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"Keine Polizei ist da und keine Gerichte sind da"

Schon vor der Einnahme der Stadt Goma durch kongolesische Rebellen habe es keinen funktionierenden Staat mehr gegeben, berichtet der Berater der Freien Universität der Stadt, Peter Merten. Gewalt sei immer präsent - das habe bei der Bevölkerung auch psychische Auswirkungen.

Das Gespräch führte Doris Simon | 22.11.2012
    Doris Simon: Scheinbar unaufhaltsam rollt der Vormarsch der Rebellen der Bewegung "M23" im Osten des Kongos. Inzwischen kontrollieren sie die Großstadt Goma an der Grenze zu Ruanda. Ihr erklärtes Ziel aber ist der Sturz von Präsident Kabila und der Regierung in Kinshasa. Die hatte in den letzten Jahren versucht, die Rebellen in die reguläre kongolesische Armee einzugliedern, aber die Bedingungen waren wohl so schlecht, dass daraus nichts wurde. Hinter den Tutsi-Rebellen stehen nach allen Anzeichen die Nachbarländer Ruanda und Uganda, tatsächlich sind die Soldaten der "M23" sehr gut bewaffnet. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat inzwischen Sanktionen gegen den Anführer der Rebellen verlangt, was den aber wenig zu beeindrucken scheint.

    Dort lebt auch Professor Peter Merten. Er arbeitet als Wissenschaftsmanager, als rechte Hand des Rektors, an der Freien Universität in Goma, wo rund 3000 junge Kongolesen studieren. Die Uni erhält übrigens viel Unterstützung aus Deutschland, vor allem von evangelischen Einrichtungen. Derzeit ist Professor Merten in Deutschland, wo er für die Freie Universität in Goma und ihre Studenten geworben hat, und wir erreichen ihn jetzt in Berlin. Guten Morgen, Herr Merten!

    Peter Merten: Ja, schönen guten Morgen, Frau Simon.

    Simon: Herr Merten, Sie sind in ständigem Kontakt mit Goma. Wie erleben denn Ihre Kollegen, Ihre Freunde die Situation in der besetzten Stadt?

    Merten: Die Situation ist eigentlich, wird von den meisten viel, viel ruhiger wahrgenommen, als ich das auch eben Ihrer Schilderung entnommen habe. Es hat relativ wenig oder fast gar keine Plünderung gegeben. Man war ja darauf vorbereitet, dass "M23" kommen wird. Die waren ja schon teilweise in der Stadt drin und im Umland waren sie in Uniform. Das heißt, das war keine kriegerische Machtübernahme. Wie das jetzt wird, das weiß natürlich keiner. Zum Beispiel an der Uni: Wer jetzt unser zuständiges Ministerium ist, was mit unseren Diplomen ist, das muss man alles mal gucken, was "M23" macht, ob die da wirklich einen Staat im Staat aufbauen wollen.

    Simon: Herr Merten, die Menschen im Osten des Kongos, in Goma, wo Sie leben und arbeiten, und in den Dörfern der Region, die haben ja 20 Jahre schlimmsten Bürgerkrieg hinter sich – immer wieder überfallen, immer wieder Mord, Vergewaltigung, Verschleppung, Flucht. Was bedeutet eigentlich für diese Leute, zum Beispiel für Ihre Studenten, die ja oft gerade mal 20 Jahre alt sind, so ein erneuter Rebellenvormarsch?

    Merten: Ja erst mal, was Sie schon angesprochen haben: 18 Jahre, 20 Jahre Erfahrung mit Gewalt und Terror. Es ist ja nicht nur, dass der Bürgerkrieg da war. Man darf nicht vergessen, dass es dabei keine, nicht nur keine, sondern de facto keine Armee gab, sondern auch keine Polizei gab. Mir ist das erst sehr spät klar geworden in Goma, was das heißt, eine Million Menschen auf einem Haufen zu haben und keine Polizei dabei zu haben. Das heißt, wenn es Gewalt gibt in der Nachbarschaft, im Viertel, in der Familie, im Haushalt, dann kann keiner oder dann hat keiner einfach die Polizei gerufen. Die Polizei hat man gemieden, wann immer das ging. Wenn der Zustand 20 Jahre dauert, hat der ganz erhebliche Auswirkungen auf die Psyche der Menschen. Das heißt, meine Studenten, unsere Studenten an der Uni, die kennen Frieden eigentlich überhaupt nicht. Sie haben es nicht gelernt, mit Konflikten, sei es im familiären Umfeld, sei es an der Schule, sei es am Arbeitsplatz, sei es mit der Stadtverwaltung, mit der Regierung, da irgendwie friedlich mit umzugehen. Die haben das alles nicht gelernt. Das heißt, Gewalt oder die Drohung von Gewalt, die ist immer präsent im Osten des Kongo.

    Simon: Wenn wir mal bei Ihren Studenten und Ihrer Arbeit in Goma bleiben – Sie beschreiben, wie wenig normal deren Leben in den letzten 18 Jahren verlaufen ist und was die dadurch für schreckliche Prägungen haben. Was für Ziele haben Ihre Studenten denn zum Beispiel?

    Merten: Ein großes, ein wichtiges Ziel der meisten der Studenten ist – das mag jetzt lustig klingen, das ist aber Frieden. Ich war vorher gar nicht überzeugt, dass die "M23" es irgendwie wagen würde, Goma anzugreifen, weil der Friedenswille gerade der jungen Menschen ungeheuer groß ist. Jetzt ist aber die Machtübernahme praktisch mehr oder weniger friedlich verlaufen, sodass die Menschen, die sich auch militant dafür eingesetzt hätten, dass Frieden erhalten bleibt, also ein relativer Frieden, dass die jetzt eigentlich nicht zum Zuge kommen.

    Simon: Für Frieden und Friedenswillen, den Sie gerade beschreiben, braucht man natürlich auch Schutz. Es gibt ja die UNO-Friedenstruppe dort, aber wir haben eingangs um sechs Uhr einen Bewohner aus Goma gehört, der sagte, wir haben uns Schutz von denen erhofft, von denen ist gar nichts gekommen. Ist das so die allgemeine Einstellung?

    Merten: Ja ich glaube schon, dass das die allgemeine Einstellung ist. Es war vorher bekannt, dass die MONUSCO, also die Soldaten der UN, nicht auf eigene Faust kämpfen, sondern nur gemeinsam mit der FARDC, also der kongolesischen Armee kämpfen wollen.

    Simon: ... und die hat sich zurückgezogen.

    Merten: ... und die hatte sich zurückgezogen. Das heißt, das ganze System der MONUSCO-Soldaten ist ungeheuer teuer auch. Das heißt, für viele Leute stellt sich die Frage, was soll das Ganze dann überhaupt, wenn sie eben nicht Goma verteidigt haben, was sie ja offenbar nicht gemacht haben oder bis auf einige wenige Schießereien.

    Simon: Professor Merten, Sie sprachen gerade die kongolesische Armee an. Wie gesagt, die hat sich zurückgezogen vor den Rebellen im Ost-Kongo. Wie ist das denn im täglichen Leben in Goma, schon bevor die Rebellen gekommen sind? Hat der Staat da im Prinzip nichts mehr zu sagen, richtet der da nichts aus, ist der nicht spürbar, wie muss man sich das vorstellen?

    Merten: Der Staat ist in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens wenig, wenig, wenig spürbar. Was heißt das? – Das heißt, dass na ja, die Behörden keine klare Linie verfolgen, beim Steuern bezahlen, und keine Polizei ist da und keine Gerichte sind da, an die man sich wenden kann, wenn man Ärger mit Nachbarn oder wem auch immer hat. Es ist kein Staat da. Ich habe früher mal Thesen über eine staatsfreie Gesellschaft vertreten, das würde ich jetzt nicht wieder machen, vor allem nicht, seitdem ich in Goma war. Ich weiß heute, dass man ein funktionsfähiges Ordnungssystem braucht. Der Staat ist nicht da. Das heißt, wie der Staat jetzt in Zukunft da sein wird, weiß ich überhaupt nicht mehr. So eine Universität hat immer auch Partner, das ist das Wissenschaftsministerium. Da werden Diplome anerkannt und da werden Richtlinien erlassen. Wer das jetzt machen soll, ob wir jetzt autonom sind – wir wären in diesem neuen, ich sage mal, "M23-Land" die größte Universität -, ich glaube, da ist auch schon mal der Versuch gemacht worden, unsere führenden Leute für das Wissenschaftsministerium zu gewinnen, aber die sind gar nicht dafür. Meine Kollegen stehen nicht - naja, was weiß ich? Man muss warten.

    Simon: Ja, man muss warten, sagen Sie selber. – Sie sitzen ja derzeit gerade in Berlin.

    Merten: Ja.

    Simon: Werden Sie zurückgehen nach Goma?

    Merten: Ja. Mein Flug war eigentlich für heute geplant, aber ich habe das auf Dienstag nächste Woche verschoben. Dann fliege ich zurück. Nach Kigali fliege ich.

    Simon: Also nach Ruanda. Und von dort weiter nach Goma?

    Merten: Ja. Von dort fährt der Bus vier Stunden nach Goma und an der Grenze werden wir mal sehen, wer da drinsitzt im Grenzhäuschen.

    Simon: Aber Sie gehen in jedem Fall, egal wer da drinsitzt?

    Merten: Ja. Ich möchte eigentlich so schnell wie möglich wieder rüber. Ich habe jetzt in den letzten Tagen gehört, dass viele Kollegen doch da geblieben sind. Es war sicherlich gut, dass wir, ich sage mal, evakuiert wurden, aber das Leben muss einfach weitergehen und man muss das eigentlich zeigen, dass man weitermacht Richtung Stabilisierung des relativen Friedens. Gerade Krankenhäuser zum Beispiel, die auch von der Kirche unterstützt werden, oder die Universität, die müssen ziemlich schnell wieder anfangen, und ich freue mich darauf.

    Simon: Vielen Dank! – Das war Professor Peter Merten, er ist Wissenschaftsmanager an der Freien Universität in Goma im Ost-Kongo, eine Stadt, die gerade die Rebellen übernommen haben.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.