Dienstag, 19. März 2024

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Keine Notizbücher bitte!

Liebe Freunde, bitte schenkt mir keine Notizbücher mehr. Nicht zu Weihnachten, nicht zum Geburtstag und auch nicht als Mitbringsel, wenn ihr mich besuchen kommt. Es ist nicht so, dass Schriftsteller gar keine Notizbücher brauchen würden.

Von Juli Zeh | 29.12.2009
    Schriftsteller brauchen Notizbücher. Aber wenige. Wenige Notizbücher zu schenken, ist ausgesprochen schwer. Denn durch jedes weitere Notizbuch kommt ein Notizbuch hinzu, und so werden es viele Notizbücher. Sie stehen im Regal. Ihre Seiten sind leer, weil ich höchstens einmal im Jahr ein neues Notizbuch anbrechen kann.

    Die Rücken der Notizbücher haben unterschiedliche Farben und unterschiedliche Höhen, sodass sie in meinem aufgeräumten Regal kein einheitliches Bild, sondern ein verstörendes Durcheinander ergeben. Die uneinheitlichen Rücken leerer Notizbücher verbreiten schlechte Stimmung. Sie erinnern mich daran, wie wenig ein Mensch in seinem Leben schreiben kann. Obwohl die Gedankenmaschine Tag und Nacht rattert, bringt sie erstaunlich wenige Sätze hervor, die des Aufschreibens wert wären. Der Rest sind bedeutungslose Aneinanderreihungen von Wörtern, die schon im Moment ihres Entstehens für die ewige Vergessenheit bestimmt sind.

    Es wäre schön, wenn ein Notizbuch ein Auffanglager für heimatlose Sätze darstellte, in dem jeder jemals gedachte Gedanke eine Heimat fände, statt sang- und klanglos sterben zu müssen. Dann bräuchte ich nicht wenige, sondern in der Tat sehr viele Notizbücher, viel mehr übrigens, als ihr, liebe Freunde, mir schenken könntet. Aber dann wäre zum Lesen dieser Notizbücher ein komplettes zweites Leben nötig, und möglicherweise würden beim Lesen weitere Gedanken entstehen, die weitere Notizbücher füllten, und dann bräuchte ich noch ein Leben und dann noch eins.

    Was mir noch niemand von Euch zu Weihnachten geschenkt hat, liebe Freunde, ist ein neues Leben, es hat mich auch noch nie jemand gefragt, ob ich mir eins wünsche. Ohne zusätzliche Leben brauche ich aber keine zusätzlichen Notizbücher, mal abgesehen davon, dass Notizbücher eben keine Auffanglager für heimatlose Gedanken sind, sondern Destilliergeräte, in denen es spärlich tröpfelt.

    Ich weiß ja, dass es nicht einfach ist. Einem Golfspieler schenkt man Golfbälle, einem Tennisspieler Tennisbälle, einem Theaterfreund Theaterkarten, einem Katzenbesitzer Katzenspielzeug, einem Landwirt Land und einem Schriftsteller - Schrift? Schriftsteller brauchen nichts, nicht einmal Notizbücher, oder eben nur sehr wenige, und um mir wenige Notizbücher zu schenken, müsstet ihr mir jahrelang gar keine Notizbücher schenken, und kein Notizbuch lässt sich schlecht verpacken, es hält das Goldpapier nicht in Form, und deshalb, das sehe ich ein, eignet es sich nicht gut als Geschenk. Aber dieses Jahr habe ich eine Idee. Wir sagen einfach, ich bin nicht Schriftstellerin, sondern Autorin. Und einer Autorin schenkt man ein ... na, was? Ist auch gut für die Wirtschaft. Das Goldpapier dürft ihr weglassen.