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Kenneth Goldsmith: "Uncreative Writing"
Eine Hymne an das Plagiat und die Replikation

Der New Yorker Dichter und Literaturprofessor Kenneth Goldsmith ist bekannt für seine Methode, Textabfälle des Alltags lyrisch zu verarbeiten. Er selbst nennt dieses Verfahren "Unkreatives Schreiben" und schafft damit ein Bewusstsein für neue Bedingungen, unter denen Texte produziert und rezipiert werden.

Von Mithu Sanyal | 11.07.2017
    Der US-amerikanische Professor für Poetik und Konzeptkünstler Kenneth Goldsmith.
    Der US-amerikanische Professor für Poetik und Konzeptkünstler Kenneth Goldsmith. (dpa/picture alliance/Roland Popp)
    "One thing that I do have to say and it’s very, very important: Please don’t turn your cellphones off!”
    Das erste, was Kenneth Goldsmith bei Lesungen sagt, ist: Stellen Sie sicher, dass ihre Handys nicht ausgeschaltet sind – dass ihre Laptops und ipads mit dem Internet verbunden sind, dass sie jederzeit googeln, tweeten und SIMsen können.
    "Okay then we start.”
    "Uncreative Writing” ist eine Erkundung, wie die Literatur mit den Herausforderungen der neuen Medien umgehen ... sollte. Denn Kenneth Goldsmith kritisiert, dass Schriftsteller nicht genug samplen und digital vervielfältigen. Sein Buch ist eine Hymne an die Appropriation, Replikation, Piraterie, Plünderung, an das Plagiat als kompositorische Methode. Das ist erst einmal schockierend.
    "Ich hätte nicht gedacht, dass im 21. Jahrhundert eine ästhetische Position Menschen noch so wütend machen könnte. Dabei will ich mit meiner Arbeit gar nicht provozieren, aber offensichtlich tue ich das.”
    Kontroverse Seminare
    Das einzige, was noch kontroverser ist als seine Bücher, sind die Seminare, die er an der University of Pennsylvania unterrichtet.
    "Das eine Seminar trägt denselben Titel wie mein Buch: Unkreatives Schreiben. Darin zwinge ich die Studierenden, Texte zu plagiieren und ein ganzes Semester lang komplett unoriginell zu sein. Das andere heißt Zeit Verschwenden im Internet und wir sitzen zusammen im Hörsaal und verschwenden Zeit im Internet.”
    In Kenneth Goldsmiths Seminaren gibt es nicht die Situation, dass er als Dozent eine Frage stellt und alle betreten zu Boden schauen, stattdessen schauen sie auf Google nach. Als Hausaufgaben bekommen die Studierenden Aufträge wie, einfach fünf Seiten Text abzutippen, ohne selber etwas zu gestalten. Bloß ist das alles andere als einfach.
    Es entstanden genauso viele Entscheidungen, moralische Zwickmühlen, linguistische Präferenzen und philosophische Dilemmata, wie in einer originären Arbeit.
    Beschreibt Kenneth Goldsmith die Unmöglichkeit, wirklich unkreativ zu sein, da jede Handlung zahllose Entscheidungen erfordert: Kopiere ich nur die Wörter oder auch den Zeilenumbruch? Welche Schriftart wähle ich? Welches Papier?
    Ein Buch, das ein solches Augenmerk auf die endlose Kette von Auswahlentscheidungen legt, dann auch noch zu übersetzen, ist eine ganz eigene Herausforderung. Deshalb ist es nur passend, dass das Swantje Lichtenstein übernommen hat, Professorin für Text und Ästhetische Praxis an der Hochschule Düsseldorf, wo sie schon seit Jahren Uncreative Writing unterrichtet.
    "Und auch sehr erfolgreich, so wie Kenneth Goldsmith das ja auch beschreibt. Die Hürde der Kreativität ist heute in allen Lebensbereichen und wir sollen es alle dauernd sein. Und da man sofort in der Schule schon seine inneren Dinge ausdrücken soll, ohne aber ein Vokabular und ohne auch die sprachlichen, literarischen Möglichkeiten zu haben, ist es eigentlich eine permanente Überforderung, führt dazu, dass Kinder und Jugendliche häufig denken: Ich kann ja nicht so gut mit Sprache umgehen.”
    "Plagiieren ist nur ein Problem, wenn man es nicht offen macht"
    Gegen die Vorstellung des Genies, das nur aus sich selbst heraus originelle Ideen schöpft und Texte schafft, setzt Kenneth Goldsmith den von der Literaturwissenschaftlerin Marjorie Perloff geprägten Begriff des "Unoriginalgenies”. Bevor man erklärt, was ein Unoriginalgenie ist, muss man erst einmal klären, was Originalität überhaupt ist. Und wie immer bei Kenneth Goldsmith, ist auch das gar nicht so einfach.
    "I don’t think I’ve ever had an original thought.”
    Was er damit meint, dass er noch nie einen originellen Gedanken gehabt hat, ist, dass Menschen immer ein Amalgam zahlreicher Einflüsse sind:
    Bücher, die ich gelesen, Filme, die ich gesehen, Lieder, die ich gesungen, Partner, die ich geliebt habe. Zu denken, dass das, was ich für "meines" halte, "originell" ist, wäre völlig verblendet und egozentrisch. Manchmal meine ich, einen originellen Gedanken zu haben, und dann geschieht es mir, zwei Uhr morgens, beim Sehen eines Films, den ich schon kenne, dass der Protagonist genau das ausspricht, von dem ich noch vor Kurzem behauptet habe, es stamme von mir.
    Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass wir uns alles einfach so aneignen können. Stehlen: ja! Aber mit Verantwortung.
    "Plagiieren ist nur dann ein Problem, wenn man es nicht offen macht. Ich habe mein ganzes Werk plagiiert, aber niemand wirft mir Diebstahl vor, weil alle wissen, dass das meine Strategie ist."
    So hat Goldsmith für ein Buch eine Ausgabe der New York Times komplett abgeschrieben, den gesamten Text, sogar die Worte auf den Fotos und in den Werbeanzeigen. Und kam schließlich auf 900 Seiten.
    "Menschen produzieren mehr Sprache als alles andere. Wir bekommen nicht einmal mit, wie viel wir produzieren. Ich habe einmal ein Buch geschrieben, das nur aus den Worten bestand, die ich vom Aufstehen am Montag bis zum Ins-Bett-Gehen am folgenden Sonntag gesprochen habe. Jedes Wort, ungekürzt, 600 Seiten lang. Das war die bedeutsamste Woche meines Lebens, obwohl nichts besonderes passiert ist. Aber es ist die einzige Woche, an die ich mich noch in jedem Detail erinnern kann, weil ich sie in meiner Sprache konserviert habe.”
    Keine Leserschaft, sondern eine Denkerschaft
    Das mag zwar unlesbar sein, aber es ist hochinspirierend, weshalb Kenneth Goldsmith für den Satz berühmt ist: Er habe keine Leserschaft, sondern eine Denkerschaft.
    "Oh yeah, I can’t stand my own books. But they are really fun to think about and they are really fun to talk about."
    "Und auch diese Idee mit dem Ausdrucken des Internets. Also einerseits machen wir das dauernd, es gibt kaum jemand, der nicht diese stapelweise Sachen hat, die er mal noch lesen will. Auf der anderen Seite ist es auch ein Beweis für diese übermächtige Masse, die da an Texten tagtäglich auf uns eindrückt. Wenn man diese Berge sieht, in denen er sich da suhlt, dann erst merkt man eigentlich die Unmöglichkeit, wir wollen es alle bewältigen, aber wir können es nicht bewältigen."
    "Uncreative Writing" untersucht, wie wir unseren Weg durch dieses Dickicht an Texten finden, wie wir auswählen, was wir teilen – was wir überhaupt lesen. Denn entgegen allen Prognosen hat die digitale Welt nicht weniger, sondern mehr Text hervorgebracht - viel mehr. Und obwohl wir alle ununterbrochen schreiben, sogar auf unseren Telefonen, wird der Hauptteil der Texte im Netz nicht zwischen Menschen hin und her geschickt, sondern zwischen Maschinen – das berühmte Internet der Dinge - die miteinander in Code kommunizieren, den niemand von uns jemals zu Gesicht bekommen wird. Doch sogar, was wir für Bilder und Sound halten, besteht in Wirklichkeit aus Text, aus alphanumerischen Zeichen.
    "Es gibt einen großartigen Text von dem frühen Internettheoretiker Matthew Fuller mit dem Titel: "Microsoft word", es sieht so aus, als würdest du Buchstaben tippen. Dabei werden die Buchstaben nur auf dem Bildschirm angezeigt. Aber die meisten Leute denken, sie würden tatsächlich physikalisch Buchstaben tippen, als gäbe es die ganze Technologie dahinter nicht. Und dasselbe geschieht in der Literatur. Warum gibt es nicht mehr Texte, die mit Computer-Pannen oder Crashs spielen, mit Viren und Wurmlöchern? Doch die meiste Gegenwartsliteratur verdrängt die Materialität der Technologie, aus der sie entstanden ist, komplett."
    Bewusstsein für neue Bedingungen
    Goldsmiths "Uncreative Writing” macht für die Literatur das, was Walter Benjamins Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” für die bildende Kunst getan hat. Es schafft ein Bewusstsein für die neuen Bedingungen, unter denen wir Text produzieren und rezipieren und ermutigt einen, die Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen, auszuschöpfen.
    "Schreiben verändert sich grundlegend und es ist unmöglich vorherzusagen, wo die Reise hingeht. Aber eines ist sicher: Die Entwicklung wird sich nicht aufhalten lassen.”
    "It ain’t going away.”
    Kenneth Goldsmith: "Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter."
    Übersetzung: Hannes Bajohr, Swantje Lichtenstein, Matthes & Seitz Verlag, 351 Seiten, 30,00 Euro.