des fremden, unberechenbaren Ostens:

    Hans Castorp, der Wanda Pilecka beobachtete, stellte sich den polnisch-russischen Knoten immer häufiger als geballte, dunkle, über die Steppe ziehende Wolke vor, die von weitem wie ein Heuschreckenschwarm aussah, je näher sie dem Betrachter jedoch kam, desto deutlicher wild kämpfende Gestalten von blutigen Kosaken und polnischen Aufständischen hervortreten ließ.

    Der mysteriöse Rivale wird schließlich Opfer eines politischen Mordes, doch Castorps Liebe bleibt trotzdem unerfüllt. Die Ratschläge eines polnischen Nervenarztes, ein paar belauschte Gespräche zweier Kurortpatienten – eine Art Vorspiel der Naphta-Settembrini-Duelle – und nicht zuletzt die Danziger Spuren Arthur Schopenhauers trösten ihn ein wenig über die Enttäuschung hinweg. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg wird er Konsul Tienappel ohne Zweifel viel reifer und erfahrener vorkommen.

    So können also diese zwei Danziger Jahre in Castorps Leben ausgesehen haben. Das glaubt man Pawel Huelle sofort und lässt sich auch gern von ihm in die nostalgische Stimmung der Belle Epoque versetzen. Man ist auch voller Bewunderung für die Selbstdisziplin, mit der er in Thomas Manns Spuren tritt – auch wenn man dieses andere, magische Danzig, das er sonst zum Schauplatz seiner Prosa macht, ein wenig vermisst. Möglicherweise ist es ihm beim Schreiben genauso ergangen, denn hin und wieder macht er von seinem Recht, an der Grenze zwischen Realität und Traum zu balancieren, auch in diesem Buch Gebrauch. Etwa dann, wenn er Castorp nach einem Haus suchen lässt, in dem er einst einen Abend verbracht hat, von dem es aber plötzlich keine Spur mehr gibt:

    " Ich finde, die Grenze zwischen dem, was real ist, und dem, was wir als metaphysisch empfinden, ist eines der faszinierendsten Themen des menschlichen Denkens. Und damit auch der Literatur. Man kann natürlich nicht ständig darüber reden, doch ab und zu muss man sich mit diesem Thema auseinander setzen. Denn das ist die Frage nach der Grenze der Erkennbarkeit unserer Welt, die Frage nach der Definition der Realität. Endet die Realität dort, wo die Berührung, wo die Materie endet, oder reicht sie noch weiter? Greift sie zum Beispiel in unsere Träume, in unser Unterbewusstsein ein? Ich weiß es nicht. Das einzige, was ich weiß, ist, dass solche Erscheinungen existieren und dass sie für unser Leben sehr wichtig sind, weil sie über unsere Geistigkeit, unsere Menschlichkeit entscheiden. "

    Wie stark ihn diese Fragen beschäftigen, hat Pawel Huelle oft genug bewiesen: In seinen Erzählungen, und vor allem in Weiser Dawidek, seinem viel gelobten Erstlingsroman, der aus realem und zugleich märchenhaftem Stoff gemacht war. Diesmal aber ist die Figur, an der er die Thematik aufgreift, aus einem anderen, fremden Holz geschnitzt. Und irgendwie will dieser etwas naive, ein wenig schwerfällige Castorp in Huelles halbreale Welt nicht richtig hineinpassen. Entsprechend künstlich fällt auch seine Reaktion aus.

    Hans Castorp, der nicht an Wunder glaubte, begann plötzlich zu lachen. Er lachte so laut, dass vom Dach eines nahen Speichers eine große Mütze Schnee fiel und aus einer Backsteinnische kreischend zwei erschrockene Elstern flogen. Als er ausgelacht hatte, wurde er ernst und ging zwischen immer dichter wirbelnden Schneeflocken weiter. Zusammen mit seinen Schritten auf der zugefrorenen Fläche des Kanals erklangen erste Klavierklänge, wenn er sie auch noch nicht hörte. Das traurigste der vierundzwanzig schönsten Lieder der Welt begann sein Vorspiel.

    Franz Schuberts Winterreise, Theodor Fontanes Effi Briest – auch auf diese Werke spielt Pawel Huelle in seiner Zauberberg-Variation an. Offenbar tut er sich mit der Frage, was unter der deutschen Kultur zu verstehen ist, inzwischen etwas leichter.


    Pawel Huelle: Castorp, Carl Hanser Verlag, 252 Seiten, 17.90 Euro.