Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Keine Umwege

Wer Tim Krabbé über seinen Psychothriller "Das goldene Ei" kennengelernt hat, dem steht sein ungemein effizienter Sprachgebrauch vor Augen: Jeder Satz dieses aufs Wesentliche und Packendste konzentrierten Romans ist wohlkalkuliert, die Spannung hochdosiert, die Handlung straff durchgeführt. Der niederländische Autor ist kein Freund unnötiger Umwege: Als professioneller Schachspieler hat er bereits Ende der sechziger Jahre die Kunst der strengen Zielgerichtetheit betrieben. Und das nicht nur im Denksport: Er war ebenso als Radrennfahrer unterwegs, wovon sein Roman "Der Rennfahrer" erzählt, der als dritte Veröffentlichung dem deutschen Publikum vorgestellt werden soll. Dazwischen liegt nun "Kathys Tochter", ein für Krabbés Vorgehen eher umfangreicher Text von 250 Seiten, der 2002 im Original erschienen ist.

Von Volkmar Mühleis | 23.02.2005
    Der Thriller "Das goldene Ei" stammte dagegen von 1984. Während die Leser zunächst also den Autor von vor 20 Jahren entdeckt haben, erhalten sie jetzt einen aktuellen Roman von ihm. Was hat sich für Tim Krabbés Schreiben in dieser Zeit verändert?

    Es hat sich nicht allzuviel verändert, denke ich, aber es sind dennoch
    zwei völlig verschiedene Bücher: Mit Kathys Tochter wollte ich so realistisch wie möglich schreiben, während "Das goldene Ei" doch verhältnismäßig weit von der Realität entfernt ist. Aber natürlich sagt man mit jedem Buch auch etwas über sich selbst. Beim "Goldenen Ei" ist diese Ebene unterschwellig da: Durch die Hauptfigur Saskia habe ich gleichermaßen etwas über eine Frau erzählt, die für mich persönlich sehr wichtig war. Kathys Tochter ist dagegen mit offenen Karten gespielt, ein deutlich autobiographischer Roman, nicht zuletzt trägt die männliche Hauptfigur auch meinen Namen. Über die nicht gerade alltägliche Liebesbeziehung, von der das Buch handelt, wollte ich tatsächlich weitgehend wirklichkeitsgetreu schreiben, allerdings immer mit meinem Leitsatz im Hinterkopf: Dass der Autor nur der Geschichte verpflichtet ist und der Wirklichkeit nichts schuldet.


    Im Zeichen dieses Balanceaktes – zwischen Wirklichkeit und Literatur steht "Kathys Tochter". Die nicht gerade alltägliche Liebesbeziehung, von der Krabbé spricht, ereignete sich 1999, wenn man den Angaben im Buch trauen darf. Tatsächlich ist er über seine Website per Email sehr gut erreichbar, und so erhielt er dem Text nach eines Tages einen kurzen elektronischen Brief von der Tochter einer Frau, mit der er als Achtzehnjähriger eine ebenso intensive wie abrupt endende Affäre hatte. Die Frau, Kathy, hat sich als Mitte Fünfzigjährige nach einem Jahr Krebsleiden zur Sterbehilfe entschlossen. Ihre Tochter scheint nun Spuren in ihrem Leben zurückzuverfolgen, und eine führt sie zu dieser frühen Liebschaft. In drei Teilen beschreibt der Romancier daraufhin wie er die Tochter näher kennengelernt hat, wie er sich an die Beziehung mit ihrer Mutter erinnert, und wie er schließlich ein Liebesverhältnis mit ihrer Tochter beginnt. Sein nüchterner Realismus hat hierbei auch zum Ziel, jeglichen Kitsch zu vermeiden. Zu dem Gleichgewicht von Realität und Literatur meint Krabbé:

    Ich wusste relativ schnell, dass ich über diese Affäre etwas schreiben würde, nur die Form war noch unklar. Eines war für mich jedoch deutlich: Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass sich diese Geschichte wirklich so ereignet hat, weil ich sie als erfunden für
    doch etwas zu leichtgewichtig und schwach gehalten hätte. Eine sehr
    vergleichbare Idee zu einer Geschichte habe ich nämlich tatsächlich
    einmal angefangen zu bearbeiten und kurz darauf verworfen. Aber als ich dies dann genau so erlebte, dachte ich, ich könnte einen
    autobiographischen Roman daraus machen, ähnlich wie ich
    schoneinmal ein Buch mit der Hauptfigur Tim Krabbé geschrieben habe: "Der Rennfahrer."


    Liest man als Außenstehender die Geschichte allerdings als
    autobiographischen Bericht? Die Bezeichnung Roman führt einen immer noch auf das Feld der Fiktion und Unwägbarkeit. Dort kommt man durchaus zu der Frage: Wirkt die Handlung, diese Engführung der Mutter-Tochter-Affäre nicht etwas bemüht und konstruiert? Ist wiederum das Argument des Wirklich-Erlebten dafür ein Ausgleich? Diese Erfahrung teilt der Leser nicht mit dem Autor, und so spricht es für Krabbés handwerkliche Souveränität, dass er tatsächlich nicht den Gedanken aufkommen lässt, er habe der Wirklichkeit etwas geschuldet: Der Text funktioniert reibungslos. Insofern entgleitet ihm das Ausbreiten des Persönlichen nicht zu einem ausschweifenden, detailverliebten und schließlich wenig überzeugenden Buch wie im Fall von Connie Palmens ebenfalls autobiographisch genannten Roman I.M.

    Eine Schwierigkeit mit der Geschichte wird nur der haben, dem die Überblendung von Mutter und Tochter zu nahtlos vonstatten geht, wenn nämlich absehbar wird, dass nach der erinnerten Liebesgeschichte schlichtweg das Remake folgt. Hat einem das Original gefallen, schaut man sich das zwar auch gerne an, doch nötig erscheint es nicht. Und genau hier liegt die Ambivalenz des ganzen Unternehmens.

    Tim Krabbé: "Kathys Tochter"
    Aus dem Niederländischen von Susanne George
    Reclam Verlag Leipzig
    255 Seiten, 18,90 Euro