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Keine tote Hose
Schleswig-Holstein lebt zunehmend vom Wintertourismus

In der kalten Jahreszeit geschlossen: Diese Zeiten sind in den Ferienorten Schleswig-Holsteins vorbei. Der Wintertourismus wird immer wichtiger. Inzwischen trägt der gesamte Tourismus 5,9 Prozent zum Bruttosozialprodukt des Bundeslandes bei. Doch der Aufschwung gefällt nicht allen.

Von Johannes Kulms | 05.03.2020
Touristen gehen über die Seebrücke am Strand in Sankt Peter-Ording.
Auch im Winter ein beliebtes Reiseziel: St. Peter-Ording (dpa/Hauke-Christian Dittrich)
Seit knapp drei Jahren steht das Beach Motel am Strand von Heiligenhafen. 115 Zimmer und Suiten gibt es hier. Ein Blick in den Essbereich an diesem Freitagvormittag zeigt: Der Laden läuft. Selbst im Winter sinke die Auslastung nicht unter die 60-Prozent-Schwelle, sagt Hoteldirektorin Alexandra Rojas.
"Weil wir eben jetzt auch viele Gäste haben, die mal kurz raus wollen und mal schnell die Nähe zum Wasser suchen und uns dann auch mal besuchen für einen Spontantrip. Sei es für eine Nacht oder zwei. Vielleicht mit Familie, mit junger Familie. Deswegen ist es bei uns auch relativ gut besucht, egal zu welcher Jahreszeit." Vielerorts an den Schleswig-Holsteinischen Küsten wurde in den letzten Jahren kräftig saniert oder neu gebaut.
Industriearmes Schleswig-Holstein
Man kann über den Geschmack des Beach Motels durchaus streiten. Die Gebäude sind dreistöckig, in hellgrauem Holz verkleidet und wirken mit den weißen Balkonen sehr amerikanisch. Und doch fügen sie sich ohne Zweifel sanfter ein in die Landschaft als der "Ferienpark" einen knappen Kilometer weiter entfernt. Die Anlage am Heiligenhafener Binnensee wurde Ende der 1960er Jahre hochgezogen. Der Hochhaus-Koloss mit den 1.700 Wohnungen katapultierte die Stadt in Ostholstein endgültig hinein in den Massentourismus. Doch lange Zeit kannte man an fast allen Ferienorten eben nur die Hauptsaison im Sommer. Im Winter blieben viele Hotels und Gaststätten geschlossen. Verschlafen ging es damals zu, erinnert sich Frau Dolle aus Duisburg, die mit ihrem Mann seit 30 Jahren in der Region Urlaub macht.
"Die Ferienwohnungen waren nicht so schön eingerichtet. Und ich würde sagen, außerhalb der Saison war man nicht unbedingt so gern gesehen… oder es wurde kein Programm geliefert zu dieser Jahreszeit…"
Auch Anne Köchling, Referentin für Forschungsvorhaben am Institut für Management und Tourismus der Fachhochschule Westküste in Heide, sagt:
"Natürlich hat der Schleswig-Holstein-Tourismus da in den letzten zehn Jahren aufgeholt, da ist sehr viel investiert worden in Infrastruktur, in Qualität mit verschiedenen Qualitätsinitiativen. Und das zahlt sich sicherlich auch aus. Also, es ist sicherlich beides. Und natürlich kam in den 90er Jahren auch die Konkurrenz durch Mecklenburg-Vorpommern dazu. Und da musste man auch einfach mehr Gas geben und ist da aufgewacht."
Gleichzeitig habe sich auch das Reiseverhalten der Deutschen verändert. Viele Urlauber verreisten nun häufiger und dafür kürzer. Mancher suche auch gezielt das "raue Küstenklima" im Winter. In den 1990er Jahren seien nur acht Prozent aller jährlichen Übernachtungsgäste in den Wintermonaten gekommen. Inzwischen seien es immerhin elf Prozent, sagt Köchling. Auch wenn der Trend an vielen Orten Richtung Ganzjahrestourismus geht, bleiben die Sommermonate jedoch das klare Zugpferd. Für das industriearme Schleswig-Holstein ist der Tourismus schon lange ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Sparkassen-Tourismusbarometer Schleswig-Holstein von 2018 nennt Zahlen: 9,5 Milliarden Euro Bruttoumsatz, rund 170.000 Jobs und ein Beitrag von 5,9 Prozent zum Bruttosozialprodukt des Bundeslandes.
Ronny Stepken betreibt in St. Peter Ording ein kleines Bed & Breakfast. "Im Winter war es früher so, man konnte davon ausgehen, Ende September, vielleicht noch ein paar Tage in den Oktober rein – und dann war hier Schicht. Dann gab es so den Spruch, da konnte man sich in Bad auf die Straße legen, man wurde nicht vom Auto überfahren."
"Schönheit ist verloren gegangen"
Nicht nur Hotelbetreiber haben an der Nordsee in den dunklen Wintermonaten inzwischen deutlich mehr zu tun, sondern auch ein Bed & Breakfast-Betreiber wie Stepken. In der Hauptsaison sind die zwei Zimmer über Monate ausgebucht. Auch jetzt im Winter kommt er auf eine Auslastung von etwa 70 Prozent. Ein sensationeller Wert, wenn man an die früheren Zeiten ohne Buchungsportale im Internet denkt, die Ronny Stepken heute fleißig nutzt.
Doch der generelle Tourismus-Aufschwung hat auch Schattenseiten, findet seine Mutter Waltraut Grauer, die mit ihrem Sohn die Unterkunft betreibt. Früher habe sich jeder in dem 4.000-Einwohner-Ort gekannt und auf der Straße gegrüßt.
"Die Schönheit ist verloren gegangen. Die natürliche Schönheit, das ist doch alles nur noch Tourismus in höchstem Maße. Und so ganz gefällt mir das nicht. Das schöne St. Peter-Ording werden wir nie wieder kriegen."
Auch in Heiligenhafen und in anderen Schleswig-Holsteinischen Touristenstädten wächst die Kritik am Wachstumskurs. In St. Peter-Ording wird seit Jahren über die Errichtung eines neuen Hotels in den Dünen diskutiert. Eine Chance für die Gemeinde, sagen die Befürworter. Viel zu klotzig und unpassend, entgegnen die Kritiker.
Manchem Urlaubsgast kommen solche Diskussionen bekannt vor. So wie Christoph Bichler, der vom Tegernsee kommt, wo rund drei Viertel der Einwohner vom Tourismus lebten.
"Ich glaube, dass die Leute immer maßloser werden, die Einstellungen sind überhaupt nicht mehr auf Tradition, Heimat wird immer weniger. Die Leuten werden immer egoistischer."
Doch noch scheinen die Wintermonate in Schleswig-Holstein sehr weit weg vom touristischen Halligalli des Sommers. Und es gibt weiterhin viele Orte, wo in den dunklen Monaten Hotels und Restaurants geschlossen sind. Und einfach nur tote Hose ist.